_Das geschieht:_
In diesen fiktiven letzten Jahren des 20. Jahrhunderts sind die USA schon vor etwa drei Jahrzehnten auseinandergebrochen. Unzählige Stadtstaaten sowie kleine und kleinste Territorien haben sie mehr oder weniger ersetzt. Sie werden von ideologisch oft extremen Splittergruppen beherrscht, die einander bekämpfen, Bündnisse schließen, in neue Fraktionen zerfallen und insgesamt für eine Gegenwart ohne übergeordnete Strukturen sorgen.
Im ehemaligen Großraum San Francisco genießt das „Private Inquiry Office“ eine gewisse Neutralität als vermittelnde Instanz, die von den meisten Gruppen akzeptiert wird. Die Mitarbeiter des PIO können gerufen werden, wenn das fragile Gleichgewicht der unterschiedlichen Kräfte gar zu sehr in Gefahr gerät. Aktuell sorgt eine Gruppe namens „Männermord“ für Unruhe. Unter der Führerschaft der mysteriösen „Lady Day“ überfallen, entführen und töten radikale Feministinnen Männer in einflussreichen Positionen.
Jim Haley begibt sich im Auftrag des PIO auf einen riskanten Außeneinsatz. Er soll Lady Day identifizieren und ihr Hauptquartier lokalisieren. Seine Mission verwandelt sich in eine irrwitzige Odyssee durch ein Land, das durch Anarchie und Chaos gekennzeichnet wird. Wo die „echte“ Mafia gegen die „Amateur-Mafia“ kämpft, Neo-Trapper sich Musketen-Gefechte mit afro-amerikanischen Klassenkämpfern liefern oder Überlebende des FBI ein Hotel nach geheimdienstlichen Vorschriften führen, bleibt Haley, der sich zwischenzeitlich in die schöne aber undurchsichtige Janey verliebt hat, hartnäckig auf seiner Spur, um schließlich die allgemeine Verwirrung auf einen neuen Höhepunkt zu treiben …
_Das Ende als neuer Anfang vom Ende_
Nach dem II. Weltkrieg schien in den USA nur der Himmel die Grenze des Machbaren darzustellen – und dies nur vorläufig, denn Anfang der 1960er Jahre verkündete Präsident Kennedy, es würden spätestens am Ende des Jahrzehnts Amerikaner auf dem Mond stehen; ein Vorhaben, das bekanntlich glückte. Ohne die Kommunisten wäre das Leben – zumindest für die Fleißigen, Angepassten & nicht Ausgegrenzten – mit Jobs im Überfluss, ökonomischer Weltherrschaft und Automobilen, die mehr als 20 Liter Sprit pro 100 km verbrauchen durften, das Paradies auf Erden gewesen.
Aber in diesen 1960er Jahren begann das scheinbar selbstzufrieden in sich selbst ruhende US-Imperium Risse zu zeigen. Alte Probleme waren nie gelöst, sondern nur verdrängt worden, neue kamen hinzu. Vor allem die Jugend ließ sich nicht mehr disziplinieren bzw. drangsalieren. Rassendiskriminierung, Krieg in Vietnam, bürgerkriegsähnliche Unruhen in zahlreichen Städten: Es gärte in den USA, während gleichzeitig alternative Lebensmodelle entstanden. Die Hippie-Bewegung fand das Interesse der Medien, aber das Aufbrechen als überkommen empfundener Alltagsmodelle wurde nicht nur von den Blumenkindern exerziert. Konservativ und progressiv, friedlich und paramilitärisch, anarchistisch und faschistoid: Diese Gruppen deckten das gesamte politische und soziale Spektrum ab.
Dass es nicht mehr so weitergehen konnte wie bisher, dämmerte auch jenen, die Angst vor Veränderung hatten. Spätestens die Ölkrise des Jahres 1973 kündigte das Ende des immerwährenden Aufschwungs an. Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung blieben keine Schlagwörter leicht zu ignorierender Öko-Freaks mehr, sondern wurden bittere Realität.
|Die Zukunft im Mixer der Gegenwart|
In einer so in Bewegung geratenen Gegenwart schuf Ron Goulart 1970 die „Fragmented-America“-Serie, deren erster Band „Als alles auseinanderfiel“ wurde. Goulart griff die herrschenden Verhältnisse und Umbrüche auf, mischte und extrapolierte sie. Es entstand ein „moderner“ Science-Fiction-Roman, der nicht mehr den menschlichen Triumphzug durch das Weltall feierte, sondern sich auf die alltäglichen Probleme des Heimatplaneten konzentrierte.
Um 1970 schien der Zusammenbruch der „alten“ Ordnung durchaus möglich. Was geschähe, sinnierte Goulart, wenn es tatsächlich dazu kommen sollte? Wie könnte das Leben aussehen, würden die neuen, idealistischen Gruppen die Macht übernehmen? Als ernsthafter Visionär sah der Verfasser sich dabei nicht; diese Rolle überließ er anderen Schriftstellern. Goulart betrachtete sich als Satiriker, der die mögliche Zukunft überspitzt darstellen wollte. Auf diese Weise konnte er einerseits Grenzen ignorieren, während er andererseits ein größeres Publikum erreichte: Kritik wird problemloser zur Kenntnis genommen, wenn man sich dabei amüsieren kann. Ohnehin verschmäht Goulart auch den einfach „nur“ witzigen Effekt nicht, wenn er von Nudisten-Rabatten, an die Presse verkauften Aufständen oder widerspenstigen Robotern fabuliert.
