Aram Mattioli – Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700-1910

Ein Genozid im Panorama-Blick

Aram Mattioli erzählt die Geschichte Nordamerikas zwischen 1700 und 1910 aus der Sicht der „First Peoples“. Eingehend ergründet er die politischen Motive aller Seiten im erbarmungslosen Kampf um den Kontinent, der zur Vernichtung der Lebensformen und der Kultur der sogenannten „Indianer“ führte. (Korrigierte Verlagsinfo)

Der Autor

Aram Mattioli, 1961 geboren, lehrt als Professor für Neueste Geschichte an der Universität Luzern. Er studierte an der Uni Basel Geschichte und Philosophie, ist also kein Völkerkundler. International bekannt wurde er durch seine Forschungen zum faschistischen Italien und dessen Expansionspolitik in Afrika bis 1941. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Geschichte des indianischen Nordamerika. Er schreibt u.a. für DIE ZEIT. (Erweiterte Verlagsinfo)

Inhalte

1) Einleitung

Zunächst erzählt der Forscher von seiner eigenen Faszination gegenüber den Indianern und der Vorprägung durch Karl May und Western-Filme. Dieses Bild wurde durch Bücher wie „Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses“ (1972) erstmals in Zweifel gezogen und durch die Begegnung mit Forschern in Basel und anderswo gründlich revidiert. Damit reiht er sich ein in die Riege jener US-amerikanischen und europäischen Forscher, die in der Vernichtung der nordamerikanischen Völker kein notwendiges Übel oder gar einen gottgewollten Fortschritt sahen, sondern einen allumfassenden Genozid.

Dieser Begriff „Genozid“ jedoch, so muss Mattioli feststellen, lässt sich nicht anwenden. Die Definition des Begriffs lautet nämlich seit 1948 dahingehend, dass es sich um eine mehr oder weniger umfassende, aber von der jeweiligen REGIERUNG gelenkte Massenvernichtungsaktion handelt. Das ist allerdings nie der Fall gewesen, bei keiner einzigen US-Administration. Vielmehr wirkten unzählige Faktoren zusammen, darunter Hunger, Epidemien, Gewalttaten, Entzug der Lebensgrundlagen, Kulturvernichtung, Umerziehung und mehr.

Dass weder die Definition des 19. Jahrhunderts noch die des Genozids greifen, erfordert eine dritte Deutung. Wie diese aussieht, zeigt dieses Buch: Auch die indigenen Völker spielten eine aktive Rolle, eine, die sie bis heute überleben ließ.

Kapitel 1: 1700-1783

Amerika war weder wild noch leer, wie die Europäer immer wieder behaupteten (sogar noch Ende des 19. Jahrhunderts): Die Anasazi bauten 600 Jahre lang einen Pueblo nach dem anderen, bis es zu einer Klimaänderung kam. Die Stadt Cahokia im Mittelwesten war die größte Stadt nördlich von Mexiko, größer als das London jener Zeit um 1200. Sie verfügte über ein Netz von Handelswegen, das sie mit allerlei Waren aus dem Flusswegnetz des Mittelwestens versorgte. Erst 1513 landete der Spanier Ponce de Leon in Florida, danach wollte sein König ein neues spanisches Kolonialreich errichten, das sich von Kalifornien bis Florida erstrecken sollte.

Die First Peoples hatten zunächst nichts gegen Handelsposten, bei denen sie Felle gegen begehrte Metallgegenstände tauschen konnten: Axt, Messer, Kessel und vieles mehr. Damit konnten sie größere, stabilere Hütten gegen die bitterkalten Winter errichten, aber auch größere Kanus bauen. Zudem erlaubte es ihnen die verbessere Bewaffnung, erstmals richtige Kriege gegen ihre Nachbarn zu führen. Diese Kriegszüge dienten vor allem der Beschaffung von Sklaven, die sie nicht nur selbst gut gebrauchen konnten, sondern die sie auch an die Europäer der Kolonien verkaufen konnten. So kam es, dass sich etliche Indianer auf einmal als Sklaven in den karibischen Kolonien schuften sahen.

