Massaron, Stefano – toten Kinder, Die

Wenn man mich fragt, welches zu rezensierende Buch ich in diesem Jahr am liebsten gelesen habe, dann gibt es nur eine Antwort: „Die toten Kinder“ von Stefano Massaron.

Wie? Nie davon gehört? Das sollte sich aber schnell ändern …

Schauplatz des Romans ist Mailand im Sommer 1977, genauer gesagt die Arbeitersiedlung der „Bienenstöcke“, wie die alten Hochhäuser überall genannt werden. In den Bienenstöcken wohnt auch eine Bande von Kindern zwischen neun und zwölf Jahren, deren Lieblingsspielort ein alter Schrottplatz ist. In dem Koloss aus Eisen, welcher den Hauptteil des Schrottplatzes ausmacht, haben sie ihre kleine Höhle. Doch ihr Frieden wird bedroht, als ein kleines Mädchen geschändet und erschlagen auf dem Schrottplatz gefunden wird. Für Carmine, den Anführer der Bienenstockbande, ist der Täter sofort klar. Der Sabberer, ein harmloser Geisteskranker, soll die kleine Magherita vergewaltigt und ermordet haben. Doch Carmine irrt, denn wenig später wird seine eigene Schwester entführt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Allerdings steht nicht Carmine im Vordergrund, so wie das vielleicht in der Beschreibung anmuten mag. Vielmehr ist es Sandro, aus dessen Sicht – sowohl 1977 als auch 2003 – erzählt wird, und es ist Cinzia. Sandro ist in Cinzia, die kratzbürstige Streberin, die Carmine offen die Stirn bietet, verliebt, was ihn gleichzeitig von den anderen isoliert. Im Jahr 2003 sehen die beiden sich endlich wieder – nachdem die Vergangenheit die beiden eingeholt. Sandro kommt damit nicht zurecht und verspürt den Drang, nicht nur zu rekapitulieren, sondern die Angelegenheit auch zu klären.

Neben diesen beiden Perspektiven erzählt Massaron aber auch subtil und meisterhaft aus der Sicht des Täters. Selbiger ist dem Leser von Anfang an bekannt und trotzdem schafft Massaron es, innerhalb der Handlung Spannung aufzubauen. Schon alleine die Frage, ob die Bienenstockbande Carmines Schwester retten kann, sorgt dafür, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen will.

Schuld daran ist auch der phänomenale Schreibstil des Italieners, der weit über das hinausgeht, was man bei seinen Kollegen sieht. Er macht die Worte und die Schrift geradezu zu seinen Sklaven. So kommt es, dass er zum Beispiel die Gedanken des pädophilen Täters wiedergibt, aber neben den „normalen“ Gedanken in Klammern auch noch die böse innere Stimme sprechen lässt. Ähnlich verfährt er mit den Erinnerungen, die Sandro lieber unterdrücken möchte.

Durch derartige Geschicklichkeiten, aber auch durch die raffinierten Perspektiven- und Zeitsprünge, die immer wieder für Brüche im Erzählfluss sorgen, gelingt es Massaron, ein überaus lebendiges Bild der Geschichte zu gestalten. Lebendig und spannend, denn die düstere Spannung ist allgegenwärtig, so wie das drohende Streichergewitter im Hintergrund eines guten Thrillers.

Doch Massaron macht sich nicht nur die Schriftform völlig zu Eigen und reichert es zudem mit Mails, Worddokumenten und Bautafeln an. Er verfügt auch über entsprechende rhetorische Mittel. Metaphern, grandiose Erinnerungen aus den Köpfen von Kindern, dazu Stilmittel wie Wiederholungen und Metaphern.

Was ebenfalls Beachtung verdient hat, ist Massarons Umgang mit seinen Protagonisten, allesamt im besten Alter, nämlich der Pubertät. Er schafft es, sie perfekt darzustellen, nämlich als Mittelwesen zwischen Kindheit und Jugend. Der Einfluss der Eltern ist noch unübersehbar, jedoch werden die Gleichaltrigen, vor allem die der eigenen Bande immer wichtiger, genau wie das andere Geschlecht.

Massaron schafft also das, woran viele Autoren schon verzweifeln, wenn sie nur eines der vielen Elemente, die der Italiener verwendet, zu einem Roman verarbeiten wollen. Kindheitserinnerungen, Pubertierende als Charaktere, ein Pädophiler, eine Thrillerhandlung und ein Schreibstil für die Götter. Was will man mehr? Hier ist alles in einem wunderbaren Buch versammelt, das man einfach lieben muss. Hier gewinnt das Wort „Kunst“ wieder an Bedeutung!

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