Barry Lancet – Japantown

Das geschieht:

Jim Brodie hat den Großteil seiner Kindheit und Jugend in Japan verbracht, wo ihn sein Vater, Inhaber einer Sicherheitsagentur, wie einen Einheimischen aufwachsen ließ. So wurde Brodie ein Mann, der in zwei denkbar unterschiedlichen Kulturkreisen daheim ist. Die Agentur hat er vom inzwischen verstorbenen Vater geerbt, doch nach dem tragischen Tod seiner (japanischen) Frau hält sich Brodie hauptsächlich in seinem kleinen Antiquitätenladen in San Francisco auf; nach Feierabend ist er alleinerziehender Vater einer sechsjährigen Tochter Jenny.

Außerdem zieht man Brodie gern zu Rate, wenn es um Verbrechen im Stadtteil Japantown geht, die der westlich geprägten Polizei Rätsel aufgeben. Dieses Mal ruft man ihn an den Schauplatz eines fünffachen Mordes: Eine vierköpfige Familie und ihr Begleiter wurden auf offener Straße quasi hingerichtet. Die tote Ehefrau und Mutter war eine Tochter des japanischen Finanzmoguls Katsuiyuki Hara, der außerdem seine beiden Enkel und einen überaus fähigen Leibwächter bei diesem Anschlag verlor. Hara traut der Polizei nicht und beauftragt Brodie, der seine Verbindungen in Japan nutzen soll, die Hintergründe der Bluttat zu klären.

Brodie sagt zu, denn er ist persönlich involviert: Am Schauplatz des Mehrfachmordes fand sich dasselbe „Kanji“ – ein japanisches Schriftzeichen -, das vor drei Jahren den Tod seiner Gattin Mieko markierte. Es ist das ‚Markenzeichen‘ der „Soga“, einer japanischen Organisation, die sich global einen Namen als Killertruppe gemacht hat: Wer einen Geschäftskonkurrenten aus dem Weg geräumt haben möchte, engagiert die Soga, die schnell und unauffällig jeden Auftrag erfüllen.

Jim Brodie hält der unsichtbare Meister der Soga zunächst für unwichtig. Er ändert seine Meinung, als Brodie nicht nur diverse Mordanschläge übersteht, sondern zum schmerzhaften Gegenangriff übergeht …

Die – gähn! – Geheimnisse des Ostens

Mit „Japantown“ betritt nicht nur ein hoffnungsvoller Nachwuchsautor das Schlachtfeld der Unterhaltungsliteratur. In Barry Lancet setzen diverse Verlage große Hoffnungen, weshalb sein Romandebüt „Japantown“ von entsprechenden Werbemaßnahmen begleitet wird. Dazu gehören die Zitate angeblich beeindruckter Kollegen und ‚Fachleute‘, die über den grünen Klee loben, was bei nüchterner Betrachtung vergleichsweise nährstoffarm wirkt.

Lancet gehört zu den Autoren, deren Werk sich aus der eigenen Biografie speist. Wie seine Hauptfigur Jim Brodie war er viele Jahre in Japan für einen japanischen Verlag tätig, privat ist er mit einer Japanerin verheiratet. Er kennt Land und Leute also gut, was durchaus ein Pfund ist, mit dem sich wuchern lässt: Das Wissen über Japan ist im Westen eher schmal, und Lücken werden gern mit Klischees gestopft.

Leider kann Lancet in dieser Hinsicht nur für wenig Abhilfe sorgen. Zu sprunghaft und dann zu ausführlich bezieht er sich auf Aspekte der japanischen Geschichte, Politik und Kultur. Was daraus entsteht, sind bekannte Zerrbilder, die durch flache Figurenzeichnungen als solche noch betont werden. Da haben wir also wieder die moderne japanische Industrie- und Finanz-Maschine, hinter der weiterhin der asiatische Rätselmensch lauert, der große Kunst mit brutaler Gewalt verbindet , seltsamen Riten frönt und die nicht-japanischen Barbaren verachtet, belügt und ausnutzt.

