Edgar Allan Poe – Die Fakten im Fall Valdemar (Gruselkabinett 127)

Zweifelhafte Freiheit: die Aufhebung des Todes

Ernest Valdemar wird an Tuberkulose sterben, daran kann gar kein Zweifel bestehen. Er kommt mit einem Bekannten, der sich mit animalischem Magnetismus beschäftigt, überein, seinen bevorstehenden Tod zu einem grausigen Experiment zu nutzen, zu etwas, das bisher noch nie jemand gewagt hat: Mr. Valdemar will sich vor Eintritt seines Todes in Hypnose versetzen lassen… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörspiel ab 14 Jahren.

Der Autor

Edgar Allan Poe (1809-49) wurde mit zwei Jahren zur Vollwaise und wuchs bei einem reichen Kaufmann namens John Allan in Richmond, der Hauptstadt von Virginia, auf. Von 1815 bis 1820 erhielt Edgar eine solide Schulausbildung in England. Er trennte sich von seinem Ziehvater, um Dichter zu werden, veröffentlichte von 1827 bis 1831 insgesamt drei Gedichtbände, die finanzielle Misserfolge waren. Von der Offiziersakademie in West Point wurde er ca. 1828 verwiesen. Danach konnte er sich als Herausgeber mehrerer Herren- und Gesellschaftsmagazine, in denen er eine Plattform für seine Erzählungen und Essays fand, seinen Lebensunterhalt sichern.

1845/46 war das Doppeljahr seines größten literarischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs, dem leider bald ein ungewöhnlich tiefer Absturz folgte, nachdem seine Frau Virginia (1822-1847) an der Schwindsucht gestorben war. Er verfiel dem Alkohol, eventuell sogar Drogen, und wurde – nach einem allzu kurzen Liebeszwischenspiel mit seiner Jugendliebe – am 2. Oktober 1849 bewusstlos in Baltimore aufgefunden und starb am 7. Oktober im Washington College Hospital.

Poe gilt als der Erfinder verschiedener literarischer Genres und Formen: Detektivgeschichte, psychologische Horrorstory, Science Fiction, Short Story. Neben H. P. Lovecraft und Nathaniel Hawthorne gilt er als der wichtigste Autor der Gruselliteratur Nordamerikas. Er beeinflusste zahlreiche Autoren, mit seinen Gedichten und seiner Literaturtheorie insbesondere die französischen Symbolisten. Seine Literaturtheorie nahm den New Criticism vorweg.

Er stellt meines Erachtens eine Brücke zwischen dem 18. Jahrhundert und den englischen Romantikern (sowie E.T.A. Hoffmann) und einer neuen Rolle von Prosa und Lyrik dar, wobei besonders seine Theorie der Short Story („unity of effect“) immensen Einfluss auf Autoren in Amerika, Großbritannien und Frankreich hatte. Ohne ihn sind Autoren wie Hawthorne, Twain, H.P. Lovecraft, H.G. Wells und Jules Verne, ja sogar Stephen King und Co. schwer vorstellbar. Insofern hat er den Kurs der Literaturentwicklung des Abendlands maßgeblich verändert. In nur 17 Jahren des Publizierens.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Rollen und ihre Sprecher

Dr. Pelham: Helmut Winkelmann
Ernest Valdemar: Rolf Berg
Dr. Ferrier: Tom Raczko
Pflegerin: Dagmar von Kurmin
Junger Valdemar: Louis Friedemann Thiele
Alter Mann: Peter Weis
Polizist: (keine Angabe)

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden bei Titania Medien Studio und Planet Earth Studio statt.

Handlung

Dr. Walter Pelham, ein ehemaliger Arzt berichtet von den grauenerregenden Ereignissen des Jahres 1849, um die irreführenden Gerüchte zu widerlegen, die das Ableben des ehrenwerten Ernest Valdemar umgeben. Pelham selbst setzte hypnotischen Mesmerismus ein, um Antwort auf drei Fragen zu erlangen. Die wichtigste davon: Lässt sich dadurch der Zeitpunkt des Todes hinauszögern und falls ja – für wie lange?

