Arthur Conan Doyle – Das Zeichen der Vier [Sherlock Holmes]

Der jungen Mary Morstan werden Perlen zugesandt. Dies sei der kleine Teil eines Vermögens, um den ihr vor Jahren verschollener Vater geprellt worden sei, informiert sie der anonym bleibende Wohltäter, der nun für Genugtuung sorgen möchte. Mary wendet sich Hilfe suchend an den Beratenden Detektiv Sherlock Holmes, der den interessanten Fall übernimmt und sich rasch in eine turbulent-mörderische Schatzsuche verwickelt sieht … – Zweiter Auftritt von Sherlock Holmes, im Vergleich zum Debüt mit deutlich erkennbaren Fortschritten im Handlungsbogen, der straff in ein spannendes Finale mündet, dem freilich ein allzu ausführliches Erklärbär-Kapitel aufgepfropft wird.

Das geschieht:

Im Herbst 1888 tröstet sich ein gelangweilter Sherlock Holmes mit dem Inhalt seines Kokainfläschchens, als ihn endlich ein neuer Fall schlagartig zur Abstinenz bringt: Die junge Mary Morstan erhält seit sechs Jahren an jedem Geburtstag eine wertvolle Perle. Nun hat sich der bisher anonym gebliebene Wohltäter an sie gewandt und lockt mit Informationen über das Schicksal ihres vor Jahren verschollenen Vaters. Captain Morstan, der in Indien stationiert war, habe dort einen enormen Schatz gefunden, um den er und damit auch seine Tochter geprellt worden seien. Nun nahe der Tag der Gerechtigkeit.

Dem Treffen möchte Mary nicht ohne Beistand beiwohnen. Holmes erklärt seine Unterstützung. Dr. John Watson, sein Freund, Chronist und inoffizieller Assistent, steht ihm zur Seite, zumal er sich auf den ersten Blick in die neue Klientin verliebt hat. Die Spur führt das Trio zum exzentrischen Thaddeus Sholto, der sich als Sohn des Mannes zu erkennen gibt, der Captain Morstan einst nicht nur betrogen, sondern auch umgebracht hat. Des Schatzes konnte sich der alte Sholto freilich nicht lange erfreuen: Außer Morstan waren noch andere eingeweiht. Wie viele dies waren, ließ sich einem Zettel entnehmen, der sich bei der Leiche des von Verfolgungsängsten getriebenen und vor seiner Zeit verstorbenen Sholto fand: „Das Zeichen der Vier“ stand dort geschrieben.

Seither hütet Thaddeus‘ vom väterlichen Geiz infizierte Bruder Bartholomew den Schatz. Geerbt hat er allerdings auch dessen unheimlichen Verfolger: einen Mann mit Holzbein und einen Urwelt-Zwerg, der mit vergifteten Blasrohrpfeilen schießt. Dieses mörderische Duo hat den unglücklichen Bartholomew schon gefunden, als Mary Morstan mit ihren Begleitern im Sholto-Haus auftaucht, um Gerechtigkeit und ihren Anteil zu fordern. Da die Polizei wie immer hilflos im Dunkeln tappt, setzt Holmes die Suche fort. Es entspinnt sich eine Jagd kreuz und quer durch die verwinkelten Gassen des viktorianischen London, welche die bekanntlich beachtlichen Geisteskräfte des großen Detektivs aufs Äußerste beansprucht und in einer tollkühnen Verfolgung per Dampfboot über die nächtliche Themse gipfelt …

Tempo und Geradlinigkeit: Holmes in Hochform

Kaum drei Jahre liegen zwischen „Das Zeichen der Vier“ und „Eine Studie in Scharlachrot“, dem ersten Roman um Sherlock Holmes und Dr. Watson. In dieser Zeit hat Verfasser Arthur Conan Doyle ganz offensichtlich eine Menge in Sachen Plot-Entwicklung und Handlungsführung gelernt. Während „Eine Studie …“ quasi in zwei separate, nur notdürftig miteinander verbundene Segmente zerfiel, erzählt „Das Zeichen der Vier“ eine klassische Geschichte mit Anfang, Hauptteil und Schluss.

Doyle geht auf Nummer sicher und stellt für jene Leser, die „Eine Studie …“ bereits vergessen oder nie gelesen haben, noch einmal Sherlock Holmes und die Kunst der kriminalistischen Deduktion vor. Das gelingt ihm erneut meisterlich, zumal es mit der erstaunlichen, von fanatischen „Sherlockians“ nicht gern in den Vordergrund gestellten Eröffnung einhergeht, dass Mr. Holmes ein Fixer ist. Um 1890 war dies verpönt, aber nicht strafbar, obwohl Dr. Watsons mahnende Worte verraten, dass man um die schädlichen Nebenwirkungen der Droge schon wusste.

