Keillor, Garrison – Nichts wie weg!

Garrison Keillor kehrt zurück nach Lake Wobegon, der Kleinstadt irgendwo im US-Staat Minnesota, die es leider aufgrund gewisser historischer Fehlentscheidungen nicht auf die Landkarte geschafft hat. So bleiben die Bürger meist unter sich, was ihnen nur lieb ist, je weiter die Schere zwischen Gegenwart und Fortschritt schließt.

Viel zu rasch schreitet das Leben nämlich nach Ansicht vor allem der älteren Einwohner voran. Das kann nichts Gutes bringen, denn Sicherheit bietet allein das Festhalten am Bewährten. Gibt es darüber hinaus Fragen, so stehen für die Lutheraner Pastor Ingquist und für die Katholiker Pater Emil bereit, denn die Bibel kennt Rat für alle Lebensprobleme, auch wenn die Konfessionen die Kenntnis der eigentlichen Wahrheit für sich beanspruchen; besonders Pater Emil hat viel von einem frühchristlichen Missionar an sich.

Aber so wird es gewünscht in Lake Wobegon: Man unterwirft sich den Autoritäten, die deshalb gefälligst Respektspersonen zu bleiben haben. Der Mensch ist schwach, der Versuchungen gibt es viele. Lebensfreude gilt daher als verdächtig. Spaß ist gestattet, wenn die Arbeit getan ist und er von besagten Autoritäten geprüft und freigegeben wurde. Dem echten Bürger von Lake Wobegon ist er trotzdem unheimlich, zumal er oder sie in dieser Stadt niemals ohne Aufsicht bleibt.

Lake Wobegon ist ein Aquarium, dessen Fische die vertraute Umgebung höchst ungern verlassen. Die Krebsbachs, Thorvaldsons, Lundbergs oder Bunsens sind nicht einfach nur Familien, sondern Dynastien, die auf eine anderthalb Jahrhunderte alte Geschichte zurückblicken – eine Zeit, die sie gemeinsam verbracht haben, was zu endlos verflochtenen Stammbäumen geführt hat, die freilich von den älteren Angehörigen problemlos hinuntergebetet werden können.

So geschieht für Außenstehende quasi rein gar nichts in Lake Wobegon, was von den Bürgern freilich gänzlich anders beurteilt wird. Aus diesem Kontrast entsteht die aus dem ersten „Lake Wobegon“-Band (Goldmann-TB Nr. 42234) bekannte und beliebte Komik, in die sich Wiedersehensfreude mischt, treffen wir doch alle lieb gewonnenen, weil skurrilen und verschrobenen Gestalten wieder und lernen sogar einige neu kennen.

„Es war eine stille Woche in Lake Wobegon“ – So beginnt jede der 36 in diesem Band versammelten Erzählungen. Sie tragen zunächst abschreckende Titel wie „Ein Glas Wendy-Bier“, „Hühner“ oder „Das Hochhaus“, die von Banalitäten künden und rührseligen ‚Auf-dem-Land-ist-alles-besser-‚Kitsch androhen. Einerseits zutreffend, andererseits weit gefehlt. Jawohl, es geht um Kleinigkeiten wie den Genuss eines sehr speziellen Biers, das Problem, ein geköpftes Huhn einzufangen, die Wahl eines neuen Wohnsitzes bzw. die trickreiche Verhinderung derselben. Für die Bürger von Lake Wobegon sind dies aber lebenswichtige Fragen. Verfasser Keillor weiß dies. Er nimmt seine Figuren ernst und stellt sie niemals bloß – eine angenehme Abwechslung in einer Gegenwart, die zunehmend Humor mit Klamauk und Schadenfreude gleichsetzt.