Rückblick

Ernest Valdemar wird schon bald an Tuberkulose sterben, das ist ihm und Pelham klar. Selbst der junge Arzt Ferrier sieht keine Hoffnung mehr, kann aber aus Zeitmangel nichts unternehmen – er muss weiter, um anderen Patienten zu helfen. Der seit 1839 in New York City lebende Übersetzer ist mit der Hypnotisierung einverstanden. Doch bevor die Endphase eintritt, will Valdemar sein gewissen erleichtern. Er erzählt Pelham von jener Zeit, als er in Polen lebte. Das war jene Zeit, bevor er in die Nervenheilanstalt eingeliefert wurde…

(Intermezzo) Das verräterische Herz

Valdemar lautete damals sein Vorname und er lebte als Ziehsohn eines gütigen alten Herrn in dessen Haus. Alles wäre gut gegangen, wenn ihm nicht dessen schielendes „Geierauge“ Furcht und Wut eingeflößt hätte. Er plant den perfekten Mord und rühmt sich seiner Fähigkeit, stundenlang reglos verharren und warten zu können. Das ist doch alles andere als Wahnsinn, nicht wahr? Die Tat gelingt letzten Endes, doch aufgrund seines überfeinen Gehörs vermeint der Bösewicht, das Herz des unter den Dielen vergrabenen Getöteten wieder schlagen zu hören, justament als er die Polizei im Hause hat…

Das Jahr 1849: Valdemars Ende

Kaum ist Dr. Ferrier wieder zurückgekehrt, macht sich Dr. Pelham ans Werk. Seine Stimme ist befehlend, als er Valdemar hypnotisiert und in einen Trancezustand versetzt. Die mitgebrachte Pflegerin bekreuzigt sich, denn für sie ist dies Teufelswerk. Das Auge, das der quasi untote Herr Valdemar auf sie richtet, jagt ihr Angstschauder über den Rücken, ebenso die schwarz werdende Zunge: Er spricht mit unnatürlich tiefer Stimme. Doch er stirbt und stirbt nicht, was Dr. Ferrier in Erstaunen versetzt.

Immer wieder sagt Valdemar: „Ich bin toooot.“ Ferrier will ihn als Leiche abtransportieren lassen, doch Valdemar widerspricht. Die Pflegerin wird ohnmächtig. Sieben Monate lang ergibt sich keine Veränderung, doch schließlich verliert Ferrier die Geduld. Zusammen mit Pelham will er den Scheintoten wecken, komme, was wolle. Und Valdemar erwacht tatsächlich: „Toooot!“ brüllt er. Dann endlich holt sich die Natur ihr Recht zurück. Vor Ferriers entsetzten Augen beginnt sich Valdemar Körpers rasend schnell zu zersetzen…

Mein Eindruck

Der Ich-Erzähler weiß seine (inzwischen verfilmte) Geschichte von der Aufhebung des Todes wohldosiert zu vermitteln. Das Unbehagen an der ganzen unnatürlichen Sache wächst, bis ganz am Schluss, im letzten Satz, das Grauen mit voller Wucht zuschlägt: Das ist die „punch-line“, die den Hörer in die Magengrube trifft. Poe konnte schon immer sehr effektvoll erzählen, aber hier hat er ein Meisterstück abgeliefert.

Das Intermezzo

Wahnsinn, überfeinerte Sinne und vorzeitige Beerdigung sind Poes Standardthemen. Sie sind auch in der eingeflochtenen Erzählung des Ernest Valdemar vorzufinden. „Das verräterische Herz“ ist ein kurzer, psychologischer Thriller um Schuld und Sühne. Er ist nicht nur sehr anschaulich geschildert, sondern auch wirkungsvoll (siehe oben über „unity of effect“) zu einem grauenerregenden Finale hin konzipiert.

Augen

Augen sind der Sitz der Seele, glaubten die Altvorderen in früheren Zeiten (und möglicherweise auch noch heute), deshalb spielen sie im Zusammenhang mit Tod, Scheintod und Schuld eine wichtige Rolle. In beiden miteinander verflochtenen Erzählungen flößt der unnatürliche „Geierblick“ Grauen ein. Sein Ziehvater wird für den jungen Valdemar zu einem fürchterlichen Alptraum, den er beseitigen muss, um wieder erleichtert leben zu können. Für die Pflegerin im Fall Valdemar ist der Geierblick des Sterbenden bzw. Scheintoten Anlass genug, erst an den Teufel zu glauben und dann das Bewusstsein zu verlieren.

