Zurdo, David / Gutiérrez, Ángel – 616 – Die Hölle ist überall

Seit Anbeginn der Menschheit gibt es unerträgliches Leid auf unserer Welt. Kriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen und grausame Verbrechen, die jeden Tag stattfinden. Seit der biblischen Vertreibung aus dem Paradies erlebte die Welt kaum friedvolle Perioden. Selbst und besonders die heilige Mutter Kirche brachte Tod und Verderben über die Menschheit, ihre Priester standen Soldaten an Brutalität und Unmenschlichkeit in nichts nach. Da stellt sich nicht zum ersten Mal die Frage: Gibt es einen Gott? Wenn ja, hat er uns bereits verlassen, so wie Jesus es in den Evangelien ausspricht? Oder hat der Teufel im Kampf um die Seelen die Oberhand gewonnen?

Doch es geschieht auch viel Gutes, und immer wieder widerfahren einem Auserwählten ‚Wunder‘, die Wissenschaftler, Psychologen und Ärzte nicht fundiert erklären können. Aber bevor diese Geschehnisse offiziell als Wunder Gottes erklärt werden, werden sie von Wissenschaftlern des Vatikans überprüft. Es gibt Vereinigungen, die ganz speziell diese ‚Wunder‘ untersuchen, und diese unterstehen direkt dem Papst. Teilweise arbeiten diese Männer inkognito, wenn es sein muss auch mit einer gefälschten Identität. Es sind tiefgläubige Männer, ausgebildet in moderner Wissenschaft, Geschichte, Mythologie, Symbolik und alten, auch ausgestorbenen Sprachen. Unter ihnen befinden sich auch Psychologen, Spione und Diplomaten des Vatikans.

Das ‚Böse‘ hat viele Gesichter, und es gibt um diese finsteren Wesenheit einen ganz speziellen Studiengang an der Universität des Vatikans: Exorzismus und Dämonologie. Viele mögen dies belächeln, aber Papst Benedikt und auch Johannes Paul unterstützen diese Priester in ihren Ämtern. Die größte List des Teufels ist es vielleicht, uns glauben zu machen, er existiere gar nicht, wie Baudelaire es sagte. Aber was ist, wenn die Wahrheit noch schrecklicher ist: Was ist, wenn die Hölle überall existiert, auch im Jenseits?!

Die beiden spanischen Autoren David Zurdo und Ángel Gutiérrez haben den Kampf im Himmel in ihrem Roman „616 – Die Hölle ist überall“ thematisiert: Ein Mysterythriller, der seinesgleichen sucht.

_Die Geschichte_

Der Jesuitenpriester Albert Cloister gehört einer Kommission des Vatikans an, die unerklärliche Wunder auf wissenschaftlicher Basis analysiert. In einem kleinem spanischen Dorf soll er das Grab eines ehemaligen Priesters untersuchen, der seliggesprochen werden soll. Vor Jahren kam es zu spontanen Wunderheilungen und unerklärbaren Phänomenen, und nach altem Brauch soll nun die Leiche exhumiert werden, um festzustellen, ob der Körper unversehrt ist und kaum oder gar keine Verwesung eingetreten ist.

Als der Sarg gewaltsam geöffnet wird, bietet sich den Anwesenden ein grausiges Bild. Der Deckel des Kiefernsarges ist innen zerkratzt, die Knochen des toten Priesters sind zermalmt. Es ist unmöglich, dass sich der Priester diese Verletzungen selbst zugefügt hat, zu groß und vielfältig sind die Schäden am Körper. Cloister entdeckt auf einem der Fragmente des Sarges einen Satz, der die schrecklichste Erfahrung und Verzweiflung eines Menschen vermitteln kann: „Die Hölle ist überall“.

Verwirrt und erschrocken fliegt der geistliche Ermittler zurück nach Rom, um im Vatikan nach Lösungen zu suchen. Es gibt weitere besorgniserregende Vorkommnisse. Bei vielen Nahtoderfahrungen häufen sich erschreckende Aussagen, das Jenseits präsentiere sich den sterbenden Menschen nicht als friedvolles Paradies in ein warmes Licht getaucht, sondern als unfassbares Grauen und Leiden. Den wieder ins Leben geholfenen Menschen bleiben nur Angst und eine erschreckende Hoffnungslosigkeit.

In Boston überlebt ein psychisch kranker Gärtner den Brand eines Hauses. Seitdem verfolgen ihn Nacht für Nacht quälende Alpträume. Die Psychologin Audrey Barrett versucht Daniel zu therapieren und kümmert sich aufopfernd um ihn. In den vielen Sitzungen offenbart sich der Psychologin ein anderer Daniel. Er verfügt über Wissen, das er eigentlich gar nicht besitzen dürfte, über eine sprachliche Eloquenz und Gewandtheit, die niemals sonst in Erscheinung trat. Selbst seine Stimme verändert sich. Daniel scheint mit der jungen Psychologin zu spielen und konfrontiert sie mit ihren eigenen Verfehlungen, was ihn augenzwinkernd amüsiert.

