Jonathan Nasaw – Angstspiel (E.L. Pender 02)

Relativ spannungsfrei

Ein psychopathischer Mörder sucht sich seit Jahren für seine „Angstspiele“ Opfer unter den von zwanghaften Ängsten geplagten Landsleuten, um sich die „blinde Ratte“ der Langeweile für eine Weile vom Leib zu halten. Dass er sich ständig mit Drogen und Medikamenten zuknallt, hilft ihm auch nicht gerade, wieder zu Verstand zu kommen. Als ihm das FBI in Gestalt zweier Agenten auf die Schliche kommt, sieht er die Gelegenheit für zwei letzte Ruhmestaten gekommen.

Der Autor

Jonathan Lewis Nasaw (* 26. August 1947) ist ein Schriftsteller, dessen Romane man den Genres Horror beziehungsweise Psychothriller zuordnen kann. Er lebt in Pacific Grove, Kalifornien, USA. (Wikipedia) Die Detailkenntnisse aus dem Leben eines alt gewordenen FBI-Agenten im Außendienst und der Humor, mit dem er diese Figur zeichnet, lassen vermuten, dass Nasaw möglicherweise selbst einmal beim FBI war.

Werke

In deutscher Übersetzung sind bisher folgende seiner Romane erschienen:

E.L.-Pender-Reihe

Die Geduld der Spinne (Originaltitel: The Girls He Adored, 2001)
Angstspiel (Originaltitel: Fear Itself, 2003)
Seelenesser (Originaltitel: Twenty-Seven Bones, 2004)
Der Kuss der Schlange (Originaltitel: When she was bad, 2007)
Der Sohn des Teufels (Originaltitel: The Boys From Santa Cruz, 2010)

James Whistler-Reihe

Blutdurst 2005 (Originaltitel: The World on Blood, 1996)
Reich der Schatten 2006 (Originaltitel: Shadows, 1997)

Weitere Werke

Bisher noch nicht auf Deutsch erschienene Werke:

West of the Moon (1987)
Shakedown Street (1993)

Handlung

Simon Childs, 50, macht es Spaß, mit den Phobien seiner Mitmenschen zu spielen und daraus Lust zu gewinnen, wenn ihre Angst sie zur Bewusstlosigkeit treibt. Schon auf Seite 35 ist klar, dass er die Rolle des Schurken ausgezeichnet ausfüllt. Auf einem selbst veranstalteten Phobiker-Kongress in Las Vegas hat er Menschen kennen gelernt, die unter den bizarrsten Ängsten leiden. Höhenangst und Stauballergie sind ja nichts Neues, aber die Angst vor Masken oder vor Vögeln sind doch etwas ausgefallener. Simon nutzt das raffiniert aus.

Bis der Phobikerin Dorie Bell in Kalifornien auffällt, dass ein Leidensgenosse nach dem anderen das Zeitliche segnet. Sie glaubt nicht an Selbstmord. Warum sollte sich jemand vom Dach eines Hauses stürzen, dessen Angst es ihm verbot, selbst in den ersten Stock hochzusteigen? Dorie schreibt einen Brief an das FBI in der Hauptstadt. Dort landet er auf dem Schreibtisch von Linda Abruzzi, die den Job von Special Agent E. L. Pender übernehmen wird, sobald dieser in die längst fällige Rente gegangen ist.

Penders Gewissen erlaubt ihm nicht, Dories Hilferuf zu ignorieren. Zusammen mit einem Freund macht er sich auf den Weg, um nach dem Rechten zu sehen. Dummerweise hat sich Dorie auch Simon anvertraut, und so erfährt dieser vom Vorhaben des FBI. Während Pender in Kalifornien agiert, hält die von Multipler Sklerose bedrohte Abruzzi in Washington die Stellung. Sie hat einen Köder für den Killer ausgelegt. Als Simon Childs das Pflaster in Kalifornien zu heiß wird, kommt er deshalb an die Ostküste – nicht nur wegen des Köders, sondern weil hier auch seine lange vernachlässigte Mutter lebt.

Für alle Beteiligten tickt die Uhr nun schneller. Simon hofft, die FBI-Schnüffler durch seine patentierte Methode der Phobie-Erzeugung zu stoppen. Wird Pender rechtzeitig zurückkehren, um Linda Abruzzi zu retten?

Mein Eindruck

Das ist so ziemlich der spannungsfreieste Psychopathen-Thriller, den man sich vorstellen kann. Man fragt sich, was wohl Thomas Harris, der Autor von „Das Schweigen der Lämmer“ und „Roter Drache“, aus diesem ergiebigen Stoff gemacht hätte. Dieser Vergleich zwingt sich sogar auf, denn im letzten Drittel des Romans benutzt Simon Childs den gleichen Trick wie der Killer in „Roter Drache“: Die Polizei soll glauben, er sei bei einer Explosion verbrannt.

Spielverderber

Es wäre schön gewesen, wenn auch der Leser dies hätte glauben dürfen, wenigstens für ein paar Seiten. Aber nein. Mr. Nasaw muss uns unbedingt davon unterrichten, wie gut es Mr. Childs geht und dass dieser nun gleich Miss Abruzzi einen Besuch abstatten werde. So macht man Spannung kaputt und lässt dem Leser keine Chance, sich gut mit dieser Story zu unterhalten.