Aber dann betritt Mary Morstan die Szene, und das Spiel – so Holmes – beginnt. Auch dieses Mal bringt tief in der Vergangenheit wurzelndes Unrecht die Dinge ins Rollen, aber die Handlung verharrt ganz im Hier und Jetzt; ein doppeltes Vergnügen aus heutiger Sicht, denn Doyle glänzt mit stimmungsvollen Impressionen aus der viktorianischen Themse-Metropole, die für ihn alltägliche Lebensstätte war. Diese Zeitzeugenschaft verleiht den ‚echten‘ Holmes-Romanen jene überzeugende Leichtigkeit, die den unzähligen Pastiches der Zukunft in der Regel abgeht.

Schwächeln im Epilog

Noch etwas hat sich geändert: „Im Zeichen der Vier“ nimmt den Leser mit auf eine ebenso ausgedehnte wie turbulente, gut getimte Verfolgungsjagd durch den Mittelteil. Hier gibt es keine Verzögerungen, sondern klug gesetzte Verschnaufpausen, in denen uns Doyle wie nebenbei wichtige Informationen liefert, bevor es mit frischer Kraft weitergeht. Das Finale auf der Themse ist sogar Action pur, wie sie Hollywood nicht dramatischer in Szene setzen könnten.

In letzter Minute fällt Doyle dann doch in alte Sünden zurück. Er lässt den gefassten Schurken langatmig die Geschichte des Agra-Schatzes erzählen, statt diese ebenfalls nach und nach in die Handlung einfließen zu lassen, und nimmt dieser dadurch die Dynamik, mit der sie bisher vorangetrieben wurde. Immerhin macht es Doyle kurz und beweist zu guter Letzt einen gut entwickelten Sinn für Happy-Endings, als er Dr. Watson seine Verlobung und anstehenden Auszug aus der Baker Street Nr. 221b verkünden lässt: ein gelungener Cliffhanger, der neugierig werden lässt, was nun aus unseren Detektiven wird.

Sowohl Sherlock Holmes als auch Dr. Watson haben bereits zu jener Form gefunden, die sie unsterblich werden ließ. Das Zusammenspiel ist harmonisch und lässt wiederum erkennen, dass Watson weit mehr als der an Leserstatt staunende Depp und Holmes‘ Wasserträger ist; wieso hätte ihn der Detektiv wohl sonst postwendend für einen neuen Fall zwangsrekrutiert, als der gute Doktor sich in der Baker Street blicken ließ? Trotz aller gebotenen viktorianischen Gefühlskühle lässt Doyle zudem immer wieder durchscheinen, dass Sherlock Holmes beileibe keine Denkmaschine, sondern ein komplexer Charakter mit zwar sorgsam verborgenen, aber sicherlich präsenten Emotionen ist; diesen Aspekt nahm er später hin und wieder übrigens wieder zurück, wenn es einer Geschichte dienlich war. (Doyle nahm es mit der Kohärenz oder der Chronologie seiner Holmes-Saga übrigens nicht annähernd so genau wie deren fanatische Anhänger.)

Schurkentücke & Frauennot

Recht lebensecht wirkt der holzbeinige Übertäter Small – er trägt Züge des legendären Long John Silver aus Robert Louis Stevensons „Treasure Island“/„Die Schatzinsel“ von 1883 -, der konsequent sein Schurkenspiel treibt und sich ohne Reue als guter Verlierer zeigt, dem sogar seinen sittenstrengen Häschern widerwillige Anerkennung zollen. Mit der Figur des Insulaners Tonga entlarvt sich Doyle unfreiwillig als typischer Repräsentant des britischen Empires, dessen göttliche Mission es ist, sich die Welt untertan zu machen, die außerhalb des Mutterlandes nur von Wilden, Heiden, Hunnen und „schwarzen Teufeln“ bevölkert wird, welche ohne strenge Führung ohnehin nichts Rechtes mit ihr anzufangen wissen.

Miss Morstan neigt zwar in kritischen Situationen zu Ohnmachtsanfällen, wie es sich einer Lady ziemt, aber sie ist trotzdem nicht das typische Doyle-Weibchen, das Hände ringend primär vor irgendwelchem Ungemach gerettet werden muss. Sie verfügt über Willensstärke und Köpfchen, wie sogar Sherlock Holmes, der unverbesserliche Chauvinist, widerwillig eingesteht. Athelny Jones gibt den aufgeblasenen, unbelehrbaren Polizisten, in dessen Anwesenheit das Licht des Meisters Holmes umso heller strahlt: Doyle spricht hier auch der zeitgenössischen Öffentlichkeit aus der Seele, die nicht vergessen hatte, dass die (ohnehin kaum für ihre kriminalistischen Leistungen bekannte) reale Polizei erst kurz zuvor, im Spätherbst 1888, den Serienmörder Jack the Ripper nicht fassen konnte.

