William Gibson / Simon Jaspersen – Cyberspace. Drei Lesungen

Cool & bizarr: Einbruch ins Cyber-Universum

Mit seinen Erzählungen läutete der in Kanada lebende Amerikaner William Gibson Anfang der achtziger Jahre die Bewegung des Cyberpunk ein, die mit fast allen Konventionen der damals darniederliegenden Sciencefiction aufräumte und dem Genre neue Kraft einflößte. Er arbeitete dabei keineswegs allein, sondern zusammen mit maßgeblichen Autoren wie Bruce Sterling und John Shirley, die heute noch Romane und Erzählungen schreiben und regelmäßig mit Preisen und Nominierungen bedacht werden.

Ist es daher ein Wunder, dass sich Hollywood-Drehbuchautoren auf Gibsons Erfolge besinnen und Studiobosse bzw. Regisseure eine Story nach der anderen verfilmen (lassen)? „Johnny Mnemonic“ und „New Rose Hotel“ wurden bereits verfilmt, bei „Chrom brennt“ ist es nur noch eine Frage der Zeit. Diese drei Erzählungen werden von David Nathan vorgelesen.

Der Autor

William Gibson lebt in Vancouver, British Columbia, jener Gegend, in der auch seine Kollege Douglas Coupland lebt. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er fing als Englischlehrer an, floh vor dem Wehrdienst ins kanadische Toronto und schrieb ab Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre Erzählungen, die die Science-Fiction verändern sollten.

William Gibson, geboren 1948, emigrierte 1968 ins kanadische Toronto, nachdem ihn der US-Musterungsausschuss zurückgewiesen hatte. Er lebt seit 1972 in Vancouver, Kanada, wo der asiatische Einfluss sehr stark ist – einerseits durch viele chinesische Einwanderer, andererseits durch die starke japanische und Hongkong-chinesische Wirtschaft. Beides schlug sich in der „Neuromancer“-Trilogie nieder, die Gibson berühmt machte. Er begann aber schon 1977, als er noch Englischlehrer war, Storys zu veröffentlichen. 1983 hatte er bereits sein Kurzgeschichtenwerk mit der Titelstory dieser Sammlung (1986) komplett veröffentlicht.

Der Rest ist Geschichte: Als „Neuromancer“ 1984 erschien, war das wie eine Supernova in einem erschöpften dunklen Himmel, nämlich dem der damaligen Sciencefiction. Denn im Vergleich zu der traditionellen US-amerikanischen Sciencefiction bedeutete die Low-life-Straßengangbevölkerung mit der kriminellen Hightech-Nutzung pure Ketzerei: Amerikanische Straßen hatten sauber zu sein, die Jugendlichen hoffnungsfrohe Sportskameraden oder künftige Mütter (Reagan-Ära!) und die Computerzukunft leuchtete in den rosigsten Farben. Nichts davon findet sich in Gibsons Vision!

Es ist die typisch kanadische Vision der Welt als leere Wildnis, die sich nicht mit Vernunftmitteln begreifen lässt. Die Sehnsucht der Protagonisten gilt einer Selbstübersteigerung, der Transzendenz. In der Neuromancer-Trilogie besteht diese Sehnsucht in dem Entkommen dessen, was das Fleisch dem Geist an Grenzen und Fesseln auferlegt. Der Fluchtpunkt ist oftmals das, was inzwischen besser als „Matrix“ bekannt ist und in diesem Zusammenhang auch zuerst von Gibson verwendet wurde. Damals war es der „Cyberspace“, ein Begriff, den Gibson erfunden hat, um eine Wirklichkeit zu bezeichnen, die aus einer vernetzten Welt der Computer, dem heutigen Internet, besteht, in die man sich aber mit einem Gerät (Deck) „einstöpseln“ kann – etwa, um Daten zu stehlen.

