Wayne Allen Sallee – Der Erlöser von Chicago

Sallee Erloeser von Chicago Cover kleinDas geschieht:

Francis Madsen Haid gehörte 1958 zu den wenigen Kindern, die den verheerenden Brand einer Grundschule in der US-Großstadt Chicago überlebten. Er lag in den Trümmern bereits im Sterben, doch ein mysteriöser Mann rettete und heilte ihn und kündigte seine zukünftige ‚Aktivierung‘ als „Erlöser“ an, der die Außenseiter der Gesellschaft von ihrem Elend befreien soll, indem er sie tötet.

Dreißig Jahre später ist es soweit. Hinter Haid liegt ein verpfuschtes Leben, zu dem u. a. der Missbrauch durch seinen Onkel Vincent gehört, den der verwirrte Francis noch heute „Vater“ nennt. Dabei ist Vincent seit geraumer Zeit tot; er wurde Haids erstes und noch unfreiwilliges Opfer, nachdem seine „Erlöser“-Gabe durchbrach: Haid tötet, indem er seine Opfer absorbiert. Sie verschwinden buchstäblich in seinem Körper; zurück bleiben höchstens Körperteile und Gewebereste.

Mit der grotesk verstümmelten, verwesenden Leiche des „Vaters“ hält Haid gern Zwiesprache, wenn er auf seinem Kreuzzug gegen körperbehinderte, kranke und schwache Mitmenschen eine Pause einlegt. Sein zunehmender Wahnsinn bringt ihn nicht zu Fall, denn obwohl die Morde des „Erlösers“ für Schlagzeilen sorgen, reißt sich die Polizei nicht unbedingt in Stücke. Schließlich trifft es keine betuchte Prominenz, sondern ‚nur‘ die aussortierten Pechvögel.

Die Bewohner des „Marclinn“, einer heruntergekommenen Pension, die sich auf körperbehinderte Gäste spezialisiert hat, wollen nicht länger tatenlos auf Hilfe warten, die womöglich nie kommen wird. Längst hat die kleine Gemeinschaft Opfer zu beklagen. Deshalb fährt man mit dem Rollstuhl Streife, verteilt Zettel mit Phantomzeichnungen des „Erlösers“ und spürt Verdächtigen hinterher.

Doch Chicago ist groß, und die ‚normalen‘ Bürger sind, da nicht gefährdet, gleichgültig. Der „Erlöser“ kann sein Werk problemlos fortsetzen. Körperliche Schwächen und Streit schwächen die Verfolger. Einer nach dem anderen wird ‚erlöst‘, bis sich endlich Opfer und Jäger gegenüberstehen …

Subkultur in der (Horror-) Literatur

Lob und Tadel sind interpretierbar. Darin erinnert sich der Leser oft zu spät. Hier hat sich ein kluger Verlags-Kopf für das rückwärtige Buch-Cover folgenden Satz aus dem Hirn gewrungen: „Ein Thriller um einen Serienkiller, wie Sie ihn bisher noch nicht gelesen haben!“ Damit trifft er gleich doppelt ins Schwarze: Wäre uns dieses Buch erstens bereits bekannt, würden wir es wohl kaum lesen. Zweitens wird eine Ausnahme-Lektüre angekündigt, wobei eine Begründung klugerweise unterbleibt. Zu groß ist die Gefahr, dass der potenzielle Leser die Botschaft wie folgt ergänzen könnte: „ … und wie sie ihn nicht unbedingt lesen wollten“.

Womit keineswegs gesagt sein soll, „Der Erlöser von Chicago“ sei ein ‚schlechtes‘, also langweiliges, miserabel geschriebenes (oder übersetztes) Buch, was alles ganz sicher nicht zutrifft. Aber „Der Erlöser von Chicago“ ist eben kein ‚normaler‘ Thriller um einen Serienkiller. Schon das ausführliche Vorwort warnt vor bzw. weist auf eine eher ungewöhnliche Lektüre hin, die den Freund simplen und möglichst drastisch beschriebenen Mord & Totschlags möglicherweise in Unzufriedenheit stürzen wird.