|Die Schlange beißt sich in den Schwanz|
Goulart kommt in „Als alles auseinanderfiel“ zu dem Schluss, dass der Mensch nichts dazulernt. Die neue Welt ist trotz ihrer seltsamen Auswüchse grundsätzlich die alte geblieben. Faktisch treten höchstens Wesenszüge wie Hab- und Machtgier, Inkompetenz, Fanatismus oder Verblendung stärker hervor. Der Staat ist ein Kompromiss, der die gröbsten Spitzen politischer, juristischer oder kultureller Seitenwege nivelliert. Das „fragmentierte Amerika“ ist demgegenüber ein Konglomerat eigenbrötlerischer Splittergruppen, deren Handeln demonstriert, dass sie vor allem die eigenen Vorstellungen verwirklichen wollen. Sie haben keine Probleme damit, dies auf Kosten anderen und außenstehender Menschen zu tun. Das einende Element scheint dem Verfasser die allgegenwärtige Bestechlichkeit zu sein.
Als Autor vertritt Goulart eine zumindest latent konservative Haltung. Ohne zentrale Ordnungsmacht oder -kraft bricht das Chaos aus. Auf die Idealisten oder gar die selbst ernannten Retter darf man nicht zählen. Stattdessen bekommen alte Krisengewinnler wieder Oberwasser. Jim Haley führt uns durch diese aus den Fugen geratene Welt wie einst Alice durchs Wunderland. Der Plot ist Nebensache, die Suche nach der „Lady-Day“-Bewegung hält die Handlung nur in Gang. Haley soll mit möglichst vielen Gruppen Kontakt aufnehmen, um dem Leser die Heterogenität dieser Zukunft vor Augen zu führen.
Das in der SF oft dominierende technische Moment dient Goulart höchstens als Verstärker in der Darstellung des allgemeinen Durcheinanders. Von Hightech ist in diesem Amerika keine Rede mehr. Goulart liebt Geräte und Roboter, die ihre Funktionalitäten quasi ins Gegenteil verkehrten und dem Menschen nicht Diener, aber auch nicht Herren, sondern in erster Linie lästig sind. Sie unterstreichen das Chaos, in das sie sich so problemlos fügen, dass man sie – zumindest im Fall der Roboter – von den Menschen kaum noch unterscheiden kann.
|Chaos endet – vorläufig|
„Als alles auseinanderfiel“ unterhält heute primär als oft altmodische aber grundsätzlich noch funktionierende Geschichte. Der Humor ist hauptsächlich trocken und konnte sich ebenfalls erhalten. Viele der von Goulart karikierten Missstände haben im Kern ihre Daseinsberechtigung bewahren. Was von der Zeit eingeholt wurde, amüsiert als Gruß einer vergangenen Zukunft. Der historisch bewanderte Leser freut sich darüber hinaus über das geistreiche oder wenigstens gelungene Spiel mit historischen Realitäten.
Das politische und kulturelle Tauwetter währte in den USA keine zehn Jahre. Es endete spätestens 1981 mit der Präsidentschaft Ronald Reagans, der perfekt die Rückkehr zu den „alten Werten“ symbolisierte. In genau diesem Jahr schloss Ron Goulart seine „Fragmented-America“-Serie mit ihrem fünften Band ab. Zu diesem neuen Amerika fiel ihm offenbar nichts Komisches mehr ein.
_Autor:_
Ron Goulart wurde am 13. Januar 1931 in Berkeley im US-Staat Kalifornien geboren. Der Sohn eines Fabrikarbeiters studierte an der Universität ebendort und ging anschließend in die Werbung, was für seine spätere Aktivität als Schriftsteller prägend wurde. Schon 1952 erschien mit „Letters to the Editor“ eine erste Science-Fiction-Story, doch es dauerte bis 1960, bevor Goulart Vollzeit-Autor wurde.
Als solcher beschränkte er sich keineswegs auf die Phantastik, sondern veröffentlichte auch zahlreiche Kriminalromane. Goulart textete außerdem für Comics wie „Vampirella“ und „Star Hawks“. Unter diversen Pseudonymen schrieb er darüber hinaus für Serien wie „Avenger“ (als Kenneth Robeson), „Flash Gordon“ (als Con Steffanson), „Phantom“ (als Frank S. Shawn) oder „Kampfstern Galactica“ und griff William Shatner hilfreich beim ersten Band der „TekWar“-Serie unter die Arme.
In denjenigen SF-Romanen und Kurzgeschichten, die unter seinem eigenen Namen erschienen, gab Goulart sich gern satirisch oder wenigstens humorvoll. Vor allem Maschinen mit Fehlfunktionen haben es ihm angetan, doch Goulart vermag auch den Wahnsinn im „Menschen“ heraufzubeschwören, wie er mit seiner sehr beliebten Serie um das Chamäleonkorps bewies, dessen Mitglieder ihre Gestalten verändern können, was ihnen ermöglicht, auch und gerade bizarre Missionen zu übernehmen.
|Taschenbuch: 160 Seiten
Originaltitel: After Things Fell Apart (New York : Ace Books 1970)
Deutsche Erstausgabe: 1973 (Wilhelm Goldmann Verlag/Goldmann SF 0180)
Übersetzung: Jürgen Saupe
Cover: Ron Kirby
ISBN-13: 978-3-442-23180-5|
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