Höhepunkt seiner Entwicklung war der Roman „Neuromancer“, in dem er den „Cyberspace“ postulierte, das, was wir heute als Internet kennen und nutzen. Allerdings stöpselt sich Gibsons Held Case direkt in den Computer ein. Auch an dieser direkten Gehirn-Maschine-Verbindung wird bereits gearbeitet, Geräte für Endverbraucher waren schon auf der CeBIT 2004 zu sehen.

Der Begriff „Cyberpunk“ stammt nicht von Gibson, sondern wurde erstmals 1980 vom Autor Bruce Bethke verwendet. Den übernahm dann der wichtigste Herausgeber von Sciencefiction in den USA, Gardner Dozois, und machte ihn populär. Das Konzept hatte schon 1964 Stanislaw Lem unter dem etwas sperrigen Begriff „Periphere Phantomatik“ aus der Taufe gehoben.

Heute sind Gibsons Visionen auf die sehr nahe Zukunft gerichtet, und seine Romane untersuchen deren Möglichkeiten, sowohl in kultureller, ästhetischer als auch krimineller und moralischer Hinsicht. Insofern ist Gibson heute der herausragende Moralist moderner Sciencefiction.

Sein Werk bestand bis zu „Pattern Recognition“ aus vielen Storys und zwei Roman-Trilogien, der „Neuromancer“- und der „Idoru“-Trilogie. Alle Bücher sind bei |Heyne| erschienen. Doch „Mustererkennung“ erscheint im Juli 2004 bei einem Verlag, der nicht gerade für Science-Fiction bekannt ist, sondern vielmehr für Tolkien und andere Fantasy: bei |Klett-Cotta|. 2019 wurde ihm der Damon Knight Memorial Grand Master Award für sein Lebenswerk verliehen.

Mehr Infos unter: http://www.williamgibsonbooks.com.

William Gibson bei |Buchwurm.org|:

Neuromancer
Neuromancer (Hörspielfassung)
Mustererkennung

Der Sprecher

David Nathan gilt als einer der besten Synchron-Sprecher Deutschlands. Seine herausragende Erzählkunst erweckt den Horror zum Leben. Im deutschsprachigen Kino erlebt man ihn als Stimmband-Vertretung von Johnny Depp.

Dem vorgelesenen Text liegt die Übersetzung von Reinhard Heinz aus dem Jahr 1986 zugrunde, von welcher der |Heyne|-Verlag das Copyright hält (s. u.). Regie führte Simon Jaspersen.

Die vorgelesenen Storys:

HINWEIS: „Sprawl“ ist der Siedlungsbrei, der sich in den USA und Tokio überallhin unter Kuppeln ausbreitet.

1) Der mnemonische Johnny (1981)

Diese erste Sprawl-Story wurde mit Keanu Reeves in der Titelrolle (mehr schlecht als recht) verfilmt. Der Sprawl ist eigentlich ein Siedlungsbrei, hier bei Gibson handelt es sich aber um Besiedlung unter geodätischen Kuppeln, die nur Zwielicht durchlassen.

Die Hauptfigur Johnny ist ein Datenkurier für die Unterwelt. Diesmal hat er in seinen implantierten Zusatzspeicher im Hirn ein unbekanntes, offenbar geraubtes Programm eines Konzerns geladen, das der japanischen Untergrundorganisation Yakuza gehört. Dumme Sache, dass er das nicht wusste. Als er Ralphie Face, den Mittelsmann zur Yakuza, ausschaltet, hilft ihm eine mit ausfahrbaren Stahlkrallen aufgerüstete Lady namens Molly Millions, im Zweikampf gegen den Killer der Yakuza zu überleben. Ihr Showdown findet unter den Kuppeln von Nighttown statt …

Mein Eindruck

Molly taucht auch in Gibsons Roman „Neuromancer“ auf, um dem Helden zu helfen. Die Verschmelzung von moderner elektronischer Technik mit dem primitiven Fleisch und Hirn des Menschen ist in Nighttown, wo alles halb illegal ist, schon weit fortgeschritten. Der Yakuza-Killer hat ein Daumenimplantat, Johnny einen Speicherchip im Kopf, Molly implantierte verspiegelte Brillengläser (und die bekannten Stahlklingen in den Fingerspitzen).