Die Sklavenjagd war deswegen so wichtig geworden, weil verschiedene von den Europäern eingeschleppte Krankheiten die Bevölkerung der Eingeborenen derartig dezimiert hatten, dass von ursprünglich 5 bis 10 Millionen Menschen nur noch etwa anderthalb Millionen übrigblieben. Die Seuchen begannen sich bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auszubreiten, als die Europäer noch keine einzige Stadt gegründet hatte. Santa Fé wurde 1607 gegründet, nach St. Augustine und vor Jamestown. Die Expedition des Spaniers Hernando de Soto 1539 bis 1543 entvölkerte ganze Landstriche im Südosten, was zu massiven Bevölkerungsverschiebungen führte.

Die sogenannten „Biberkriege“ endeten 1791 mit einem Friedensschluss, den die Franzosen eingeleitet hatte. Den Franzosen „gehörte“ Louisiana, das sich vom St.-Lorenz-Strom und den Großen Seen über Ohio und St. Louis bis nach La Nouvelle Orléans erstreckte, das heutige New Orleans (gegründet 1718). Von 1701 bis 1754 entstand der sogenannte Middle Ground, der sich westlich der Appalachen bis zu den Großen Seen erstreckte: eine Region des Gebens, Handels und Schenkens. Die Franzosen betrieben eine Politik der Inklusion, die nicht zuletzt der Christianisierung der Indianer diente.

Die Briten, die von Neu-England bis zu den Carolinas mit Land spekulierten (darunter ein gewisser George Washington) und lukrative Plantagen mit Tabak, Mais und später Baumwolle betrieben, vertraten eine Politik der Exklusion. Sie wollten das Land der Eingeborenen und brachen dafür unzählige Verträge wie den von Fort Stanwix (1768). 1754 griff eben jener Major George Washington das begehrteste Stück Land weit und breit an: das fruchtbare Ohio-Tal. Dieses jedoch war die Lebensader Louisianas. Die Angreifer wurden nacheinander zurückgeschlagen, denn schnell begriffen die Indianer, was die Briten vorhatten. Der Krieg dauerte parallel zum Siebenjährigen Krieg bis 1763, als die Welt neu verteilte wurde, ohne die Betroffenen auch nur zu fragen. Als die Indianer erfuhren, dass ihre Verbündeten, die Franzosen, sie verraten und verkauft hatten, reagierten sie mit Verbitterung und Zorn.

Fortan hörte die Gewalt nicht auf, denn der Widerstand, vor allem unter Chief Pontiac, endete erst mit der vollständigen Vernichtung aller Lebensgrundlagen der Eingeborenen. Viele Stämme unterstützten die Briten, weil die wenigstens noch Gesetze gegen die anarchischen Siedler erließen und durchsetzten. Zusätzlich wütete eine weitere, Jahre anhaltende Pockenepidemie die Stämme, bis nur noch wenige Landstriche bevölkert waren (nachzulesen in dem 2001 erschienenen Buch „Pox Americana“). In den Feldzügen unter dem Oberkommando von George Washington (wie in John Fords „Western“ „Trommeln am Mohawk“ zu sehen) wurden die letzten Irokesenstämme geschlagen und vertrieben. Die Überlebenden der seit 400 Jahren verbündeten Algonkin-Nationen flüchteten nach Kanada und bekamen dort Reservate zugewiesen.

Kapitel 2: Die weiße Siedlerrepublik und die „Wilden“ (1783- 1812)

Unter der Präsidentschaft Thomas Jeffersons wurde es zur Politik und Doktrin der neuen Republik, eine „ehrenvolle Expansion“ zu vollziehen. Diese hochtrabende Phrase war nur das Deckmäntelchen für eine Gelddruckmaschine der Regierung. Da der Kongress von den 13 Mitgliedsstaaten der Union keine Steuern erheben durfte, aber eine Armee unterhalten musste, brauchte die Regierung eine Geldquelle. Die Lösung war einfach: Jedes neue Stück Land durfte nur von Agenten der Regierung an- und verkauft werden. Diese kauften das neue Land von den Ureinwohnern für den eher symbolischen Preis 2 bis 4 Cent pro Morgen (4400 qm) und veräußerten es zu Höchstpreisen an Siedler oder Bodenspekulanten. Das Problem: Sie brauchten immer mehr neues Land – und das mussten man den Ureinwohnern irgendwie abluchsen oder rauben. Der Landraub war eine Gelddruckmaschine. Kein Wunder also, dass die Regierung ständig darauf drang, dass Indianer friedlich waren – oder wenn nicht, dann wurden sie getötet, vertrieben oder eingesperrt.

