J. R. R. Tolkien – Briefe vom Weihnachtsmann (erw. Neuausgabe)

Abenteuer am Nordpol: Von Elfen und Kobolden

Von 1920 bis 1942 schrieb Professor Tolkien für seine vier Kinder ganz besondere Briefe zu Weihnachten: die Briefe vom Weihnachtsmann. Hier erfuhren sie, was sich an sonderbaren, lustigen oder auch beängstigenden Begebenheiten am Nordpol zutrug. Auch mit Elfen, Kobolden, Schneejungs, Polarbären und – wie fast immer bei Tolkien – Drachen.

Der Autor

Professor John R. R. Tolkien (1892-1973) hat das „wichtigste Buch des 20. Jahrhunderts“, so die Umfrageergebnisse, geschrieben: „Der Herr der Ringe“ (1954/55). Nicht allzu viele Menschen hingegen wissen, dass die Ereignisse, die in HdR geschildert werden, nur die Spitze des Eisbergs dessen darstellen, was Tolkien zeit seines Lebens geschaffen hat.

Dieses imaginäre Universum findet sich zu großen Teilen (aber nicht vollständig) im „Silmarillion“ wieder, das erst vier Jahre nach dem Tod des Oxford-Professors erscheinen konnte, so kompliziert war die Arbeit daran.

Inhalte

John junior (geboren 1917), Michael (1920), Priscilla (1929) und schließlich der etwas schwächliche Christopher (1924, der später seines Vaters Werke komplett herausgab und veröffentlichte) – sie alle hatten das Glück, vom Weihnachtsmann von 1920 bis 1942 alljährlich einen Brief zu erhalten, komplett mit einer oder mehreren Zeichnungen. Diese oftmals wunderbar detailfreudigen und witzigen Zeichnungen sind im Buch abgedruckt, in hervorragender Qualität und mit Verzierungen überall auf der Seite. In dieser Ausgabe sind fast alle Briefe, Briefumschläge und Illustrationen abgebildet. Sie ist weitaus vollständiger als die erste von 1976.

Mit diesen Briefen folgte Professor Tolkien einer Familientradition. Lange Jahre waren die Werke weggesperrt, bis sie von Baillie Tolkien im Jahr 1976 veröffentlicht wurden. Darunter befinden sich manchmal recht umfangreiche Episteln und Minidramen. Die beiden umfangreichsten Briefe sind die aus den Jahren 1932 und 1933. Sie beschreiben das Auftauchen der bösen Kobolde.

Wovon der Weihnachtsmann und der Elf erzählen

Der Weihnachtsmann, Father Christmas, lebt am Nordpol, aber nicht allein: Ihm leisten die Rentiere und der Nordpolarbär namens Karhu Gesellschaft. Dieser allerdings neigt zu Schabernack, denn er ist erstens sehr neugierig und zweitens unvorsichtig. Der North Pole ist ein richtiger „pole“, das heißt ein Mast von beträchtlicher Höhe. Einmal führt einer von Polarbärs Streichen dazu, dass dieser Mast direkt auf Father Christmas‘ Haus fällt. Es muss verlegt werden. (1925) Er ist auch schuld, dass manche Geschenke so spät oder gar verkehrt bei den Kindern eintreffen: Knabensachen für Mädchen – nicht auszudenken!

Father Christmas ist genau wie Gandalf und die Hobbits ein großer Fan von Feuerwerk. Einmal schafft es Polarbär in seiner Schusseligkeit – die er immer dementiert –, dass alle Raketen gleichzeitig losgehen (1929). Später kommen auch die beiden Neffen Karhus zu Besuch; Paksu und Valkotukka (das klingt finnisch: „paksu“ bedeutet „fett“ und „valkotukka“ bedeutet „Weißhaar“) wollen aber nie wieder weg. Der Polarbär hat sein eigenes Alphabet entwickelt, dessen Zeichen stark an die Zwergenrunen im „Herr der Ringe“ erinnern, aber längst nicht so ausgefeilt sind (Pfeil nach oben = T usw.).

Weil die Arbeit immer mehr wird, nimmt sich der Weihnachtsmann einen Sekretär: den Schnee-Elfen Ilbereth. Er ergänzt die Briefe und sogar eines der Gedichte und kabbelt sich ständig mit dem Polarbären. In den späteren Briefen aus den dreißiger Jahren ist häufiger vom Elfenvolk die Rede, wenn es darum geht, das Haus und die Vorratskeller gegen Angriffe der bösen Kobolde zu verteidigen. Auch Rote Wichtel, Schneemänner und Höhlenbären kommen vor. Dieses ganze Personal erinnert schon ziemlich an die Figuren im „Hobbit“,  der 1937 mit großem Erfolg veröffentlicht wurde und sogar in einem Brief namentlich erwähnt wird.

Die Kobolde entsprechen den Orks im „Hobbit“ und „Herr der Ringe“. Sie können keine vernünftigen Abbildungen der Tiere am Pol zeichnen, z. B. die Rentiere, die sie den Höhlenmalereien (S. 53) aus dem Brief von 1932 hinzufügen. (In diesem Bild sind auch kleine Reittiere namens „drasil“ abgebildet.) Auch die Kobolde verfügen über ein voll ausgebildetes Alphabet, das auf Seite 81 abgebildet ist. Auf Seite 56 ist ein Brief in Goblin-Schrift zu sehen.

