Shan Sa – Himmelstänzerin

Die junge chinesische Autorin Shan Sa, die als Aufsteigender Stern Pekings gefeiert wird, emigrierte nach dem so genannten Tian’anmen-Massaker im Juni 1989 nach Paris, wo sie auch heute noch lebt. Inzwischen veröffentlicht sie ihre Romane in französischer Sprache und wurde für das vorliegende Buch mit dem |Prix Goncourt du premier roman| ausgezeichnet. „Himmelstänzerin“ kann schon auf den ersten Blick durch seine ansprechende Optik begeistern, doch auch der zweite Blick ins Buch hinein überzeugt auf ganzer Linie.

Am 4. Juni 1989 steht Shan Sas Romanheldin, die junge Studentin Ayamei, unschlüssig auf dem Platz des Himmlischen Friedens, den das chinesische Militär stürmt, um gewaltsam die Studenten zu vertreiben, die den Platz seit Wochen besetzen. Ihr alter Schulfreund Xiao schreckt Ayamei auf und überredet sie zur Flucht, denn Ayamei war maßgeblich an den Studentendemonstrationen beteiligt und wird nun gesucht. Als Xiao auf der Flucht stirbt, realisiert Ayamei, in welcher Gefahr sie schwebt. Sie muss alleine weiter und wird des Nachts vom LKW-Fahrer Wang aufgesammelt, der sie mit sich nimmt und vor dem Militär verstecken will.

Doch ahnt Wang noch nicht, in welche Gefahr er seine eigene Familie damit bringt, denn die Suche nach Ayamei hat bereits begonnen. Der pflichtbewusste Soldat Zhao verfolgt die junge Studentin und will sie ihrer gerechten Strafe zuführen. Zhao kommt Ayamei immer näher, er befragt rücksichtslos Ayameis Familie, bis es dort zu einem schrecklichen Zwischenfall kommt. Allerdings bringt auch dies Zhao nicht von seinem Wege ab, sein einziges Ziel ist nach wie vor die Ergreifung Ayameis. Ein Tagebuch der rebellischen Studentin ist es schließlich, das Zhao zum Nachdenken bringt …

Im Mittelpunkt dieses gefühlvollen und ergreifenden Romans stehen zwei Figuren, die unterschiedlicher kaum sein könnten und die dennoch viel voneinander lernen können. Mit poetischen Worten beschreibt Shan Sa die Geschichte Ayameis, die schließlich überleben und den Soldaten entkommen möchte. Shan Sa hat Peking damals nach dem Tian’anmen -Massaker verlassen, doch spürt man auf jeder Seite, wie sehr sie dieses Thema immer noch bewegt. Es scheint, als möchte Shan Sa ihre traurigen Erinnerungen an dieses Ereignis in diesem Buch verarbeiten. Die Grausamkeit der Soldaten wird besonders deutlich, als Zhao und seine Kumpane Ayameis Familie befragen und dabei im wahrsten Sinne des Wortes sogar über Leichen gehen. Die Sympathien der Leser sind klar verteilt, sie liegen eindeutig bei Ayamei, die ständig auf der Flucht vor ihren Verfolgern ist.

Die Geschichte, die Shan Sa zu erzählen hat, könnte kaum dramatischer sein. Es scheint, als habe Ayamei praktisch keine Chance zur Flucht, denn die Personen, die ihr geholfen haben, müssen dies teuer bezahlen. Xiao lässt auf der Flucht sein Leben und Wangs Familie wird so lange bedroht, bis sie Ayameis Aufenthaltsort verraten müssen. Die Aussichtslosigkeit der Situation ist es, die den Leser tief erschüttert. Die stärkste Stelle im Buch ist allerdings der Fund von Ayameis Tagebuch, welches Zhao schließlich liest, um sein Opfer näher kennen zu lernen. Zhao ist bewegt von Ayameis Geschichte und fasziniert von der jungen Frau, die sich in den geschriebenen Worten wiederfindet. Die Erzählung im Tagebuch ist es, die Zhao zum Nach- und auch zum Umdenken bringt. Zum ersten Mal beginnt er, sein Tun zu hinterfragen. Dies ist der Moment, in der Zhao seine ersten Pluspunkte sammeln kann.

Shan Sa schafft es auf unglaublich faszinierende und packende Weise, uns ihre Romanheldin vorzustellen und näher zu bringen, sodass wir ihr alles Glück der Welt wünschen, damit sie ihren Verfolgern entkommen möge. Besonders faszinierend ist die Entwicklung, welche die Protagonisten im Laufe der Erzählung durchmachen. Bei Zhao ist es zunächst eine Neugierde, er möchte wissen, wen er eigentlich jagen und auffinden soll. Als er Ayameis Spuren verfolgt und ihr langsam immer näher kommt, ist es eine Faszination, doch als er schließlich ihr Tagebuch gelesen hat, kann er sich Ayamei kaum noch entziehen. Langsam beginnt Zhao, von Ayamei zu lernen. Aber auch Ayamei muss viel lernen in dieser kurzen Erzählung. Anfangs scheint es fast, als wäre sie in eine Demonstration hinein gestolpert, von der sie noch gar nicht ganz verstanden hat, worum es eigentlich ging. Sie erscheint uns naiv und unbeteiligt, doch wird sie uns dann als eine der Anführerinnen der rebellischen Studenten vorgestellt. Zu Beginn hat sie jedoch keinen Überlebenswillen, alles erscheint ihr gleichgültig, hier scheint sie die Bedrohung kaum registriert zu haben. Doch nach und nach wächst ihr Überlebenswille, am Ende ist nichts stärker als der Wunsch, ihren Verfolgern zu entkommen. So machen beide Hauptfiguren trotz der Kürze der Geschichte eine erstaunliche Veränderung mit.

Sprachlich ist „Himmelstänzerin“ äußerst angenehm zu lesen. Shan Sas Sprache ist poetisch und einfach nur wundervoll, besonders die Tagebucheinträge Ayameis sind sehr persönlich; hier lässt Shan Sa uns sehr nah an ihre Protagonistin heran. In den Einträgen erfahren wir etwas aus Ayameis Vergangenheit, von ihrer ersten großen (und unglücklichen) Liebe, über ihre Gefühle und auch über ihre Flucht vor den Soldaten. Nirgends lernen wir die junge Studentin so gut kennen wie in ihrem Tagebuch.

Insgesamt ist Shan Sa mit „Himmelstänzerin“ ein überzeugender – leider viel zu kurzer – Roman über zwei junge Menschen gelungen, die für das kämpfen und leben, woran sie glauben. Trotz des schmalen Buchumfangs erleben wir besonders bei Zhao eine erstaunliche Weiterentwicklung mit, die sehr zum Lesegenuss beiträgt. „Himmelstänzerin“ erzählt mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist, darin besteht die ganz besondere Faszination dieses schmalen Büchleins, das ich nur weiterempfehlen kann.

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