Das begehrteste Land erstreckte sich östlich des Mississippi und nördlich des Ohio bis zu den Großen Seen – man nannte dies den „Alten Nordwesten“. Er erstreckte sich allerdings bis nach Wisconsin und das östliche Minnesota. Die hier siedelnden Indianerstämme, allen voran die Shawnee unter Chief Blue Jacket, besiegten zwei schlecht organisierte Armeen der Amerikaner, wurden aber der dritten vernichtend geschlagen. Wieder wurde die Politik der verbrannten Erde angewandt: Die Indianer hungerten. Die Indianer wurden vor die Entscheidung gestellt, sich zu Farmern (die sie meist eh schon waren) umformen zu lassen oder unterzugehen.

Nach dem Kauf von Französisch-Louisiana im Jahre 1803 – Napoleon brauchte dringend Geld – für einen Spottpreis verdoppelte sich das Territorium der USA auf einen Schlag bis zu den Rocky Mountains. Für Jefferson begann nun ein Wettlauf zum Pazifik: Die britischen Kanadier waren schon dort gewesen, nun mussten die Amis ihren Claim abstecken. Die Expedition von Lewis & Clark führte 6600 Kilometer weiter durch Indianergebiete bis zum Ozean und wieder zurück. An jedem Haltepunkt und vor allem in den zwei Winterquartieren proklamierten die Expeditionsleiter, dass diese Leute nun dem Großen Weißen Vater in Washington zu gehorchen hätten – was für eine Arroganz. Mit den Blackfeet-Indianern gab es einen ersten Kampf und die ersten Toten. Die Rückkehr in Washington wurde als Triumph gefeiert. Niemand fragte die Ureinwohner nach ihrer Meinung, keiner erwähnte die Tatsache, dass alle ohne die Hilfe der Shoshonen-Führerin Sacagawea und ihres französischen Mannes Charbonneau umgekommen wären.

Kapitel 3: Die Umsiedlungsära: Das Projekt des indianerfreien Ostens (1812-ca. 1859)

1812 erklärten die USA den Briten den Krieg, denn diese waren gerade in die entscheidende Endphase ihres Krieges gegen Napoleon eingetreten (1813 folgte die Völkerschlacht von Leipzig, in der der Korse vorläufig besiegt wurde). Jefferson und sein Nachfolger Madison plante die Eroberung Kanadas, die Annexion des „Alten Nordwesten“ und die Aneignung des gesamten Südostens bis nach Florida. Zehn Versuche, eine Invasion Kanadas erfolgreich zu beenden, misslangen, dafür wurde aber der Süden komplett erobert und die traditionalistischen Indianer massakriert. Nur die passiven Creek und Chickasaw durften überleben, wurden aber dennoch mit den „Rebellen“ über einen Kamm geschoren und ihres Landes beraubt.

Im „Alten Nordwesten“ sah der Shawnee-Chief Tecumseh in der Allianz mit den Briten eine letzte Möglichkeit, eine „Heimstätte“ für sein Volk zu bewahren. Sein Bruder wurde zum roten „Propheten“ und vereinte gewisse Stämme unter Tecumsehs Führung. Der britische Oberbefehlshaber Brock versprach ihm sogar die ersehnte Heimstätte, doch erst fiel Brock, dann zwei Jahre später auch Tecumseh – die Briten flohen vor den Amis über die Grenze nach Ontario. Im Friedensvertrag traten die Briten alles Land südlich der Großen Seen ab, Spanier tauschten Florida gegen Texas. Der Weg zum Mississippi war frei. Aber was sollte man mit den verbliebenen Ureinwohnern machen?

Nun begann die größte Umsiedlungsaktion in der Geschichte der jungen Republik: Erst die Chickasaw und dann die Cherokee (die Creek waren ja bereits vernichtet) mussten auf einem „Treck der Tränen“ nach Oklahoma ins Indianerterritorium ziehen. Tausende verloren dabei ihr Leben. Nur die Seminolen unter Chief Osceola leisteten noch Widerstand bis 1839. Interessant ist die Rolle des US-präsidenten Andrew Jackson: Nachdem die Cherokee-Häuptlinge vom Obersten Gerichtshof Recht bekommen hatten, dass sie ihre „Republik“ gemäß den Verträgen selbst verwalten könnten, missachtete er dieses Urteil und verursachte so eine Verfassungskrise – ohne Folgen für ihn, aber mit schrecklichen Folgen für die Cherokee, die ihm zuvor geholfen hatten, die Creek zu vernichten. Von einst 13.000 Cherokee blieben nur noch 600 übrig, die sich in den Bergen versteckten.

