Anton G. Leitner (Hg.) – Das Gedicht Nr. 8: Vom Minnesang zum Cybersex

Erotische Zeilensprünge

„Gedichte sind plötzlich hip und sogar ziemlich sexy“, schreibt die Süddeutsche Zeitung anno 2000 erstaunt zu diesem „Erotik-Special“ von „Das Gedicht“. Der Schreiber hält den 160-Seiten-Band aus dem Anton G. Leitner Verlag für „ein freches Meisterstück, zuweilen anstößig und ungewöhnlich authentisch“. Wer sich „angestoßen“ fühlt, greife sofort zur hilfreichen Collection von schwarzen Zensurbalken, die sich in passender Größe über die Seite schieben lassen.

Die erotischen Texte stammen vorwiegend aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, zu einem beträchtlichen Teil aber auch aus Luxemburg. Die AutorInnen bilden in chronologischer Reihenfolge nach ihrem Geburtsjahr ein Panorama des 20. Jahrhunderts, angefangen beim 1999 verstorbenen Nestor der deutschen Lyrik Karl Krolow über Friederike Mayröcker und Günter Kunert bis hin zu Ulla Hahn und Matthias Politycki – genau 70 Poeten aus den DACH-Ländern und acht aus Luxemburg.

Was also hat die crème de la crème deutschsprachiger Lyrik zum Thema Nummer 1 zu sagen? Ein paar recht witzige Sachen, aber auch Tiefgründiges, Philosophisches. Ein paar unrepräsentative Beispiele:

Bastian Böttcher: „UI“

„Du bist pushy/Wir naschen Sushi/Voll nass & juicy/Nippen wir an Nippons Lippen, scusi.“

SAID:

„und sie folgte/den Anweisungen seiner Hand/mit zögernder Zunge/bis die Laternen hinausgetragen wurden/bis der helle Tag sich einschlich/in ihre Körper“

Kurt Marti: „69“

„Kopf/über hals/über bauch/und wie du/mir/so ich dich/auch“

Anise Koltz (die Nestorin der luxemburgischen Lyrik): „Ein Stück Weltall“

„Ich lutsche in deinem Mund/ein Stück Weltall/ohne die Sonne zu bewegen/und den Stein zu meinen Füßen“

(Informationen zu den AutorInnen sind auf Seite 150 zu finden.)

Mein Eindruck

Auffallend ist die Bedeutung der Körperlichkeit, die die Texte thematisieren: „Wein in den Bauchnabel/ mach das mir anders/ atmet der Mond“ (Uta Franck, „Atem des Mondes“). Natürlich macht sich der reflektierende Geist – wie etwa bei Krolow – gerne lustig über die scheinbar so banalen Aspekte dieses Körper-Universums, beispielsweise wenn es darum geht, wie sich die einzelnen Teile einander mitteilen: „Bis in die Fingerspitzen/dieses Gefühl: animalisch“. Alte Motive werden wieder aufgenommen: „Lady leda/ gut bei leibe/ fleur/ tet / (Schmiegling/ bleibe!“)/ blutt und bloss/ wie in der fabel/ mit dem schwan/ im schoss/ und dessen/ schnabel“ – und witzig neu interpretiert.

Fünf Fotosequenzen, sogenannte „Bildgedichte“, von Gerhard Rühm, einem der Gründer der Konkreten Poesie, ergänzen die Texte mit verschobenen erotischen Motiven, die offensichtlich einem Sex-Magazin entnommen wurden (oh ja: Man wird hier deutlich, um was es geht.).

Drei Essays und ein Text mit Literaturempfehlungen („Erotische Gedichte online“) bilden den Abschluss. „Gib mir tausend Küsse und dann noch hundert“ dichtete einst im alten Rom Catullus an seine Liebste, die schöne Lesbia. Das Verhältnis der Geschlechter in der römischen Antike ist Thema des Essays von Niklas Holzberg.

Sodann klärt Günter Kirchberger über die Geschichte der erotischen Dichtung auf: „Vom Minnesang zum Cybersex“ – ein poetischer Rundgang für die „klassische Sau“ also? Mitnichten, sondern ein gelehrter Spaziergang durch die lyrischen Ergüsse und Ansichten der europäischen Dichtergenerationen, mit nützlichen Einsichten.

Warum ist eigentlich das so überaus anschauliche Wort „ficken“ aus dem schrift-deutschen Sprachschatz verbannt? Ist es nicht mehr politisch korrekt, „Ficken“ zu sagen? Muss man(n) es nun mit solchen Euphemismen wie „Liebesspiel“, „Vögeln“ (das ursprünglich ja nichts mit dem lieben Federvieh zu tun hatte) und sogar „Kuscheln“ umschreiben? Alexander Deppert liefert eine Reihe von überraschenden Einsichten zum Sprachgebrauch in der erotischen Lyrik, insbesondere „Für und wider ‚Ficken'“.

Unterm Strich

Eine Einheit aus Text, Foto und Kritik also? Möglicherweise. Ich glaube eher, dass sich jeder der Leser seinen eigenen Teil des Bandes herauspickt. Mir haben vor allem die hervorragenden Texte in all ihrer überraschenden Vielfalt gefallen. Diese Vielfalt lotet das Thema Erotik in unvermuteten Aspekten aus. Insofern bietet diese Kollektion einige Augen- und Hirnöffner (und wer will, kann die Gedichte auch laut lesen, als Ohren-Öffner).

Ein ideales Geschenk – für den Partner, für sich selbst; aber auch ein Sammlerstück, denn eine solche Veröffentlichung hat es hierzulande seit vielen Jahren nicht mehr gegeben (schon gar keine Erstabdrucke!) – und wird es, steht zu fürchten, eine ganze Weile nicht mehr geben. Leider ist das Buch bei Amazon.de längst vergriffen, aber beim Verlag anzufragen, dürfte sich lohnen. Es kostet dort 11,20 EU plus Versand.

Taschenbuch: 157 Seiten, 1 Poster, Flugblatt, Lesezeichen, Postkarten, Kollektion von Zensurbalken
Diverse Übersetzer.
ISBN-13: 9783929433586

https://aglv.com/

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