Ist dies das Resultat eines Traumas, eine multiple Persönlichkeitsstörung? Verwirrt und auch verängstigt sucht Audrey in weiteren Sitzungen mit Daniel nach einer Lösung, doch es findet sich keine; immer beklemmender und beängstigender werden die Gespräche mit dem kranken Mann. Als Daniel ihr Einzelheiten über das Verschwinden ihres Sohnes vor fünf Jahren erzählt, wird Audrey wieder aktiv und ist auch innerlich bereit, die Konfrontation zu suchen und vielleicht ihren Sohn wiederzufinden.

Pater Albert geht einer anderen Spur nach, und auch ihm begegnet Unheimliches. Auf seinen Tonbandaufnahmen entdeckt er verzerrte, aber doch verständliche Stimmen, die im Hebräischen zu ihm sprechen, und auch hier taucht wieder der unheimliche Satz auf: „Die Hölle ist überall“. Die Ziffern des Satans 616 oder XIC, also Chi, Iota und Stigma, weisen ihm den Weg zu einem Interview mit dem Satan selbst.

Und Pater Cloister erkennt, dass die Wahrheit um den Kampf im Himmel eine ganz andere ist. Die Schlacht ist endlos und birgt keine Hoffnung. Jesus‘ Ausspruch „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ wird aufgelöst, aber der Preis um diese Wahrheit ist viel zu hoch.

_Kritik_

„616 – Die Hölle ist überall“ ist nicht der erste Roman des Autorenduos Zurdo & Gutiérrez aus Spanien. Längst haben die Autoren in ihrem Heimatland weitere Mysterythriller mit großem Erfolg veröffentlicht.

Die hier im Roman geschilderten ungeklärten Vorfälle besitzen eine ‚reale‘ Grundlage. Das macht den Roman so außerordentlich interessant, und die Thesen der Autoren sind zwar spannend, doch überdies bergen sie einen spürbaren Schrecken. Die im Buch erwähnten Bibelpassagen und Fragmente sowie die von der Kirche geächteten apokryphen Texte und Zitate über den Teufel sind authentisch.

Die hier erwähnte Teufelsbibel, den 75 Kilogramm schweren [Codex Gigas,]http://de.wikipedia.org/wiki/Codex__Gigas gibt es wirklich. Der Legende nach schrieb in nur einer Nacht ein Mönch mit Hilfe Satans das ganze Wissen der Menschheit auf. Der Preis dafür war seine Seele. Als Beweis dafür, dass der Teufel selbst an dem Manuskript gearbeitet hat, fügte der Mönch das eindrucksvolle Bildnis des Teufels hinzu.

Unerklärliche Phänomene, die mit der bekannten Wissenschaft nicht kompatibel sind, erschrecken uns, eine normale Reaktion, aber die offenen Fragen bleiben. Und sie führen immer zum Ursprung und konfrontieren allzu oft mit religiösen Fragen wie: Gibt es einen Gott? Gibt es den Teufel? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Die Vorstellung eines christlichen Gottes kommt ohne das ‚Böse‘ nicht aus. Ohne dieses ‚Böse‘ ergäbe die Kreuzigung Christi keinen Sinn. Ohne Sünde gäbe es auch keine Vergebung – der Gegensatz von Gut und Böse gehört wesentlich zum Konzept der christlichen Religion. Das ‚Böse‘ schlechthin aber verkörpern in den Traditionen der Kirche wie im Evangelium nicht militärische Feldherren oder andere Feinde der Menschheit, sondern der Teufel selbst. Seitdem er in Gestalt der Schlange Eva und Adam verführte, ist das Böse aus der Bibel sowie aus den Kirchengeschichten nicht mehr wegzudenken.

Der mit diesen Hintergründen angefüllte Roman ist unbeschreiblich spannend, und der Leser wird von seiner kühlen und sehr dichten Atmosphäre nahezu in den Bann geschlagen. Es gibt zwei Handlungsstränge, einmal die Perspektive des Paters Cloister und auf der anderen Seite das Schicksal von Audrey. Beide fließen, wie es sich gehört, erst am Ende zusammen, doch sind beide unabhängig von einander gleichsam eindrucksvoll spannend.