Auch Tiere werden als Quelle herangezogen: ein kybernetisch aufgerüsteter Delphin namens Jones liefert Johnny den Zugangscode zum Speicherinhalt, den die Yakuza in ihm abgelegt hat. (SQUIDs sind supraleitende Quantum-Interferenz-Detektoren und spüren digitale Inhalte durch schwache Magnetfelder auf.) Schließlich noch die Low-Techs unter der Kuppel von Nighttown: mit Dobermanngebissen aufgerüstete junge Männer, die auf primitive Technik stehen. Sie halten bereits Johnnys antike Feuerwaffe für dekadent.

Schon hier zeigt sich Gibsons meisterliche Kunst, mit wenigen Szenen eine Stimmung, ein Gefühl für den Ort und seine Bevölkerung aufkommen zu lassen. Diese erste Story ist sehr actionbetont und relativ kurz, reißt den Zuhörer aber mit Höchstgeschwindigkeit ins Sprawl-Universum mit. Rette sich, wer kann! Entweder hält man das Tempo mit oder man lässt es bleiben. Denn die weiteren Storys sind noch anspruchsvoller.

2) New Rose Hotel (1982)

Auch diese Sprawl-Story wurde verfilmt: 1998 von Ausnahmeregisseur Abel Ferrara, u. a. mit Christopher Walken, Willem Dafoe, John Lurie, Asia Argento und Annabella Sciorra etc. Der Film beschreibt wie die Story den Alptraum der Globalisierung, ist aber auch eine Lovestory.

Der japanische Multi Hosaka hat den Mittelsmann Fox (Chr. Walken) engagiert, um einen wichtigen Genforscher der Konkurrenzfirma Maas Biolabs GmbH abzuwerben und sicher in einem Hosaka-genehmen Labor in Marrakesch unterzubringen. Der Ich-Erzähler (W. Dafoe) ist Fox‘ Assistent, und hat sich in die japanisch-eurasische Hosaka-Agentin Sandii (A. Argento) verliebt. Sie soll als Lockvogel für den Forscher Hiroshi dienen. Alles klappt offenbar: Hiroshi läuft in Wien über. Allerdings spielt, wie sich herausstellt, Sandii ein doppeltes Spiel: Zu spät wird bemerkt, dass sie von Maas Biolabs abgeworben wurde und dem neuen Topforscher ein Meningitisvirus untergejubelt hat.

Da Hosaka diese Sabotage überhaupt nicht witzig findet, müssen nun sämtliche Mittelsleute dran glauben, allen voran Fox. Aber auch der Ich-Erzähler wird gejagt, und wir erleben seine letzten Lebensminuten im New Rose Hotel am Flughafen von Barita in Tokio. Doch sie werden ihn nicht kriegen, denn er hat immer noch Sandiis billige chinesische Pistole, die er an die Schläfe hebt …

Mein Eindruck

In dieser Geschichte spielen Erinnerungen und Vergleiche eine wesentliche Rolle. Mit diesen Stilmitteln gelingt es dem Autor, eine wehmütige romantische Stimmung zu erzeugen, die charakteristisch ist für die letzten Lebensmomente des Ich-Erzählers. Er spricht durchweg Sandii mit Du an, als wäre sie noch bei ihm. Doch er verfügt nur noch über ihren mobilen PC, ihre Makeup-Utensilien – und ihre billige chinesische 22er-Pistole.