Kapitel 4: Kalifornien in der Goldrausch-Ära (1849-1870)

Die Spanier begannen in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts, durch Errichtung einer Kette von 20 Missionen, den einheimischen Bewohnern, Land, Freiheit und Leben zu rauben. 1821 folgten ihnen die Mexikaner als Rechtsnachfolger nach, und auch diese betrachteten die Ureinwohner automatisch als Staatsbürger. Doch was die Missionen mit ihrer radikalen Ausbeutung der Indianer angefangen hatten, setzten die Rancheros nach dem Abzug der Missionare fort. Sie betrachteten die Indianer schlicht als rechtslos. Ihnen kamen entgegen, dass Epidemien, Hungersnöte und Gewaltakte die Bevölkerung der zuvor 130.000 Ureinwohner auf nur noch 13.000 schrumpfte. Doch auch diese waren bald gefährdet.

Im Januar 1848 fand ein Anglo, der für den Großgrundbesitzer Hohn A. Sutter arbeitete, im American River Gold. Er brachte die Klümpchen seinem Dienstherrn Sutter, der ihre Bedeutung erkannte und sofort mit den Indianern, die am American siedelten, einen Pachtvertrag aushandelte. Deren Häuptling warnte ihn vergeblich vor dem Dämon, der dem gelben Metall innewohnt. Schon bald zahlten die Rancheros und ihre Arbeiter nur noch in Gold.

Erst im Sommer 48 verkündete eine Ostküstenzeitung den Sensationsfund, doch es dauerte noch ein weiteres halbes Jahr, bis die ersten Goldgräber aus aller Herren Länder in die Berge von Kalifornien einfielen. Die Indianer wurden nicht nur vertrieben. Wenn sie sich wehrten, wurden sie abgeknallt. Der Grund: 1848 hatte Mexiko vor der Invasion der Amerikaner unter Präsident Polk kapituliert und sämtliches Land zwischen dem Rio Grande und dem britischen Oregon abgetreten. (Die Briten traten Oregon und andere Territorien 1846 ab, bis der 39. Längengrad die Grenze bezeichnete.)

Die USA betrachteten die Indianer nicht als Staatsbürger, wie die Mexikaner angenommen hatten, sondern als „inferiore, sterbende Rasse“. Die Siedler nannten sie „diggers“, was auf einer Stufe mit „niggers“ steht. Raubten die hungernden Indianer auch nur eine Kuh, bekamen sie sofort eine der 20 Milizen auf den Hals gehetzt. Dabei handelte es sich um ungezügelte Todesschwadronen, die nicht selten von professionellen Indianerjägern angeführt wurden. Hatten diese dem Gouverneur ihre Dienste in Rechnung gestellt, ließ sich der Gouverneur von der Bundesregierung entschädigen. Das Prinzip des Genozids wurde also vergesellschaftet. Am Schluss, um ca. 1860, waren von einst 130.000 Indianern weniger als 1000 übrig.

Kapitel 5: Die Unterjochung der Plains-Nationen (1865-1890)

Wenig besser sollte es den Plains-Indianern ergehen, wenn es nach Präsident Abraham Lincoln gegangen wäre. Das Verfahren wiederholte sich, und 1832/33 malten George Catlin und Karl Bodmer die letzten freien Plains-Indianer wie die Mandan und Hidatsa am Oberlauf des Missouri. Wenig später rafften die Pocken zahlreiche dieser Nationen zwischen Missouri und Rio Grande dahin, so dass riesige Landflächen zur Besiedlung bereit zu sein schienen.

