Zur Alternativkultur vor 100 Jahren, der sogenannten „Lebensreform“, gibt es für Interessenten eine Vielzahl von Titeln. Noch nie wurde bislang allerdings diesbezüglich eine Analyse des Bereiches der Sport-, Körper- und Kulturgeschichte aus diesem Zeitraum vorgelegt. Dabei war bis zur Naziergreifung 1933 diese Bewegung neben der Turn- und Sportbewegung in der breiten Bevölkerung sehr erfolgreich. Hunderttausende gehörten bereits zum Übergang ins 20. Jahrhundert zu dieser neuen Bewegung, die zu einem Zentralbegriff des modernen Zeitbewusstseins wurde. Sie war Teil der grundlegenden Lebensreform, die eine neue Welt aufzubauen versuchte, um die sozialen Fragen damit zu lösen. Intern selbst so weit gefächert wie alle anderen Reformbewegungen dieser Zeit, waren die Bezüge zu anderen Gruppierungen, welche den utopischen Gesellschaftsentwurf eines „neuen Menschen“ auf ihren Fahnen geschrieben hatten, ineinander gleitend.
Der Autor Wedemeyer-Kolwe kann seine Untersuchung über die Körperkulturbewegung deswegen nicht getrennt von Religionsgeschichte, Utopiegeschichte und den unzähligen sozialen und alternativen Bewegungen behandeln. Faszinierend zu lesen, wie sehr die damalige Gymnastikbewegung sich mit den Tanzschulen moderner Prägung verband; z. B. Modern Dance von Mary Wigman, Isadora Duncan und Rudolf von Laban – allesamt, wie auch die Eurythmie von Rudolf Steiner, ganz eng mit okkulten Logen und Schulen verknüpft. So sehr alle dasselbe verfolgten, standen sie allesamt doch auch sehr in Konkurrenz und bekämpften sich gegenseitig.
Interessant zur heutigen „Moral“ der wieder im New Age aufgekommenen Körperkultur (von Wellness bis hin zu den vielen Körpertherapien), die sehr vergleichbar mit der damaligen Bewegung ist, ist allerdings die damalige Freizügigkeit, mit der Sexualität mit der Körperkultur verknüpft wurde und wie eng deswegen die Gymnastik- und Tanzgruppen neben der aufgekommenen „FKK“-Bewegung standen. Da die Gymnastikbewegung glaubte, über bloße Körperübungen hinaus einen Kulturauftrag wahrnehmen zu müssen, war das Angebot weit über die Lehre einer Körperpraktik hinausgegangen und beinhaltete Ernährungs- und Pädagogiktheorien, Naturlehren, Anatomie und Medizin, und das alles eingebettet in philosophische und religiöse Szenarien. Insgesamt waren die Vertreter – beeinflusst von Nietzsches „Gott ist tot“ bzw. von pantheistischen naturreligiösen Vorstellungen – insgesamt recht antikirchlich eingestellt, denn deren körper- und sexualfeindliche christliche Religion wurde zu Recht für die Neurosen der Gesellschaft verantwortlich gemacht.
Eingebettet in die allgemeine Jugendbewegung, standen politische Themen selbstverständlich ebenso auf dem Programm wie die Körperschulung. Man diskutierte über Freie Liebe, Ehe, Verhütung, Kindererziehung, Recht, Gesundheits- und Alltagsprobleme, Demokratie und Sozialismus. Zwar gab es schon bald „rechte“ Tendenzen, aber als faschistischen Boden – wie das heutzutage alles im Nachhinein interpretiert wurde – kann man diese Bewegung nicht bezeichnen. Im Gegenteil wurden auch besonders in vielen sozialistischen Lebensprojekten die neuen Utopien gelebt und erprobt. Dass der Nationalsozialismus das alles später verbot und in seine eigenen Apparate einzubinden verstand, ist Teil der leidig bekannten politischen Historie.