E. L. Pender ist auch keine große Hilfe. Er ist zwar nach Kalifornien gekommen, um einen Serienmörder zu fangen, aber Golfspielen muss auch mal sein. Von einer Liebschaft mit dem Opfer Dorie Bell ganz zu schweigen. Leser im Rentenalter mögen die Liaison vielleicht unterhaltsam und völlig okay finden, doch das oberflächliche Geplänkel, das mit ironischen bis schlüpfrigen Anspielungen gespickt ist, passt eher in eine Farce oder Posse als in ein Kriminaldrama.

Garten der Phobien

Wie schon in „Die Geduld der Spinne“ stellt der Autor auch in „Angstspiel“ sein enzyklopädisches Wissen unter Beweis, diesmal über alles, was mit Ängsten, Zwangsneurosen und Phobien zu tun hat. Er hat sich offensichtlich tief in die Materie eingearbeitet, mit der sonst nur Psychotherapeuten in Berührung kommen. Er kann sämtliche Entstehungstheorien aufzählen und illustrieren, aber auch alle Behandlungstherapien, zum Beispiel Desensibilisierung. Dennoch bleibt beim Leser ein schaler Geschmack zurück, so als ob dies alles nur ein Vorwand dafür wäre, das Horror-Disneyland der Phobien zu schildern: „Schaut doch mal, wie seltsam und interessant das alles ist, und das wollen wir jetzt zusammen erkunden.“ Nein, danke, Goofy.

Wie bei Freud: Schuld ist die Kindheit

Eine Möglichkeit, den Leser wirklich zu packen und zu berühren, wäre ein glaubhafter Blick in Simon Childs‘ verkorkste Kindheit gewesen. Nachdem Simons leiblicher Vater gestorben war und seine Mutter ihn mit seiner Schwester an ihren Vater „verkauft“ hatte (dies erzählt Rose tatsächlich), machte Großvater Childs, ein schwerreicher Industriemagnat, durch fortgesetzte Gewaltanwendung aus seinen Enkeln kleine Monster. Ihr spezieller Wahnsinn wurde aber erst nach Jahren sichtbar, so etwa dann, als Simon mit dem Nachbarsjungen Nelson den „Horror Club“ gründete, um alles Mögliche anstellen zu können. Damit wollte er die ätzende Langeweile des Daseins, die Großvater immer nur die „blinde Ratte“ nannte, vertreiben. Doch sie kommt natürlich immer wieder zurück. Und die Gegenmittel müssen stärker werden.

Das Angstspiel

In der homosexuellen Freundschaft mit Nelson Campbell entwickelte Simon das, was er das (titelgebende) „Angstspiel“ nennt und erzeugte in Nelson ein halbes Dutzend Phobien. Es ist immerhin eine Kunst, bei einem anderen Menschen Angst auszulösen. Damit meint Simon nicht Schrecken und Furcht, die von außen erzeugt werden, sondern vielmehr Angst, die von innen kommt und wie ein zartes Pflänzchen zum Blühen gebracht werden muss. Deshalb sind für ihn Informationen über die Psyche seiner Opfer so wichtig. Die Phobiker kannte er ja schon vom Kongress in Las Vegas. Doch Pender und Abruzzi sind ein anderes Paar Stiefel.

Um an deren Daten heranzukommen, bedient er sich der Dienste eines Hackers in San Francisco, mit Erfolg, wie sich zeigt. Ein Kurzbesuch bei Penders Schwesters in Wisconsin bringt auch die entscheidende Info über Penders Urangst: blind zu sein. Und Abruzzi hat Angst vor Schlangen. Die Frage, auf deren Beantwortung wir bis zum Showdown warten müssen, lautet also, ob es Simon gelingt, dieses Wissen „erfolgreich“ anzuwenden. Simon hat nach rund dreißig Morden in mindestens ebenso vielen Jahren große Routine im „Angstspiel“ entwickelt. Aber auch FBI-Agenten haben eine psychologische Ausbildung erhalten. Wird diese Ausbildung zu ihrem Schutz ausreichen? Das darf hier nicht verraten werden.

Unterm Strich

Obwohl sich der Roman sehr flüssig liest (bis auf so manches Fremdwort), so vermag die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, nur wenig echte Spannung zu erzeugen. Jeden viel versprechenden Ansatz dazu erstickt der Autor gleich wieder im Keim, indem er zu viel verrät. Die Erkundung des Reiches der Phobien artet zu einem heiter-amüsant-makabren Ausflug in das Disneyland der Ängste aus, in dem dann selbst pensionierte FBI-Agenten mit Verbrechensopfern bis zum Umfallen vögeln können.

Danke, Goofy, für die nette Führung, aber „Seelenjagd“ von Karin Yapalater hat mir zehmal besser gefallen. Dort kommen wenigstens halbwegs echte Menschen vor.

Taschenbuch: 431 Seiten
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