Die Wehmut wird unterfüttert mit den vielen Aufenthalten in dem „alten Europa“: Wien, Barcelona, am Rhein, in Berlin, Paris usw. Ein sterbender Kontinent, ein totes Theater, das ist Europa. Die Musik spielt in Asien und in Kalifornien (Indien hat Gibson nicht auf der Rechnung). Hier entsteht die Hightech der Zukunft: Bio- und Gentechnologie, Elektronik, Informatik, Designerdrogen usw. Menschen sind nur noch Agenten und Spielzeuge. Es ist ein kühle Welt, und was hat die Liebe darin verloren? Das fragt sich auch der von Liebe getäuschte Held auf der Endstation New Rose Hotel.

3) Chrom brennt (1982; veröffentlicht 1985)

Diese dritte Sprawl-Story ist die mit Abstand beste.

Im Mittelpunkt stehen die zwei Hacker Bobby Quine und Automatic Jack; Letzterer ist der Ich-Erzähler, ein Typ mit einem künstlichen Arm. Ihre nicht ganz legale Tätigkeit besteht im Eindringen in durch EIS geschützte EDV-Systeme von Organisationen (EIS: Elektronisches Invasionsabwehr-System). „Chrom“ ist ihr neuestes Ziel, ein hypermodernes Bordell. Im Cyberspace sieht das System aus wie ein Kindergesicht, doch mit stahlglatten, kalten Augen.

Getarnt als Finanzamt-Buchprüfer und legale Telefongespräche dringen die beiden Hacker in Chrom ein, gerüstet mit einem russischen Militärvirenprogramm, das keine Gnade kennt. Sind sie drin, wollen sie die Unsummen von Geld, die ihnen in die Hände fallen, auf geeignete Konten transferieren. Keiner soll das Geld zu ihnen zurückverfolgen können. Die Vorbereitungen dauern über sechs Wochen und machen sie fast pleite.

Und wofür das alles? Nicht für Macht, not for fun, sondern – wie romantisch! – für ein Mädchen. Rikki Wildside nennt Bobby sie, und für ihn ist sie sein neuester Joker, sein Gral, sein Orakel, ein Lebensgrund. Aber auch Automatic Jack hat einiges für sie übrig, wovon Bobby nichts weiß. Die hübsche 19-jährige Rikki will unbedingt ein SimStim-Star werden (Simulierte Stimuli), doch dafür braucht sie noch den richtigen, aber sauteuren Satz künstlicher Augen von Zeiss-Ikon. Bobby & Jack würden ihr die Ikons bezahlen und dann könnte sie in Hollywood ein SimStim-Star werden wie ihre Idole.

Doch die beiden wissen etwas zu wenig über ihre Teilzeitgeliebte. Und so gucken die beiden schließlich dumm aus der Wäsche, als sie erfahren, wohin Rikki nach dem Coup verschwunden ist. Aber Jack ist kein Unmensch. Er zahlt ihr den Rückflug von Tokio aus. Ob sie je zurückkehrt?

Mein Eindruck

Die Story ist nicht nur romantisch, sondern auch enorm spannend. Das liegt an der raffinierten Erzählstruktur. Das Eindringen ins EIS von „Chrom“ wird nicht in einer einzigen Szene erzählt, sondern häppchenweise eingeflochten in die so genannte Backstory, die Vorgeschichte. Daher ist man neugierig darauf, ob der Riesencoup gelingt.

In dieser Story ist der Begriff des „Cyberspace“ genau wie in „The Matrix“ definiert: als kollektive konsensuelle Halluzination, in der der Erlebende die Wahrnehmung nicht von einem Traum unterscheiden kann – und es auch nicht will.

Der Titel „Burning Chrome“ ist ein Meisterstück der Vieldeutigkeit. Natürlich lässt er sich mit „Chrom brennt“ übersetzen, aber auch mit „brennendes Chrom“ und „Chrom verbrennen“. Und wenn man sich die beiden Anfangsbuchstaben wegdenkt, wird etwas Zivilisationskritisches daraus: „Rom verbrennen“ und „Das brennende Rom“. Das wiederum bringt den Literaturkenner zu T. S Eliots epochalem Gedicht „The Waste Land“, in dem Karthago von Rom niedergebrannt wird. Ergo: Bei Gibson schlagen die Karthager zurück.