Im Widerspruch zur Hollywood-Legende griffen die „Roten“ keine Trecks an, sondern halfen ihnen vielmehr. Wer sie verdrängte, waren die Viehbarone – und die rund 800.000 Kleinsiedler, die nach dem Homestead Act“ von 1862 „herrenloses“ Land zugesprochen bekamen – alles von der US-Regierung bezahlt. Lincoln wollte bereits 1864 die beiden Küsten durch eine transkontinentale Eisenbahnlinie verbinden und trieb zusammen mit seinen Nachfolgern deren Bau so energisch voran, dass die Linie bereits 1869 eröffnet werden konnte. Zuvor hatte die Regierung alle Verträge, die sie mit den Dakota geschlossen hatte, nach deren Rebellion 1862 gekündigt. Die Massaker begannen, die aus Lakota wie Crazy Horse einen erbitterten Feind der Weißen machten.

Nachdem alle ihre Büffel und Pferde abgeknallt worden waren und Soldaten sogar im Winter Jagd auf sie machten, kapitulierten 1874 erst die südlichen Stämme, dann, nach der Schlacht am Little Bighorn 1876, auch die nördlichen Stämme und gingen in die Reservate, die sich als bessere KZs erwiesen. Nur Sitting Bull entkam mit seinen getreuen nach Kanada, doch 1881 zwang auch ihn der Hunger zurück ins Reservat. 1890 wurde er im Reservat von Wounded Knee zusammen mit vielen anderen Sioux massakriert.

Kapitel 6: Die Pulverisierungsmaschine und die Erfindung des „Wilden Westens“ (1890-1910)

Der physischen Vernichtung der First Peoples folgte in den Reservaten die kulturelle und psychologische Zerstörung der Überlebenden, der Ethnozid. Viele christliche und wohltätige Gruppierungen schienen nun die Behandlung und „Umerziehung“ der indigenen Völker zu beeinflussen, wenn nicht sogar in die Hand zu nehmen. Vor allem die Modellschulen des Major Pratt wollten offenbar den Indianer aus dem Indianer vertreiben und nur den „Menschen“, wie sie ihn verstanden, übriglassen. Dieser „Mensch“ musste natürlich dem westlichen Ideal von Zivilisation entsprechen. Leider hielt sich die utilitaristisch und kapitalistisch ausgerichtete menschliche Umgebung wie etwa Sheriffs, Marshalls, Indianerbeauftragte, Kaufleute usw. nicht an diese Ideale, und so wurden die Umerzogenen ständig benachteiligt.

Nicht genug damit, versetzte der Dawes Act den im Reservat verbliebenen Indianern einen weiteren Todesstoß. Alles Land darin wurde parzelliert und privatisiert. Das hatte zwei Effekte. Da jeder Indianer nur x Morgen Land besitzen durfte, um Bauer zu werden, blieben am Schluss jede Menge Quadratkilometer übrig, die die Regierung an Weiße verscherbeln konnte. So kam es 1889 zum Oklahoma Run auf das ehemalige Indianerterritorium. Von den rund 600.000 qkm, die den Indianern verblieben waren, blieben nur noch rund 200.000 qkm. Und von den landbesitzenden Indianern erwiesen sich viele als Bauern als so untüchtig, dass sie auch noch dieses Land verhökerten, um ihre Schulden bei den Krämern usw. begleichen zu können.

Unterdessen wurde der untergegangene Westen zum „Wilden Westen“ romantisiert und der fabrizierte Traum zu einer weiteren Gelddruckmaschine, so etwa für William F. Cody, der sich „Buffalo Bill“ nennen ließ, nachdem er fast 5000 Büffel in nur sieben Wochen abgeknallt hatte. 1890 wurde der berühmteste Indianer, Sitting Bull, im Reservat von Pine Ridge am Fluss Wounded Knee zusammen mit seiner Familie und vielen Stammesangehörigen ermordet. Die Presse feierte das Massaker – wieder einmal mehr – als glorreiche Schlacht gegen die „Wilden“.

Epilog

Zur zweiten Amtseinführung von Präsident Theodore Roosevelt am 4. März 1905 ritten mehrere Häuptlinge der Plains-Indianer mit in seiner Parade. Unter ihnen waren Geronimo, der als Massenmörder verschriene Apache, und Quanah Parker, ein Halbblut-Comanche. Immer wieder haben sich Forscher nach ihren Motiven gefragt. Erst in jüngster Zeit wurde bekannt, dass sie den Präsidenten um Erleichterung der Lebensumstände ihrer Stämme baten. Geronimo erflehte seine Freilassung – vergeblich. Er starb schon fünf Jahre später.