Vor allem die Soga wirken wie eine Schauspieltruppe, die auf ihren Einsatz im nächsten Ninja-B-Movie wartet. Lancet schwelgt in Szenen, die gehorsamsprogrammierte Killer-Rekruten im Metzel-Training zeigen. Dabei kommt Hightech ebenso zum Einsatz wie mittelalterliches Tötungsgut, das zusätzlich mit geheimnisvollen Giften eingepinselt wird. Das soll Spannung erzeugen, wirkt aber albern, weil wir solche Pseudo-Exotik aus unzähligen, dummen Filmen und TV-Episoden kennen.

Überall – aber selten in Japantown

Obwohl dieser Roman den Titel „Japantown“ trägt, spielen die wichtigen Passagen der Handlung an anderen Orten. „Japantown“ ist nur ein werbewirksames Kürzel, während der reale Stadtteil Staffage bleibt. Dort liegt Brodies Antiquitätenladen, der als Hort des inneren Friedens dargestellt wird, weshalb die ständigen Störungen durch Strolche besonders dramatisch wirken sollen. Das funktioniert jedoch nicht, während die Handlung in Japan deutlich fesselnder gelingt; dies weniger aufgrund der Ereignisse, die sich auf die typische Hit-&-Run-Hetzjagd beschränken, sondern wegen der tatsächlich überzeugend dargestellten und deshalb interessanten japanischen Eigenheiten, die sich unmittelbar auf das Geschehen auswirken.

Leider verlässt Brodie diesen trittfesten Untergrund rasch wieder. Ohnehin fiel ihm nur ein Besuch im Entstehungs-Dorf der Soga ein, der vor allem Buchseiten füllt, während die Handlung auf der Stelle tritt: paradox, denn schließlich muss so mancher Schuft ins Gras beißen, während Brodie und seine japanischen Sicherheitsleute durch das Unterholz flüchten und später im Großstadtdschungel Tokios ebenfalls unter Beschuss genommen werden. Da das US-Lesepublikum (sowie interessierte Filmstudios) dieses Schauplatzes überdrüssig werden könnten, verlagert Brodie das Geschehen für das große Finale zurück in die USA (aber wieder nicht nach Japantown).

Was sich der Verfasser als Kette hochdramatischer Kämpfe und Fluchten vorstellt, zerfällt unter seinem Übereifer in eine Geisterbahnfahrt. Endlich kommt die Soga auf die Idee, dem unverwüstlichen Verfolger die Tochter zu entführen. Wenig später wird auch der Vater in eine Schurken-Festung verschleppt, wie Hollywood sie sich nicht schöner (= einfallsloser) einfallen lassen könnte. Brodie befreit sich und steht vor der Herausforderung, nicht nur einem Heer mordgieriger Spitzbuben zu entschlüpfen, sondern auch seine Tochter zu suchen und zu retten.

Figuren zum Fürchten

Die Filmrechte für „Japantown“ sind bereits verkauft; an einer TV-Serie wird bereits gearbeitet; kein Wunder, denn zumindest die Figurenzeichnung scheint maßgeschneidert für das Massenmedium Fernsehen zu sein. Ungeachtet der Nähe, die Autor Lancet zur japanischen Kultur für sich in Anspruch nimmt (und sicherlich in Anspruch nehmen kann), wirken sämtliche Protagonisten wie schon erwähnt sehr bekannt.

Nicht einmal Jim Brodie bildet eine Ausnahme. Er darf auch keine echten Ecken und Kanten besitzen, weil ihn dies als Serienfigur einschränken würde. Statthaft sind Züge angeblicher Individualität. So lässt Lancet Brodie in Ruhemomenten gern über die transzendentale Bedeutung einer schlichten Teetasse sinnieren, weil dies kunstsinnige Japaner (oder Japan-Liebhaber) eben gern tun. Nichtsdestotrotz löst sich sämtliche Gelassenheit in Luft auf, als die Soga Brodie soweit in die Ecke drängen, dass sich der US-Amerikaner in ihm befreit und mit blanker Faust und ebensolcher Waffe genau jene Schurken, die Lancet bisher als Kampfmaschinen und Übermenschen geschildert hat, reihenweise ins Nirwana schickt.