Zwar geht ein Killer um und arbeitet dabei wirklich schmutzig, doch er bleibt eine Randfigur, die darüber hinaus mehr Fragen aufwirft, als der Autor bereit ist zu beantworten. Sallee nutzt eine scheinbar genrekonforme Geschichte, um ein Publikum zu interessieren, das ihn sonst vermutlich nicht auf seinem Streifzug durch eine Welt der Außenseiter und Ausgestoßenen begleiten würde.

Das Leben ist hart: Ein Fachmann spricht

„Schmerz“ und „Erlösung“ heißen die beiden Pole, zwischen denen die eigentliche Handlung spielt. Sallee kennt vor allem ersteren zur Genüge und aus eigener Erfahrung. Durch rechtsseitige Kinderlähmung ohnehin seit seiner Geburt körperlich behindert, wurde sein Körper bei einem Unfall im Alter von 30 Jahren förmlich zerschmettert. Unter den Folgen leidet Sallee bis auf den heutigen Tag.

Womit nicht nur die Behinderungen und Schmerzen gemeint sind, sondern auch und vor allem die Konfrontationen des ‚kranken‘ mit den ‚gesunden‘ Menschen. Die Welt dreht sich schnell, und wer nicht (mehr) mithalten kann, gerät bald auf das soziale Abstellgleis. Dort sind die ‚Gäste‘ des „Marclinn“ gelandet. Die ‚Pension‘, in der sie leben, ist tatsächlich eine staatlich geförderte Aufbewahrungsstation für gesellschaftlich Ausrangierte. Es liegt weit außerhalb der sauberen, sanierten Viertel Chicagos, die den Reichen und Schönen vorbehalten bleiben.

Offiziell sind die Behinderten, Gelähmten, Verwirrten oder anderweitig Gezeichneten „eingeschränkte“ Bürger, wie sie politisch korrekt genannt werden, doch am liebsten ist es den ‚Normalen‘, wenn sie die ‚Anderen‘ nicht sehen. Selbst wenn Victor Tremulis und seine Leidensgefährten sich inmitten ihrer Mitbürger aufhalten, sind sie quasi unsichtbar: Sie werden ausgeblendet.

Solidarität ist eine schöne Fiktion

Sallee öffnet weder seinen Figuren noch seinem Publikum eine vor allem in Film und Fernsehen gern genutzte Hintertür: Hier finden die Außenseiter familienähnlich zusammen, schützen und helfen einander. Zunächst geschieht dies auch im „Marclinn“. Doch diese Menschen, die den „Erlöser“ fürchten, sind keine Heiligen. Die gemeinsame Notlage schweißt sie keineswegs zusammen. Missgunst und Vorurteile sind hier ebenso alltäglich wie in der ‚normalen‘ Welt. Hinzu kommt die von Sallee vertretene Ansicht, dass sich manches Problem nicht lösen lässt: Persönliche und gesundheitliche Schwierigkeiten addieren sich derart, dass mehrere Handlungsfiguren Selbstmord begehen.

Im „Marclinn“ kommt höchstens eine Zweckgemeinschaft zustande. Die ‚Jagd‘ auf den „Erlöser“ ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Seine potenziellen Opfer verfügen weder über das notwendige Wissen noch über die Kraft für eine Mörderhatz. Sallees Figuren wachsen in der Krise nicht über sich hinaus. Wenn Evan Shustak sich als Superheld „American Dream“ kostümiert, bleibt er doch eine traurige Gestalt, die dem „Erlöser“ nichts entgegenzusetzen hat, als sich ihre Wege kreuzen.

In der ‚realen‘ Welt nehmen höchstens die Medien Anteil. Gierig zählen sie die Opfer des „Erlösers“: Je höher der Bodycount, desto höher steigen Auflagen und Zuschauerzahlen. Ansonsten beschränkt sich die Unterstützung auf die eher pflichtschuldigen Ermittlungen einer überlasteten, politisch gegängelten und schlecht ausgerüsteten Polizei, die den Kampf gegen das Verbrechen im Grunde verloren hat. Stattdessen richten Immobilienhaie ihre gierigen Blicke auf das Heimatviertel der Armen. Die Tafelrunde des „Marclinn“ löst sich auch deshalb auf, weil das „Marclinn“ schließlich vor dem Abriss steht. Das Viertel wird saniert, seine Bewohner erneut vertrieben.

Schmutziger Killer-Engel in göttlichem Auftrag?