Was heute völlig vergessen ist: 1907 beantragten amerikanische Bürger indianischer Abstammung (Cherokee, Choctaw, Creek usw.) die Gründung eines indianischen Bundestaates namens „Sequoyah“. Auch diesen Antrag lehnte Präsident Roosevelt entgegen allen Bestimmungen der Verfassung ab, denn er fürchtete einen Präzedenzfall, wie seinerzeit sein Vorgänger Andrew Jackson.

Mein Eindruck

Wer in den siebziger Jahren so wie ich das Buch „Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses“ („Bury My Heart at Wounded Knee“, 1972) von Dee Brown gelesen hat, dem kommt so manche Wiedererzählung eines Massakers durch Mattioli auf gespenstische Weise vertraut vor. Doch Brown konzentrierte sich vor allem auf den Untergang der Plains-Indianer, während Mattioli seinen Blick auf alle Indianer in Nordamerika richtet.

Deshalb verschwindet in diesem umfassenden Panorama auch eine so interessante und anrührende Geschichte wie die von Quanah Parker und seiner weißen Mutter Cynthia Ann Parker, die 1836 von den Comanche entführt und bis 1860 von ihrem Onkel gesucht wurde. Diese Geschichte kennt heute in Texas jedermann. Sie wurde in dem historischen Sachbuch „Empire of the Summer Moon“ von dem Journalisten S. C Gwynne erzählt. Quanah Parker taucht in Mattiolis Buch nur an drei Stellen auf – viel zu wenig für meinen Geschmack.

Andererseits gibt es da noch an die 500 andere indianische Nationen, die es zu erwähnen gilt. Warum mussten sie verschwinden, und wie konnte es überhaupt geschehen, dass von an die 10 Millionen Ureinwohnern nach nur zwei Jahrhunderten nur noch wenige Tausend übrigblieben? Mattioli bemüht sich, diese umfassende, vielfältige Vernichtungsaktion auf den Begriff zu bringen und erfassbar zu machen.

War es ein Genozid nach der Definition der Vereinten Nationen? Nein. War es also wenigstens ein Ethnozid? Ganz bestimmt sogar. Der Forscher zitiert zahlreiche neue und neueste Quellen, die erstmals das gesamte tatsächliche – und nicht nur das vermutete- Ausmaß der Katastrophe erkennen zu lassen.

Aber welche Geistesverfassung musste ein Volk mitbringen, um sich einen Jahrhunderte andauernden Völkermord vorzunehmen? Das hervorstechendste, dauerhafteste Merkmal ist das des Rassismus der Weißen. Auf der Stufenleiter der Nichtweißen, der Untermenschen, rangierte der „rote Wilde“ nur minimal über dem „tierhaften“ Nigger. Tatsächlich wurden Indianer durch den Spottnamen „Digger“ auf die gleiche Stufe wie Nigger gestellt.

Dass deshalb ein höher stehender, zivilisierter Weißer, obendrein ein Christenmensch automatisch das Recht hatte, seine „offenkundige Bestimmung“ (manifest destiny) zu erfüllen, das ganze Land von Küste zu Küste in seinen Besitz zu bringen und für die „bedrängten Massen“ der europäischen Einwanderer zu erschließen, könnte plausibel klingen. Ist es aber nicht. Vielmehr diente diese Höherstellung nur als Deckmäntelchen für a) den inneramerikanischen Kolonialismus und b) die von der Regierung betriebene Landnahme und -veräußerung, die als Gelddruckmaschine diente.

Dabei schreckten diverse Präsidenten wie Jackson und Roosevelt keineswegs davor zurück, die eigene Verfassung zu brechen. Die Justiz mochte den Indianern noch so viele Rechte zubilligen – mit einem Federstrich machte der Präsident sie alle zunichte. Diese Akte des Verfassungsbruchs verraten mehr über den wahren Charakter der amerikanischen Führungsschicht als noch so viele Unabhängigkeitserklärungen und Verfassungen.

Mattioli wird nicht müde, die Geburtsfehler der jungen Republik anzuprangern, die schon im 18. Jahrhundert sichtbar wurden: Washington und Jefferson waren ebenso Großgrundbesitzer und Sklavenhalter wie viele andere Fürsten der Neuen Welt auch. Wer könnte es also einem Cherokee verdenken, wenn er selbst zum Sklavenhalter aufsteigt, der die Nigger ausbeutet und sie meistbietend verhökert? Er benutzt das System, so wie ihn das System benutzt hat. Und es funktioniert so bis heute.