Sie haben es aber auch verdient, denn sie vergreifen sich an Töchterlein Jenny! Um diese altkluge Nervensäge zu befreien, lässt der Autor Brodie himmelhohe Berge pseudoemotionalen Kitsches erstürmen. Vor allem das ohnehin eher wirre als turbulente Finale sorgt für unfreiwillige Heiterkeit: Jedes Mal, wenn Brodie die irgendwo im Wald hinter dem Soga-Hauptquartier geparkte Jenny holen will, springt ein Spitzbube hinter einem Baum hervor. Dann wird erst viel geredet, anschließend gekämpft. Der Gegner geht zu Boden und verendet. Brodie sammelt seine zunehmend gebrochenen Knochen zusammen und vernimmt Jennys dünnes Stimmchen „Daddy …?“, denn der nächste Unhold verlässt die Deckung! Dreimal geht das so am Stück, bis Glaubwürdigkeit, Spannung und Stimmung getilgt sind. Selbstverständlich räumt Brodie in gerechter Wut praktisch im Alleingang mit der Soga-Brut auf. Auf der Strecke blieben bis dahin einige Buddys, was für die bekannten Szenen inbrünstiger Trauer und Selbstanklage sorgt, der automatisch eine Verschärfung der Rachemaßnahmen folgt.

Nein, eine Offenbarung ist „Japantown“ nicht, sondern eher ein Triumph geschickter Vermarktung. Da Lancet jahrzehntelang im Verlagswesen tätig war, weiß er, wie der Hase zu laufen hat. Zumindest der Erfolg gibt ihm Recht, auch wenn er dem Genre rein gar nichts Neues zu geben hat. Das Handwerk beherrscht Lancet bereits; womöglich gelingt es ihm, sich von stützenden Klischees zu lösen, um tatsächlich einen Roman zu schreiben, der solches Werbegetrommel verdient.

Autor

Barry Lancet wurde in Kalifornien geboren. In den frühen 1980er Jahren besuchte er als junger Mann erstmals Japan und war fasziniert von dem Land und seinen Leuten. Einige Jahre später wagte er den Schritt und ließ sich in Tokio nieder. Er wurde von einem japanischen Verlag als Herausgeber angestellt, ein Job, den er ein Vierteljahrhundert ausübte. In dieser Zeit lernte Lancet die japanische Kultur intensiv kennen, was ihm die Wahl seiner Hauptfigur erleichterte, als er beschloss, selbst Schriftsteller zu werden.

Lancet schuf Jim Brodie, einen gebürtigen US-Amerikaner, der in Japan aufwuchs und dort so gründlich assimiliert wurde, wie dies einem Ausländer überhaupt möglich ist. „Japantown“, der erste Teil einer geplanten und inzwischen fortgesetzten Serie, erschien 2013 und erregte umgehend das gewünschte, von guten Verkaufszahlen flankierte Aufsehen. Inzwischen ist Lancet hauptberuflicher Autor. Zwar lebt er weiterhin die meiste Zeit in Japan, doch er ist wieder häufiger und länger in den USA anzutreffen, wo er einen lukrativen Vertrag über mehrere Bücher mit dem Verlag Simon & Schuster abgeschlossen hat.

Website des Verfassers

Taschenbuch: 591 Seiten
Originaltitel: Japantown (New York : Simon & Schuster 2013)
Übersetzung: Joannis Stefanidis
www.randomhouse.de/heyne

eBook: 2592 KB
ISBN-13: 978-3-641-13420-4
www.randomhouse.de/heyne

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