„Im Zeichen der Vier“ verdankt seine Dynamik auch seiner Erscheinungsform: Joseph M. Stoddart, Verleger des erfolgreich in den USA erscheinenden „Lippincott’s Monthly Magazine”, plante eine britische Version dieses Periodikums. Noch war Sherlock Holmes nicht annähernd so prominent wie schon wenige Jahre später, doch Stoddart erkannte das Potenzial der Figur, die ihm deshalb als Lockvogel für Leser dienen sollte, die nach spannender Lektüre verlangten. Doyle war als Schriftsteller ein Profi, der kein Problem damit hatte, seine Holmes-Werke mit den Wünschen eines zahlungswilligen Verlegers abzugleichen. Mit ihnen verdiente er (möglichst viel) Geld, das es ihm gestattete, viel Energie und Zeit in seine ihm wichtigeren Historienromane zu investieren, die heute im Gegensatz zu den Holmes-Geschichten kaum jemand mehr lösen möchte.

Autor

Arthur Conan Doyle wurde 1859 im schottischen Edinburgh geboren. Hier studierte er Medizin, heiratete 1884 Louise Hawkins und ließ sich im folgenden Jahr als praktizierender Arzt in Hampshire nieder. Parallel dazu begann er als Schriftsteller zu arbeiten. Mit „A Study in Scarlet“, veröffentlicht zunächst in „Beeton‘s Christmas Annual“, einem der zahllosen Magazine der viktorianischen Epoche, begann noch recht bescheiden eine echte Weltkarriere. Erst die zweite Holmes-Geschichte „The Sign of the Four“ (1890, dt. „Das Zeichen der Vier“) und die ab 1891 im „Strand Magazine“ in Serie veröffentlichtem Sherlock-Holmes-Kurzgeschichten brachten den Durchbruch und ihrem Verfasser Prominenz und Reichtum.

Damit wollte es Doyle eigentlich bewenden lassen. Inzwischen verfasste er voluminöse historische Romane, die ihm bedeutender erschienen als seine Detektivgeschichten. (Kein Mensch kennt sie heute mehr.) Deshalb stürzte er Holmes im Kampf gegen seinen dämonischen Widersacher Professor Moriarty an den Reichenbach-Fällen im Dezember 1893 in der Schweiz in den Tod. Doch die untröstliche Leserschaft forderte seine Wiederauferstehung, die dem widerstrebenden Doyle durch ein echtes Bestseller-Honorar versüßt wurde. Holmes’ Rückkehr war spektakulär: 1902 erlebte er in „The Hound of the Baskervilles“ (dt. „Der Hund der Baskervilles“) sein sicherlich berühmtestes Roman-Abenteuer, 1903 schlossen sich neue Kurzgeschichten im „Strand Magazine“ an.

Während des Burenkrieges (1899-1902) diente Doyle als Arzt in einem Feldlazarett. Seine Erfahrung schrieb er in „The War in South Africa“ nieder und zeigte sich dabei als konservativer Verteidiger der britischen Großmachtpolitik. Die Belohnung folgte 1902, als Doyle zum Ritter geschlagen wurde. Der Versuch, den Ruhm in politisches Kapital umzumünzen – 1900 und 1906 kandidierte Sir Arthur für das britische Parlament – scheiterte. Mit bemerkenswertem Erfolg konzentrierte sich Doyle nunmehr auf seine schriftstellerische Karriere. Nach dem Tod seines Sohnes Kingsley wandte er sich außerdem dem Spiritismus zu. Mit Sherlock Holmes söhnte er sich aus bzw. besann sich dessen außerordentlicher Publikumswirksamkeit; der Meisterdetektiv sicherte ihm ein geregeltes Auskommen. Bis 1927 verfasste Doyle neue Holmes-Geschichten.

Obwohl seine Gesundheit in den späten 1920er Jahren verfiel, blieb Sir Arthur Conan Doyle schriftstellerisch bis zuletzt aktiv. Tief betrauert starb er am 7. Juli 1930 in seinem Haus in Windlesham, Sussex. Dorthin hatte sich auch Sherlock Holmes als Pensionär zurückgezogen, um Bienenzüchter zu werden, und so schloss sich schließlich der Kreis.

Taschenbuch: 160 Seiten
Originaltitel: The Sign of the Four (im Magazin: Lippincott’s Magazine 1890; als Buch: London : Spencer Blackett 1890)
Übersetzung: Henning Ahrens
http://www.fischerverlage.de

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