Ausgleich

Alle unnatürlichen Dinge suchen nach Ausgleich und Korrektur. Das ist in der Schauerliteratur ein festes Gesetz (und natürlich auch in der Magie). Der scheinbare Tod Valdemars muss ein richtiger werden, allerdings geht der Übergang in den von der Natur vorgesehenen Zustand grauenerregend schnell vonstatten. Und im Falle des jungen Mörders scheint es, als habe er einen Mann begraben, der noch nicht völlig tot war. Das Schuldbewusstsein führt zu einer Selbsttäuschung, die auffällige Ähnlichkeit mit Hypnose aufweist.

Sühne

Die Montage der zwei bekannten Poe-Erzählungen „Valdemar“ und „Das verräterische Herz“ ist ein Geniestreich, denn so eröffnen sich dem Hörer unerwartet verborgene Parallelen und Analogien. Den sieben Monaten, die der alte Valdemar scheintot ist, entsprechen die sieben Nächte, die der junge Valdemar lauert, bis er zur Tat schreitet. Die magische Zahl sieben hat biblische Anklänge, und die mag man deuten, wie man will. Da es um Tod geht, liegt die Deutung einer negativen Schöpfungsgeschichte nahe. Hier wird nicht geschaffen, sondern zerstört.

„Das verräterische Herz“ bildet in dieser Montage das Bekenntnis eines Sünders, der die Beichte ablegt. Dadurch macht er die Sühne für seine Missetat unbedingt erforderlich. Metaphysisch gesehen ist Valdemars siebenmonatiger Aufschub reine Blasphemie, denn nur der echte Tod kann seine Schuld löschen. Als der echte Tod endlich eintritt, ist die Wirkung nicht nur auf den Hörer unerwartet stark.

Die Inszenierung

Die Sprecher

Helmut Winkelmann eröffnet die Geschichte mit der Autorität, die ihm die Figur des Mediziners Dr. Pelham verleiht: Schließlich geht es hier um die Widerlegung von Fake-News. Er weiß auch mehrere Zeugen anzubringen: Der Landarzt Dr. Ferrier und seine Pflegerin sekundierten ihm bei der Anwendung des Mesmerismus. Allerdings klingt Tom Raczko als Dr. Ferrier sehr jung und unerfahren. Er wird konterkariert von der entsetzten Pflegerin, stilecht gesprochen (oder geächzt) von Hörspiel-Urgestein Dagmar von Kurmin.

Nur auf Pelham können wir uns also verlassen, wenn er die unglaubliche Geschichte vom „verräterischen Herzen“ wiedergibt, die ihm Valdemar auf dem Sterbebett anvertraut haben will. Die Binnengeschichte ist typischer Fall vom Genie, das sich seines eigenen Wahnsinns nicht bewusst ist. Dabei ist allein schon die ständige Versicherung, er sei unmöglich wahnsinnig gewesen, schon Anlass zu schweren Zweifeln an dieser Behauptung.

Ernest Valdemar wird von Rolf Berg mit größtem Nuancenreichtum und wirkungsvoller Raffinesse dargestellt. Dass ein Tuberkulose-Kranker nur eine schwache Stimme besitzt, erscheint plausibel. Doch unter dem Einfluss der Hypnose verkehrt sich die Stimme in ihr Gegenteil, so als habe Valdemar aus unbekannter Quelle immense Kräfte gesammelt. Schließlich brüllt er die zeugen an.

In den Rollenangaben konnte ich die Figur des Polizisten in der Binnengeschichte nicht finden. Es kann sich nicht um den „alten Mann“ handeln, denn der wird von Peter Weis gesprochen.

Geräusche

Die Wirkung des Hörspiels steht und fällt mit der Dichte seiner Klangkulisse, seien es nun Geräusche oder Musik. Die meisten Geräusche sind dem Alltag des 19. Jahrhunderts entnommen: Standuhren ticken, Kaminfeuer knistert, Teegeschirr klirrt. Diesen prosaischen Geräuschen wirken jedoch einige Klänge entgegen. Da ist vor allem das Gewitter, damit regelmäßigem Donnerschlag eine düstere, schicksalsschwere Endzeit-Stimmung schafft. Der schleppende röchelnde Atem des Sterbenden scheint davon bedrückt zu werden. Das Röcheln dauert bis zum Schluss an.

Und dann ist da noch der Herzschlag. Je drängender die Schuld des jungen Mörders Valdemar in ihm wirkt, desto lauter wird der vermeintliche Pulsschlag des von ihm Gemeuchelten – bis Valdemar vor Verzweiflung aufschreit und durchdreht. Währenddessen hört sein Gast, der Polizist, rein gar nichts, so dass sich Valdemar ironischerweise selbst der Strafe preisgibt.