Obwohl die gymnastischen Kulturkonzepte also unterschiedliche Therapien propagierten, gingen sie von einem gemeinsamen Befund aus. Die Gesellschaft wurde als „krank“ diagnostiziert, wobei die wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen und die Identitätskrise des Menschen im Industriezeitalter als Symptome galten. Die Palette der zitierten Vorbilder reichten u. a. von Georg Simmel, Hans Driesch, Henri Bergson und Martin Buber über Ludwig Klages und seinen Kosmischen Kreis, Carl Gustav Carus bis hin zu völkischen Propheten wie Friedrich Nietzsche, Oswald Spengler, Julius Langbehn oder Paul da Lagarde, wobei Spengler kritisiert wurde, weil er den Verfall der Welt als unumkehrbar ansah, die Gymnastik aber gerade einen Weg aus der Krise heraus wies. Vieles, was dadurch an Praktiken mit in diese Bewegung hineinkam, war nicht mehr nur an der körperlichen Fitness orientiert, sondern orientiere sich an der Heilung des Menschen. Askese, Willenskraft und Selbstbeherrschung waren grundlegende Pfeiler des Unterrichtes und das beinhaltete Atemschulung, Yoga, Autogenes Training und Couéismus. Solche methodischen Disziplinierungen des Geistes mit ihren meditativen Schulungen zur Entwicklung der inneren Seelenkräfte hatten schon die esoterischen Zirkel und die Theosophie Blavatskys vor der Jahrhundertwende etablieren können.
Auch ein Deutscher kam dabei zu internationaler Bedeutung – Otto Hanisch mit seiner „Mazdaznan“-Gesundheitslehre mit ihrem Hauptquartier in Chicago. Zwar war auch diese Gesellschaft in ihren Anfängen in Logen gegliedert, aber schon früh hatte man eine andere Art der Organisationsstruktur ins Leben gerufen: Die „Zentrale“ umfasste eine Form von freien Vereinigungen mit freiwilligen Beiträgen, was dem freien Geist der Lehre besser entsprach. In solch esoterischen Vereinigungen geht es natürlich um die „Höherveredelung“ des Menschen, wodurch auch völkische Spielarten zu Tage traten, die allesamt ebenso eine typische Mischung aus lebensreformerischer Gesundheitspraxis, Yoga-Übungen, positivem Denken und Autosuggestion ausmachten. Bedeutend für dieses völkisch-ariosophische Feld war die Runengymnastik von Adolf Max Karl Kummer und Friedrich Marby, die miteinander konkurrierten.
Von der eigentlichen rassistisch-faschistischen Nazibewegung wurden diese allerdings wie die meisten der vielfältigen Bewegungen ausgegrenzt. In die Ariosophische Kulturzentrale (AKZ) wurde beide Richtungen nicht aufgenommen. In späterer Nazi-Zeit wurden beide verfolgt, was aufgrund von Denunziationen ihres großen Konkurrenten, des SS-Brigadeführers Karl Maria Wiligut („Weisthor“) in die Wege geleitet wurde. Wiligut war unter Heinrich Himmler der bevorzugte Runenokkultist und schuf den Plan für die SS-Ordensburg Wewelsburg. Natürlich stand dies auch in Tradition der schon im Kaiserreich begonnenen Fehde der Runen-Okkultisten um die „richtige“ Verwendung der Runen. Marby landete allerdings sogar im KZ. Insgesamt konnte dafür aber – trotz SS-Ahnenerbe – die runenkundliche Ariosophie im „Dritten Reich“ nicht überleben.