Der letzte Brief

In England herrscht seit zwei Jahren Krieg, und die deutsche Luftwaffen bombardiert eine Großstadt nach der anderen – bis Sommer ’41. Der Weihnachtsmann beklagt die mangelnden Lebensmittelvorräte, die zunehmende Not und die fortwährende Angst vor den Angriffen. Ja, es gibt sogar Flüchtlinge am Nordpol! Es sind 50 Pinguine vom Südpol, wie man auf dem wunderschönen Bild auf Seite 101 sieht, wo vier Pinguine zusammen mit dem Nordpolarbären auf dem Eis tanzen.

Die Kobolde, die erstmals 1932 und 1933 massiert auftraten und von Polarbär vertrieben wurden, sind offenbar wieder auf dem Vormarsch. Es findet eine große Schlacht statt, in der die Kobolde – „huntert Millionen“ (sic!), behauptet der Polarbär – zurückgeschlagen werden. Die Brief nach 1938 weisen nur noch sehr einfache Illustrationen auf. Der Spaß ist zum einen vorbei, zum anderen ist aber nur noch die 1929 geborene Priscilla in einem Alter, in dem es vertretbar ist, Briefe an den Weihnachtsmann zu schreiben und welche von ihm zu bekommen. Zeitgleich arbeitete Tolkien ernsthaft am „Herrn der Ringe“, der 1949 zum Großteil fertig wurde.

Mein Eindruck: die erweiterte Neuausgabe

Mit seinen unauffällig platzierten, aber stilecht mit der Briefmarke der Nordpolpost bzw. Chimney Post frankierten Briefen hat Tolkien nicht nur seinen eigenen vier Kindern eine riesige Freude gemacht. Allerdings wurde das spätere Buch nicht so ein Bestseller wie der „Herr der Ringe“, denn vor allem Kinder ab 6 Jahren werden dafür zu begeistern sein: Sie glauben noch an den Weihnachtsmann.

Und so erfahren sie, was er bei der Erfüllung seiner anspruchsvollen Aufgabe erlebt, welche Pannen bei den schwierigen Weihnachtsvorbereitungen passieren können – woran der Polarbär nicht ganz unschuldig ist – und warum es einige Weihnachtsfeste fast nicht gegeben hätte.

Dass sich die Wirklichkeit außerhalb der kuscheligen Mauern des Tolkienschen Professorenheims nicht ganz aussperren ließ, dürfte einleuchten. Und so finden sich eben auch (verschlüsselte) Hinweise auf das politische Geschehen in Europa in den Jahren 1932/33 und 1938-1941. Ich denke da vor allem an das Auftauchen der Kobolde (goblins) in Father Christmas‘ Haus. Diesen stehen die guten Geister und Helfer, die Elfen, entgegen. Sie sorgen dafür, dass alle Kämpfe gut ausgehen.

Unterm Strich

Ich habe diese vollständige Ausgabe der Weihnachtsbriefe mit der ersten Ausgabe und mit dem Hörbuch verglichen und bin überzeugt, dass diese Ausgabe dem Tolkien-Freund und -Sammler wesentlich mehr bietet als die vorhergehenden Ausgaben. Dies bezieht sich nicht nur auf das Kobold-Alphabet (ein Elfen-Alphabet ist nicht abgedruckt) oder das lange Gedicht im Brief von 1938. Nein, auch die Briefe selbst sind endlich komplett mit allen Anmerkungen von Polarbär und Ilbereth abgedruckt. Von besonderem Reiz sind sicherlich die zusätzlichen Illustrationen. Am besten gefiel mir dabei das Bild, auf dem Polarbär mit vier Pinguinen eine kesse Sohle hinlegt.

Darüber hinaus ist das Buch in allen Aspekten liebevoll gestaltet. Die Textseiten enthalten stets auch grafische Elemente, wie etwa lange Schnörkel von Buchstaben, die Tolkien kunstvoll gestaltete, oder auch winzige Punkte und Kringel um die Angabe der Seitenzahl. Natürlich ist auch der Umschlag selbst kunstvoll aufgemacht, in einem warmen Rot und mit weinroten Bordüren am oberen und unteren Seitenrand. Auf der hinteren Umschlagseite ist eine Reihe der witzig gestalteten Briefumschläge zu sehen, die der Professor für seine vier Kinder entwarf.

Alles in allem ist diese Ausgabe nicht nur eine wertvolle Ergänzung der Tolkiensammlung, sondern auch ein schön gestaltetes Weihnachtsgeschenkbuch. Vielleicht kann es auch als Vorbereitung auf den „Hobbit“ dienen, denn hier sind schon erste Elfen, Kobolde und Drachen zu finden. Rätselhaft sind lediglich die Hinweise des Weihnachtsmanns auf gewisse „Bingos“. Ob damit die Tolkienkinder gemeint sind? Es gibt keinen Kommentar, der solche Verweise erhellen könnte.

Taschenbuch: 192 Seiten
Originaltitel: Letters From Father Christmas, 1976/1999
Aus dem Englischen von Anja Hegemann (Teile von 1976) und Hannes Riffel (1999)
ISBN-13: 978-3608960365

www.klett-cotta.de

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