Wenn ein Mysterythriller dem Leser einen kalten Schauer über den Rücken gleiten lässt und dieser vielleicht nach einem besonders spannenden Kapitel erschöpft durchatmet, so haben die Autoren ihr Ziel erreicht. Gerade in diesem Genre muss man dabei auch die Grenzen zwischen übertriebenen Klischees und wirklichen Fakten, wie wir sie in „616“ erleben, mit Fingerspitzengefühl behandeln, um den Leser nicht des Geschehens in seiner Erlebbarkeit zu entrücken.

Zudem befasst sich der Roman mit essenziellen Fragestellungen: Der christliche Mensch lebt in der Hoffnung, nach dem Tod weiterzubestehen. Wenn die Seele Energie ist, wo geht sie dann hin? Wo ist dieser Weg zu Ende, den wir eines Tages alle gehen müssen? Steckt in den Nahtod-Erlebnissen ein Fünkchen Wahrheit oder spielt uns unser Gehirn nur etwas vor? Ist es ein Schutzmechanismus, ein komplizierter chemischer Prozess, um uns die letzten Minuten und Sekunden auf der Erde erträglicher zu machen?

Die Antworten liegen sicherlich nicht in diesem Roman verborgen, auch wenn viele geschilderte Fälle auf Tatsachenberichten beruhen, aber die Antworten, welche die Autoren uns hier geben, bleiben zweideutig, und der Weg zur Antwort ist vielleicht das eigentliche Ziel. In „616“ vermengen sich Fakten mit Theorien und entführen den Leser in eine Welt voller Fragen, offener Fragen, die zwar abschließend nicht beantwortet werden können, aber mindestens neugierig machen.

Die Protagonisten sind glaubhaft geschildert und selbst der Teufel ist in seinem Handel nicht der Kategorie ‚Böse‘ zuzuordnen. Alles zeigt zwei Seiten, und auch der Teufel besitzt scheinbar eine ‚menschliche‘ Komponente. Cloister und Audrey zeigen Schwächen und Stärken, sie hadern mit ihrem Schicksal, das sie aber unausweichlich auf die Suche gehen lässt nach der letzten Wahrheit, wie sehr sie auch erschrecken und das ganze Weltbild förmlich auf dem Kopf stellen mag.

Der Spannungsbogen explodiert am Ende in einer schlüssigen, aber nicht endgültigen Wahrheit. Auch die Charaktere werden von einem Extrem ins andere geworfen und kämpfen sich immer wieder an die Oberfläche, nur um wenig später zu begreifen, dass sie auf einem offenen Meer voller Fragen schwimmen. Gerade dieser Abwechslungsreichtum und die beständige Ambivalenz lassen den Leser in jedem Kapitel mitfiebern.

Sehr positiv ist noch zu erwähnen, dass die Autoren im Nachwort auf die Phänomene zu sprechen kommen und diese in Ansätzen erklären.

_Fazit_

„616 – Die Hölle ist überall“ ist ein unheimlich(er) dichter Roman, der den Leser völlig in seinem Bann zu ziehen vermag. Es gibt keine vordergründig logischen oder inhaltlichen Fehler, wenn Fakten und Fiktion miteinander kombiniert werden. Positiv sei zu vermerken, dass es diesmal keine große Verschwörungstheorie gibt und die Kirche in der Geschichte neutral behandelt wird. Es gibt keine blutigen Ritual- und Opfermorde, das Böse an sich zeigt hier ein ganz anderes Gesicht, eines, das deutlich realistischer nachwirkt. Das Böse berührt und verführt, es macht nachdenklich, aber es ist nicht einseitig in ein Klischee verpackt. Manchmal hat die Realität vielleicht eine ausreichend bestechende Komponente, der man sich nicht zu entziehen mag.

Abschließend kann ich den Roman wärmstens empfehlen. Auf zarte Gemüter und tief gläubige Leser mag er jedoch erschreckend und aufwühlend wirken, und ganz sicher wird der eine oder andere Leser neugierig zur Bibel greifen, um darin entweder Trost zu finden oder zwischen den Zeilen nach Wahrheiten und Botschaften zu suchen.

_Die Autoren_

David Zurdo und Angel Gutiérrez sind Wissenschaftsjournalisten, die sich auf ungeklärte Vorfälle der Weltgeschichte spezialisiert haben. In Spanien haben sie bereits mit großem Erfolg einige Mysterythriller veröffentlicht. „616 – Die Hölle ist überall“ ist ihr deutsches Debüt.

|Mysterythriller
Originaltitel: 616 – Todo es infierno
Aus dem Spanischen von Alice Jakubeit
416 Seiten Klappenbroschur|
http://www.kanur.de
[Trailer zum Buch]http://www.lesungen.tv/trailer/david-zurdo-zaiz-616-die-hoelle-ist-ueberall/
[Interview mit den Autoren]http://www.droemer-knaur.de/magazin/Interview+mit+Zurdo+und+Gutierrez.569510.html

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