Musik

Die musikalische Untermalung spielt eine sehr wichtige Rolle in der handlungsarmen Rahmenhandlung, aber auch in der Binnenhandlung. Die Instrumentierung ist klassisch und steuert die Stimmung des Zuhörers, von der Anspannung des Anfangs über die elegisch gefärbten Momente der Gemütsruhe, zum Grauen und Entsetzen des Mordes des jungen Valdemar und dem dramatischen Schlussakkord der Rahmenhandlung. Alles in allem ergibt sich ein symmetrischer Aufbau aus Anfang, Mitte und Schluss, der vor allem durch die geschickt aufgebaute Montage erzielt wird.

Das Booklet…

…enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien: für das Gruselkabinett und die Sherlock-Holmes-Reihe. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher. Die Titelillustration von Ertugrul Edirne fand ich passend und stimmungsvoll.

Ab Herbst 2017

Nr. 126: Lovecraft: Kalte Luft
Nr. 127: Poe: Der Fall Valdemar
Nr. 128: Charles Dickens: Der Streckenwärter
Nr. 129: Ulrichs: Manor
Nr. 130: Carolyn Wells: Der Wiedergänger
Nr. 131: Flagg: Die Köpfe von Apex

Ab Frühjahr 2018

Nr. 132/133: Sweeney Todd 1+2
Nr. 134: Willy Seidel: Das älteste Ding der Welt
Nr. 135: Amyas Northcote: Brickett Bottom
Nr. 136: H.G. Wells: Das Königreich der Ameisen
Nr. 137: Robert E. Howard: Aus finsterer Tiefe

Unterm Strich

Zusammen mit dem zeitgleich erscheinenden Hörspiel „Kalte Luft“ nach einer Vorlage von H.P. Lovecraft verarbeitet „Die Fakten im Fall Valdemar“ das Thema der Aufhebung des Todes. In Poes Fall hatte dies biografische Gründe, denn auch seine angeheiratete Kusine Virginia starb an Tuberkulose. Viele seiner Erzählungen, in denen Frauen eine bedeutende Rolle spielen (Ligeia, Morella, Eleonora, Madeleine Usher u.a.) drehen sich um die Aufhebung des Todes und seiner psychologischen bzw. physischen Begleiterscheinungen.

Sowohl der alte auch der junge Valdemar wollen sich befreien. Der junge Valdemar, der in Polen als Waise bei einem Ziehvater (genau wie Poe selbst, s.o.) aufwächst, will das Grauen, das ihm das „Geierauge“ des Alten verursacht, beenden und begeht einen grausamen Mord – der möglicherweise nicht hundertprozentig gelungen ist. Ähnlich entwurzelt ist auch der alte Valdemar: Die Vereinigten Staaten, die er seit zehn Jahren (1839) bewohnt, sind keineswegs seine Heimat, er ist kinder- und so wurzellos wie eh und je.

Daher wirkt es plausibel, dass er den Gevatter Tod mithilfe von Pelhams Mesmerismus herausfordert: Wozu aber seine so erlangte Freiheit gut ist, erschließt sich nicht sofort, denn sie ist nur befristet. Valdemar weiß, dass er tot ist und wehrt sich gegen das Gewecktwerden. Es handelt sich um eine ironische Umkehrung jener Situation, in der er den Mord in Polen beging: Nun weist er selbst das „Geierauge“ des Alten auf, und es verbreitet unter den Zeugen Furcht und Schrecken – eine Botschaft des Todes, die sie an ihre eigene Sterblichkeit gemahnt. Die Schlusszeile erwischt den Hörer wie ein Schlag in die Magengrube, eben eine echte „punch-line“.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Besonders wirkungsvoll finde ich die Montage der beiden Poe-Erzählungen „Valdemar“ und „Das verräterische Herz“.

Stimmen wie Dagmar von Kurmin und Rolf Berg sind deutschen Filmfreunden von zahlreichen amerikanischen und britischen Darstellern bekannt. Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars vermitteln das richtige Kino-Feeling. Für Sammler ist die Reihe inzwischen ein Leckerbissen.

Audio-CD
Spieldauer: ca. 68 Min.
Info: The Facts in the Case of Valdemar, ca. 1845
Aus dem US-Englischen übersetzt von unbekannt
www.titania-medien.de

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