Iain Banks – Träume vom Kanal. Zukunftsroman

Mit Cello und Bazooka in die Apokalypse

Eine junge japanische Cellistin gerät im Panamakanal in die Wirren des lokalen Bürgerkriegs. Unter dem Druck tragischer Ereignisse an Bord der festsitzenden Schiffe wandelt sich ihre Persönlichkeit zu etwas Schrecklichem, das schon lange in ihr schlummerte.

Der Autor

Iain Banks ist der wahrscheinlich bedeutendste schottische Schriftsteller der Gegenwart. Seine Mainstream- und Science-Fiction-Romane befassen sich mit aktuellen Themen, sein SF-Zyklus über das Culture-Universum gehört zu den wichtigsten Werken des Genres. Er starb 2013.

Folgende Bücher gehören zum Kultur-Zyklus (deutsch alle im Heyne Verlag erschienen) (Quelle: Wikipedia.de):

Consider Phlebas (1987)
Deutsch: Bedenke Phlebas. Übersetzt von Rosemarie Hundertmarck. Heyne SF&F #4609, 1989, ISBN 3-453-03479-1.
The Player of Games (1988)
Deutsch: Das Spiel Azad. Übersetzt von Rosemarie Hundertmarck. Heyne SF&F #4693, 1990, ISBN 3-453-04275-1.
Use of Weapons (1990)
Deutsch: Einsatz der Waffen. Heyne SF&F #4903, 1992, ISBN 3-453-05826-7.
The State of the Art (Erzählungen, 1991)
Deutsch: Ein Geschenk der Kultur. Übersetzt von Irene Bonhorst. Heyne SF&F #4904, 1992, ISBN 3-453-05827-5.
Excession (1996)
Deutsch: Die Spur der toten Sonne. Übersetzt von Irene Bonhorst. Heyne, 1997, ISBN 3-453-12909-1. Auch als: Exzession. Heyne SF&F #6392, 2002, ISBN 3-453-19679-1.
Inversions (1998)
Deutsch: Inversionen. Übersetzt von Irene Bonhorst. Heyne SF&F #6346, 2000, ISBN 3-453-16198-X.
Look to Windward (2000)
Deutsch: Blicke windwärts. Übersetzt von Irene Bonhorst. Heyne SF&F #6443, 2003, ISBN 3-453-87066-2.
Matter (2008)
Deutsch: Sphären. Übersetzt von Andreas Brandhorst. Heyne SF & F #52500, 2008, ISBN 978-3-453-52500-9.
Surface Detail (2010)
Deutsch: Krieg der Seelen. Übersetzt von Andreas Brandhorst. Heyne, 2012, ISBN 978-3-453-52871-0.
The Hydrogen Sonata (2012)
Deutsch: Die Wasserstoffsonate. Heyne, 2014, ISBN 978-3-453-31546-4.

Handlung

Die 36-jährige Japanerin Hisako Onoda ist eine der berühmtesten Cellistinnen der Welt, doch sie kann kein Flugzeug besteigen. Wenn sie fliegen soll, bekommt sie einen Zusammenbruch, noch bevor die Türen geschlossen sind. Als sie zu einer Konzerttournee nach Europa eingeladen wird, bucht sie daher eine Schiffspassage auf einem Tanker, der den Panama-Kanal passieren wird.

Doch zu Beginn des Buches liegt der Tanker bereits etliche Tage im Gatún-See fest, zusammen mit anderen Schiffen, halbwegs zwischen Pazifik und Atlantik. Ein lokaler Bürgerkrieg blockiert die Weiterfahrt. Auf Anraten aller Reeder sollen die Passagiere lieber an Bord bleiben, bis sich die Lage beruhigt hat.

In der Gemeinschaft der zumeist europäischen Passagiere an Bord der Schiffe Le Cercle, Nakado und Nadia findet Hisako einige Freunde, doch der Franzose Philippe, ein Erster Offizier, wird ihr Geliebter. Er bringt ihr das Tauchen im See bei, wo die beiden versunkene Dörfer auskundschaften.

Doch auch diese labile Idylle muss einmal enden. Am Ende des ersten Teils werden die drei Schiffe von der „Volksbefreiungsfront von Panama“ gekapert. Die „Venceristas“, wie sie sich nennen, sperren die Passagiere ein, und es kommt zu erstem Widerstand. Die Kämpfer verraten ihnen, dass sie vorhaben, ein US-amerikanisches Flugzeug mit einem Raketenwerfer abzuschießen. Da in dem Flugzeug Senatoren und Abgeordnete sitzen, dürfte das einen ganz schönen Aufruhr auf internationaler Ebene verursachen. Hisako traut den Rebellen alles zu.

Doch ihr Ruf als weltbeste Cellistin wird ihr zum Verhängnis. Sie wird vor den Kommandanten der Rebellen gerufen, um ihm vorzuspielen. Durch Zufall erhascht sie einen Blick auf sein Haar und Gesicht: Dieser blonde James Bond namens Dandridge ist garantiert Amerikaner! Und was hat er hier zu suchen? Natürlich ist er vom CIA. Und die geplante Abschussaktion dieses agent provocateur dient dazu, eine Invasion Panamas durch die USA zu rechtfertigen.