Die Inszenierung

Der Sprecher

David Nathan ist ja in der Hörspielszene als Hacker T. Rex gut eingeführt, schließlich ist das die Hauptfigur in der Serie [„Offenbarung 23“. 4554 Mit diesem Image und den entsprechend coolen Sprüchen passt er optimal zu den Erzählern in den drei Storys. Aber er lässt es natürlich nicht bei coolen Sprüchen bewenden – das könnte ja jeder. Nein, auch der Werbesermon des Finnen, bei dem Jack das russische Programm kauft, klingt authentisch: höher, lässig, aber auch drängend. Fox hingegen ist der lässige Mann von Welt, außer wenn es um einen Mann geht, der ihm am Herzen liegt. Dann wird er nervös. Und wie sich zeigt, hat Fox allen Grund zur Sorge. (Das wäre die optimale Rolle für Willem Dafoe, man denke an „Spider-Man“.)

Frauen wie Molly Millions, Sandii und Rikki Wildside sprechen grundsätzlich in einer höheren Tonlage, was ja wohl naheliegt. Während Rikki jedoch die junge Unschuldige spielt, ist Molly ihr genaues Gegenteil: hinterlistig, abgebrüht, auch den Punkt kommend. Aber sie hat auch Zeit für Erklärungen, so etwa, wenn sie Johnny die Besonderheit des Delphin-Cyborgs Jones erklärt.

Geräusche

Es gibt auch Geräusche, doch anders als die Musik bleiben sie im Hintergrund: Startgeräusche von Flugzeugen auf Narita, dann wieder ein Helikopter im Suchflug, der nach dem namenlosen Ich-Erzähler in „New Rose Hotel“ forscht. Weitere Soundeffekte sind in „Chrom brennt“ zu hören, darunter ein bedrohlich klingender Bass-Sound.

Die Musik

In einem so elektronisch bestimmten Milieu wie in „Cyberspace“ bietet es sich an, auch die Musik elektronisch zu erzeugen. Hier hat sich jedoch kein Tastenstar wie Keith Emerson oder Rick Wakeman verewigt – das wäre wohl der künstlerische Overkill geworden. Nein, die immer wieder wiederholten musikalischen Motiven sind relativ schlicht – mal meditativ wie hallende Gitarrensaiten, dann wieder dynamisch wie kleine Trommeln. Jede Phase im Hacker-Angriff von „Chrom brennt“ wird von solcher Musik eingeleitet. Man weiß nie, was als nächstes kommt und ob der Angriff erfolgreich enden wird. Das erhöht die Spannung erheblich und trägt zur überzeugenden Wirkung des Vortrags dieser Story bei.

Das Booklet

Frank P. Erben belegt mit den Informationen über William Gibson und den Begriff des Cyberspace u. a. auch die Begriffswurzel bei Stanislaw Lem. Aber er behauptet, die „Konsens-Halluzination“ erforderte das „physische Eindringen“, doch meines Erachtens betreten nicht die Körper, sondern nur die Bewusstseine der Besucher den Cyberspace. Sonst würden ja eine Menge Leute verschwinden, oder? Erben weiß jedoch auch das Internet und dessen Bloggosphäre vom Cyberspace zu scheiden, so dass man es versteht. An einer Stelle schreibt das Booklet „Newromancer“ statt „Neuromancer“. Ich hoffe, dieser Schnitzer geht nicht auf seine Kappe.

Am Schluss finden sich noch Informationen zum Sprecher und den Mitwirkenden am Booklet. Dass Simon Jaspersen aber nicht nur für das Lektorat bei |DAV| zuständig war, sondern auch für die Regie bei der Aufnahme, erfährt der Hörer nur durch die Absage am Schluss der zweiten CD.