Doch hier haben wir es mit echtem Humor zu tun – leise schleicht er sich heran, um den Leser umso heftiger ins Zwerchfell zu springen. Fast sachlich – als echter Chronist eben – beschreibt der Verfasser sein Städtchen und dessen Bewohner. Der Witz entsteht aus dem Widerspruch, der daraus entsteht, dass die Menschen in Lake Wobegon eine sehr exotische Weltsicht haben. Reizvoll ist dabei, dass sie zwar Hinterwäldler, aber keine Rednecks sind, sondern eigenwillige Querdenker. Sie finden für Probleme, die im Grunde keine sind, Lösungen, mit denen man so nie gerechnet hätte.

Wobei hinter dem scheinbar Banalen immer wieder die Realität durchschimmert. Selbstverständlich kann man sich das Lachen nicht verbeißen, wenn Pater Emil wieder einmal seine sündhaften Schäfchen strammstehen lässt. Doch man erkennt auch die Tricks, derer er sich in Vertretung seiner Kirche dabei bedient: Religion à la Lake Wobegon ist auch ein Produkt taktisch eingesetzter Manipulation – natürlich nur zum Besten der Betroffenen, was freilich das Perfide des Systems um so deutlicher werden lässt.

Solche Regeln, die meist Einschränkungen sind, prägen generell das Leben in Lake Wobegon und machen es erst zu dem seltsamen Ort, über den wir, die wir dort nicht leben (müssen), uns so amüsieren. Da ist es nur gut und gerecht, dass auch jene, die an den Strippen ziehen, von der Lex Lake Wobegon nicht ausgenommen sind. Ob Pater, Polizist oder Schuldirektor – sie fangen sich ebenso häufig in den Fallstricken. Das Dorfleben ist da unerbittlich.

Dieser Humor ist still aber stets gegenwärtig. Man kann den Verfasser nur aus tiefem Herzen bewundern, mit welcher Kunst er Wort an Wort, Satz an Satz setzt, ohne die Lake-Wobegon-Atmosphäre jemals zu zerstreuen. Stattdessen macht er sein Publikum süchtig. Man möchte immer weiter und neue Geschichten lesen. Kein Wunder, dass Garrison Keillor sie – glückliches Amerika! – in seiner schon klassischen Radioshow „A Prairie Home Companion“ (s. u.) immer wieder erzählen muss.

Garrison Keillor wurde 1942 im Städtchen Anoka geboren. Es dauerte lange, bis er seinem geliebten und verhassten Heimatstaat entkam. Zunächst schaffte er es jedenfalls nur bis zur Universität von Minnesota, wo er auch seinen Abschluss im Fach Journalismus machte. Hier war es auch, wo er seine lebenslange Liebe zum Radio entdeckte und erste Features über den Äther schickte.

1969 wurde Keillor Journalist und arbeitete für den „New Yorker“. Fünf Jahre später schrieb er einen Artikel über die dortige Oper. Dies inspirierte ihn dazu, zum Radio zu wechseln, wo er eine Liveshow ins Leben rief: „A Prairie Home Companion“ wurde vor Publikum aus einem Theatersaal ausgestrahlt. 13 Jahre lief die Show, dann wechselte Keillor nach New York und startete „The American Radio Company“. Nach vier höchst erfolgreichen Jahren nannte er das Programm wieder „A Prairie Home Companion“. 2006 setzte Regisseur Robert Altman ihm im gleichnamigen Film – seinem letzten – (dt. „Robert Altman’s Last Radio Show“) ein würdiges Denkmal. Allerdings läuft die Show in Wirklichkeit weiter. (Dazu gibt es eine fabelhafte Website: http://prairiehome.publicradio.org.)

Als Schriftsteller hat Keillor bisher Bücher mit geistreichen und amüsanten Geschichten gefüllt, die längst nicht nur um Lake Wobegan, sondern um die generellen Höhen und Tiefen des Lebens kreisen. Dazu kommen drei Kinderbücher, Gedichte und Hörbücher. Garrison Keillor lebt in New York. Er ist verheiratet mit der Violinistin Jenny Lind Nilsson, mit der er eine Tochter hat.

Garrison Keillor findet man im Internet u. a. unter http://www.mindspring.com/~celestia/keillor.

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