Niemand hätte das Gesicht von Mr. Dandridge jemals sehen dürfen. Da er keine Zeugen gebrauchen kann, beseitigt er alle – natürlich auch Hisakos Geliebten Philippe. Und ihr hat der CIA-Scherge eine Sonderbehandlung durch seine Männer zugedacht. Doch wie der Dichter sagt: „Was uns nicht umbringt, macht uns hart“. Und die bis dato verborgene Härte der so zierlich aussehenden Hisako soll Dandridge & Co. zum Verhängnis werden. Sie entfesselt eine wahre Apokalypse.

Mein Eindruck

„Träume vom Kanal“ ist der erste von Banks‘ Romanen, in denen Frauenschicksale im Mittelpunkt stehen. Weitere sind „Die Auserwählte“ (Whit) und „Die Aufsteigerin“ (The Business). Auch in seinem Culture-Zyklus sind starke Frauen zu finden, die häufig Agentinnen oder Managerinnen sind.

So darf es nicht verwundern, wenn sich Hisako, die zarte Cellistin mit Träumen voll Blut und Gewalt, unter dem äußeren Druck des Bürgerkriegs verwandelt und zu einem tödlichen Wesen wird, das schließlich alle um sie herum vernichtet.

In zahlreichen Rückblenden, die bis zum Schluss bunt gemischt auftauchen, erzählt der Autor das Leben der Hauptfigur. Wie sie bereits als Außenseiterin geboren wurde: als Angehörige der Ureinwohner Japans, der Ainu. Wie der Druck, etwas zu leisten und etwas Besonderes darzustellen, damit begann, dass man ihr Cellostunden gab. Wie sie die höchsten Höhen des professionellen Künstlertums errang, zuerst in Japan im Nationalorchester NHK und dann international (keine Flüge, bitte!).

Doch die eigentliche Hisako, eine Halbwaise seit ihrer Geburt, blieb ein zutiefst ungeliebtes, eigenbrötlerisches Wesen. Bei einer Demonstration gegen die Flughafenerweiterung von Tokyo machte sie Bekanntschaft mit dem Tod. Sie brachte ihn selbst: Ein Bereitschaftspolizist starb unter ihrem Fingerstoß. Fortan fühlt sie sich noch schuldiger als sonst. Sie will nicht einmal heiraten.

Die Europareise mit ihrer antiken Stradivari ist ein Ausbruch und stellt sich als Glücksfall für sie heraus: Sie verliebt sich endlich einmal. Des Geliebten Tod und ihre anschließende Vergewaltigung (o ja: dies ist ein realistischer Roman) töten ihre seelische Gesundheit und verwandeln sie in das, was sie in ihren Träumen (daher der Titel) bereits längst ist: Visionen von blutigen Himmeln, Blutseen und anderen grauenhaften Dingen erfüllen ihr träumendes Ich, bis sie erwacht. Jede Nacht.

Die Schilderung dieser Traumsequenzen werden zunehmend länger und gemahnen an Bilder von Max Ernst und Salvador Dalí: surreale Symbollandschaften. Diese Innenwelt spiegelt die Außenwelt: Dort regieren Krieg, Terror und Gewalt. Die festsitzenden Passagiere wähnen sich zu Anfang auf einer Insel des Friedens, doch Hisakos Seele ahnt bereits, was kommt.

Spiegel seiner Zeit

Daher ist das Buch ein Spiegel, den der Autor seiner Zeit vorhält. Er hat es kurz vor dem Untergang der Sowjetunion und dem Mauerfalls geschrieben, daher scheint es stellenweise veraltet zu sein. Doch hinsichtlich der Stellvertreterkriege in Lateinamerika, dem Nahen Osten oder Asien hat sich in der Zwischenzeit herzlich wenig geändert. Hisakos Angst vor dem Fliegen rührt nicht (nur) von dem Mangel an Liebe her, sondern von ihrer Urangst, sich dem Ungewissen und der Unbehaustheit in der modernen Realität anzuvertrauen. Sie ist die Realistin, während es der Rest der Menschheit schafft, die Augen zu verschließen.

Unterm Strich

„Träume vom Kanäle“, obwohl kein „richtiger“ Science-Fiction-Roman, ist ein bewegender und aktueller Blick in eine mögliche Zukunft. Heute Panama, morgen der Irak. Heute ein Kanal, morgen Blut für Öl. Die Leute vom CIA & Co. haben überall ihre Finger drin.

Der Roman wird keinen Leser kalt lassen, ich zumindest war erschüttert. Zunächst ein wenig ungläubig hinsichtlich Hisakos waffentechnischer Fähigkeiten (gelobt sei die Software – sie macht Raketenabschießen zum Kinderspiel), überwältigte mich schließlich die schiere Apokalypse, die sie entfesselt. Keiner kommt hier lebend raus, außer ihr. Doch man möchte dem Menschen nicht begegnen, der schließlich an Land geht und immer noch mit Hisakos Gesicht herumläuft.

Das Buch ist nicht einfach wegzulesen, denn die moderne Erzähltechnik, die Banks einsetzt, verhindert dies radikal. Ständig wird zurückgeblendet und zwar nicht unbedingt in chronologischer Reihenfolge, sondern nach den Gesetzen der thematischen Assoziation. Das bedeutet allerdings kein Chaos. Stilistisch und inhaltlich erinnert das Buch an John Brunners Megaroman „Stand on Zanzibar“ („Morgenwelt“, 1968).

Jedenfalls dürfte dieser Banks-Roman nur wenige Leser finden, die damit zurechtkommen. Mir hat er ausnehmend gut gefallen.

Taschenbuch: 286 Seiten
Originaltitel: Canal Dreams, 1989/90
Aus dem Englischen übersetzt von Lutz Gräfe
www.heyne.de

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