Wer ist der „Erlöser“? Ein simpler, pseudo-religiöse verblendeter Serienkiller ist er nicht, auch wenn seine Motivation in diese Richtung weist. Sallee lässt keinen Zweifel daran: Francis Haid ist wahnsinnig, aber er verfügt über übernatürliche Fähigkeiten. Mit seinem Körper absorbiert er seine Opfer. Wenn ihm die Zeit bleibt, löst er sie mit Haut und Haaren auf. Diese Kraft besaß er nicht von Geburt an. Sie wurde ihm durch vor vielen Jahren durch einen älteren „Erlöser“ verliehen.

Dabei ist Haid selbst ein Opfer. Seine Mission als „Erlöser“ erfüllt nicht deshalb, sondern trotzdem. Kindesmissbrauch und die Ignoranz einer Gesellschaft, die auch in dieser Hinsicht lieber blind und taub stellt, trieben Haid in den Wahnsinn. Seine Wohnung teilt er mit der Leiche seines Peinigers, dessen Konditionierung nach dem Tod andauert: Haid mag auf „Vater“ nicht verzichten, denn sonst hat er niemanden, mit dem er ‚reden‘ könnte.

Wie ‚böse‘ ist der „Erlöser“? Sallee thematisiert die Frage, ob er seinen Namen womöglich zu Recht trägt. Kann seinen Opfern in ihren Leben voller Schmerz und Frustration etwas Besseres geschehen, als den „Erlöser“ zu treffen? Der Tod kann die bessere Alternative sein – eine provokante These, zumal dem „Erlöser“ jegliche messianische Aura abgeht.

Das Ende ist traurig aber konsequent. Es gibt keinen Sieg der Gerechtigkeit, kein Schicksal greift ein. Wieder entscheidet sich der Autor für die ‚Realität‘. Er schließt eine Geschichte ab, die als menschliches Drama mit symbolischen Phantastik-Elementen zunächst fremdartig wirkt aber bald eine eigene Sogwirkung entwickelt, die den Leser nicht mehr loslässt.

Autor

Wayne Allen Sallee kam 1959 in Chicago, US-Staat Illinois, mit einer rechtsseitigen Kinderlähmung zur Welt. Sallees Kindheit und Jugend wurden durch die daraus resultierenden Behinderungen geprägt. Der junge Mann suchte und fand seinen Weg als Schriftsteller. 1985 erschien „Rapid Transit“, eine Kurzgeschichte, die das Interesse von Karl Edward Wagner erregte, der nicht nur selbst ein bekannter Schriftsteller war, sondern zahlreiche Anthologien zusammenstellte, die modernen Horror-Autoren eine Plattform gaben.

Sallee veröffentlichte diverse Storys und wurde rasch bekannt. Ende der 1980er Jahre begann er mit der Arbeit an einem ersten Roman. Am 18. März 1989 wurde Sallee von einem Verkehrsbus und einem Auto angefahren. Er erlitt schwerste Knochenbrüche und eine Hirnquetschung. Die Heilung des durch die Kinderlähmung ohnehin geschwächten Körpers zog sich über Jahre hin. Noch heute leidet Sallee unter den Folgen seiner Verletzungen. Über seine Leiden hat er ausgiebig geschrieben.

Trotz des Unfalls kehrte Sallee bald an den Schreibtisch zurück. Er schloss das Manuskript zu „The Holy Terror“ („Der Erlöser von Chicago“) 1992 ab, veröffentlichte in den nächsten Jahren jedoch ausschließlich Kurzgeschichten. Seine Werke wurden bisher fünfmal für den „Bram Stoker Award“ der US-amerikanischen „Horror Writers Association“ nominiert.

Sallee ist zudem ein kenntnisreicher Rezensent und veröffentlicht in Magazinen und auf Websites. Er schrieb für verschiedene Comics, darunter die Biografien des Schauspielers Brandon Lee und des Serienkillers Richard Speck.

Wayne Allen Sallee lebt und arbeitet in Burbank, Illinois. Er ist auch als Blogger sehr aktiv.

Taschenbuch: 335 Seiten
Originaltitel: The Holy Terror (Shingletown/Kalifornien : Mark V. Ziesing 1992)
Übersetzung: Andreas Schiffmann
Cover: Mark Freier
ISBN-13: 978-3-89840-020-6
www.blitz-verlag.de

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