Schwächen im Text

Überraschenderweise ist dieses Buch mal keine Übersetzung, sondern das Original. Übertragungsfehler aus den Originalquellen gehen also allesamt auf die Kappe des deutschsprachigen Autors.

S. 93: „so dass das Expeditionskorps ihre Dörfer mensch[en]leer vorfand“. Die Silbe EN fehlt.

S. 184/86: „nahmen sie die Stadt unter schweres Feuer, bis dieses kapitulierte“. Nicht das Feuer kapitulierte, sondern die Stadt. Statt „dieses“ sollte es also wohl „diese“ heißen.

S. 200: „Sie [die Indianer] erhielten einen gekochten Weizenbrei in langen Trögen gekochten (sic!) Weizen geschüttet.“ Dieses Zitat aus einer deutschsprachigen Quelle weist einen sehr sonderbaren Satzbau auf.

S. 203: „Kap Horn“ sollte Kap Hoorn heißen.

S. 246: „Heimwesen“ als Übersetzung von „homestead“ (wie im „Homestead Act“ von 1862) ist mehr als zweifelhaft. Besser wäre „Heimstätten“.

S. 285: „ließen die Getöteten auf der Wallstatt liegen“. Es geht weder um einen Wall noch um Wallfahrer, sondern um eine Walstatt = Schlachtfeld.

S. 330: „Szenen einer unter[ge]gangenen Welt“. Die Silbe GE fehlt.

Unterm Strich

Wer wie ich schon viel über die Indianerkriege gelesen hat, wird im Kapitel 5 nichts Neues finden. Dafür entschädigen die anderen sieben Kapitel inkl. Einleitung und Epilog vollauf. Der Forscher unternimmt nichts Geringeres als eine Bestandsaufnahme eines Genozids, der in einen Ethnozid mündete und bis heute anhält. (In Kanada gibt es erst seit etwa zehn Jahren eine Art Wiedergutmachungsprogramm.)

Es ist eine Übersicht auf dem neuesten Stand und sie reicht bis zum Anfang der indianischen Zivilisation in Nordamerika zurück. Der Anfang brachte mir viele neue und bislang unbekannte Fakten nahe, so etwa die Tatsache, dass die biologische Kriegsführung schon im 16. Jahrhundert einsetzte: De Sotos Expedition verbreitete Viren, wo sie nur konnte. Die anderen Europäer machten es ihm nach. Da die Ureinwohner weder geimpft waren noch andere Abwehr gegen die Krankheitserreger hatten, wurden sie bereits vor dem Jahr 1700 zu Millionen dahingerafft. Erstaunlich ist, dass es dieses Wissen nun endlich gesichert nachzulesen gibt.

Mattiolis Verdienst ist es auch, den Indianer nicht mehr gemäß der stereotypen Hollywood-und Regierungspropaganda zu zeichnen, wie sie noch bis 1972 akzeptiert wurde. Dann erschien Dee Browns Buch und mehrere andere. Indianer hatten Allianzen, Bündnisse und mehr gebildet, so etwa die Algonkin-Stämme am St. Lorenzstrom und die fünf zivilisierten Nationen in Georgia und Alabama. Das Bündnis, das Tecumseh Anfang des 19. Jahrhunderts schmiedete, wird ebenso wenig vergessen wie die Initiative, einen Bundesstaat namens Sequoyah für die Indianer zu gründen.

Das meiste war neu für mich, aber wer die Lederstrumpf-Romane James Fenimore Coopers sowie die Tecumseh-Romane von Fritz Steuben (der sehr zu Unrecht vergessen ist) gelesen hat, dem kommen manche dieser Entwicklungen vertraut vor. Leider trifft dies auf die heutige junge Generation kaum noch zu. Dieser sei zumindest das Mattioli-Buch an Anregung empfohlen, hier einen Einstieg zu finden, wie es zugehen konnte, dass in Nordamerika rund 10 Millionen Menschen vernichtet werden konnte und kaum einer Einhalt gebot.

Gebundene Ausgabe: 464 Seiten
www.klett-cotta.de

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