Unterm Strich

„Cyberspace“ bietet drei klassische Science-Fiction-Storys, die selbst noch heute hart an der vordersten Front der digitalen Revolution stehen, zumindest in „Der mnemonische Johnny“ und „Chrom brennt“. In „New Rose Hotel“ geht es um Konzernkriege, die das Überlaufen eines Bio- und Gentechnikers involvieren. Ist der Cyberspace heute schon Realität, fragt sich so mancher und verweist gerne auf die Plattform „Second Life“. Doch was dort an Ästhetik und Technik geboten wird, ist noch recht armselig, obwohl die Grundrichtung stimmt. Von einer Konsens-Halluzination ist man aber noch ein gutes Stück entfernt, denn dabei müsste der Nutzer die Kontrolle ans System abgeben – und wer traut sich das schon?

Was mich aber an den Storys immer wieder fasziniert, ist die globale Perspektive. Die Helden jetten von einer Stadt zur nächsten, besonders in „New Rose Hotel“, oder sie begeben sich in ihrer Nachbarschaft ins Rotlicht- und Barviertel. Dort treffen sie Gestalten aus aller Herren Ländern und aus zahlreichen sozialen Schichten. Dass die Gestalten meist auch genetisch, kybernetisch oder geschlechtlich aufgemotzt (optimiert) sind, gehört einfach dazu – und ist heute in Asien oder San Francisco durchaus schon en vogue.

Der multikulturelle Aspekt war für die Sciencefiction der achtziger Jahre bedeutend. Dies befreite die SF aus ihrer amerikazentierten Perspektive, in die sie das „Goldene Zeitalter der SF“ geführt hatte. Solche Geschichten, wie Gibson sie schrieb, hätten gut auch in dem Techno-Lifestyle-Magazin |WIRED| stehen können, nicht nur in den SF-Zeitschriften |OMNI| oder |Astounding|. Heute ist der größte Teil von SF multikulturell, und das betrachte nicht nur ich als Vorteil, denn auch der Markt für SF-Literatur und andere Medien ist global geworden. Es ist bereits ein Luxus, nur über seine nahe Umgebung zu schreiben, selbst wenn sie Berlin heißen sollte.

Das Hörbuch

Das Hörbuch präsentiert durch David Nathans Vortrag eine stimmungsvollere Fassung der klassischen Texte. Endlich kann man sich den traurigen Ich-Erzähler in „New Rose Hotel“ als Verfolgten an der Endstation vorstellen, der seiner Freundin nachtrauert. Und Automatic Jack ist ein feiner Kerl: technisch voll drauf, aber mit einem Herzen aus Gold (dem es ebenfalls prompt gebrochen wird). Noch cooler geht es kaum, aber das ist in „Der mnemonische Johnny“ der Fall, wo Molly Millions mit den Fingerklingen ihren fabelhaften Auftritt hat. Die elektronische Musik untermalt das Ambiente und die Story angemessen, aber nie aufdringlich, und hier und da lassen sich sogar Geräusche vernehmen.

Das Hörbuch ist keine schlechte Umsetzung der Vorlagen, und ich könnte mir bei weitem lieblosere Gestaltungen vorstellen. David Nathan ist die optimale Besetzung für den Erzähler in den Geschichten, denn er hat ja schon aus „Offenbarung 23“ das Image des Hackers. Sein Vortrag ist angemessen cool, aber nie abgebrüht wie in einem Chandler- oder Hammett-Krimi. Mit seinen Figuren können wir uns identifizieren, auch wenn sie noch so abgefahrene Sachen tun.

CD: 142 Minuten auf 2 CDs.
Originaltitel: Burning Chrome, 1986
Aus dem US-Englischen übersetzt von Reinhard Heinz.
ISBN-13: ‎9783898137485.

http://www.der-audio-verlag.de

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