Es ist schon anachronistisch und perfide, wie all diese fortschrittlichen Strömungen, die mit der heutigen New-Age- , Feminismus- und Wellness-Kultur ihre Auferstehung fanden, von den Nazis vereinnahmt werden konnte. Die Verbindung zwischen Nacktkultur, Siedlungstätigkeit und neuheidnisch-germanischen Glaubensgruppierungen war keine Ausnahme, da sie als körperorientierte Gegenreligion zum leibfeindlichen Christentum empfunden wurde. FKK ließ sich sehr gut mit den Thesen der völkischen „Rassezucht“ verbinden und gehörte zum Körperabhärtungsprogramm der Nazi-Projekte. Am Rande festgestellt, ist recht humorvoll, dass in der Auflistung all der verschiedenen sozialistischen, anarchistischen und nationalistischen FKK-Gruppen auch Aleister Crowley auftaucht. Hier ist er erstmals nicht der berüchtigte Satanist, sondern einfach Oberhaupt einer FKK-Gruppe mit ihrer Kommune Cefalu auf Sizilien.
Seit ihrem Auftreten im Kaiserreich hatte sich das FKK von einer kleinen – häufig im Verborgenen operierenden – Gruppe zu einer modernen Massenkultur und Freizeitbewegung entwickelt, die bewusst und konsequent an die Öffentlichkeit ging. Die von Amerika nach Europa inzwischen zurückgekommene „Fitness- und Bodybuilding“-Bewegung hat ihren Ursprung in der damals mit „Kraft und Schönheit“ umschriebenen Körperkulturbewegung. In der Nazizeit verlegte sich die Intention allerdings wieder mehr und mehr auf die sportlichen Aspekte, die in der Bewegung zuvor nicht vorherrschend waren. Die Turn- und Sportvereine, von denen man sich um die Jahrhundertwende eigentlich abgegrenzt hatte, waren wieder im Aufwind. Die alternativen Gesundheitsregeln (auch die der Ernährung), der Körperpflege und Reformbekleidung waren übernommen, aber alles „Irrationale“ und Ideologische ausgesondert worden. Die Körperkulturlehre blieb im Rang ihrer großen Kulturaufgabe und die Athleten („Olympia“) und viele zeitgenössische Kunstskulpturen erinnern noch heute daran. Darin lag der vermeintlich gefundene Schlüssel zur Genesung der Welt. Übernommen blieb auch das Wissen, dass ein rein mechanisches, „geistloses“ Üben keine Auswirkungen bringt, sondern nur über die Gedankenarbeit – d. h. Die Konzentration des Willens auf die Muskeln – ein Trainingseffekt zu erzielen ist. „Wille ist Macht“ blieb einer der Nazi-Slogans.
Insgesamt erfuhr trotz anfänglich anderen Tendenzen die Körperkulturbewegung zwischen 1933 und 1945 ihren Einbruch. Viele der Organisationen wurden zerschlagen oder zumindest eingeschränkt. Ihre Bedeutung war verloren gegangen. Zuvor kann man die Körperkulturbewegung trotz ihrer inhaltlichen Zersplitterung und ihrer kommerziellen Ausrichtung im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik als eigenständige „soziale Bewegung“ einordnen. Sie entwickelte genuine Körperpraktiken und Körpertheorien, sie entwarf eigenständige religiöse Konzepte und sie besaß eine gemeinsame soziale Trägerschaft. Das übereinstimmende Ziel ihrer einzelnen Gruppen war die soziale, kulturelle und politische Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Ihre Utopie war die Entwicklung eines körperorientierten „Neuen Menschen“. Die Körperkulturbewegung gehörte damit in den Kontext der zivilisationskritischen neuen Reformbewegungen, deren gemeinsames Interesse die Umformung der bestehenden Gesellschaft war.
All diese Strömungen werden in der Forschungsarbeit von Bernd Wedemayer-Kolbe auf faszinierende Weise detailliert vorgestellt und in vier großen Kapiteln behandelt: „Rhythmus“, „Reinkarnation“, „Licht und Luft“ und „Kraft und Schönheit“. Abgeschlossen wird mit einer Darstellung, wie das Projekt „neuer Mensch“ im „Dritten Reich“ eigentlich seine Inhalte verlor und bis in unsere jüngere Vergangenheit in der Versenkung verschwand.
Taschenbuch: 520 Seiten