Claire Winter – Kinder ihrer Zeit

Im Januar 1945 flüchtet Rosa Lichtenberg mit ihren beiden Töchtern, den Zwillingen Emma und Alice, vor den nahenden Russen aus Ostpreußen. Während der Flucht erkrankt Alice, sodass Rosa das Mädchen bei einer Frau zurücklassen muss, als sie sich mit Emma zusammen auf die Suche nach Lebensmitteln macht. Hilflos müssen die beiden mit ansehen, wie die Russen das Dorf, in dem sie die kranke Alice zurückgelassen haben, niederbrennen. Doch Alice kann gerettet werden – ein Russe nimmt sie mit sich.

Jahre später leben Rosa und Emma zusammen in West-Berlin, während Alice sich im Osten Berlins ein Leben aufgebaut hat. Kurz nach Rosas Tod treffen die beiden Schwestern sich überraschend wieder, doch die Differenzen scheinen nahezu unüberbrückbar: Emma wünscht sich, dass ihre Schwester zu ihr in den Westen zieht, doch Alice ist überzeugt vom politischen System der DDR und hat zudem enge Kontakte zu den Russen.

Durch Alice lernt Emma den Ost-Berliner Physiker Julius Laakmann kennen, in den sie sich Hals über Kopf verliebt. Bald aber geraten die beiden und auch Alice zwischen die Fronten im Kalten Krieg…

Auf den Spuren der deutschen Geschichte

Claire Winter rollt in ihrem Roman einen spannenden Teil der deutschen Geschichte auf, nämlich die Jahre zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Bau der Berliner Mauer. Als Emma und Alice sich wiedertreffen, reisen sie anfangs noch vollkommen unbehelligt täglich vom Westteil Berlins in den Osten oder umgekehrt. Doch immer mehr spitzt die Situation sich zu und immer mehr zeichnen sich die Pläne ab, die Grenze innerhalb Berlins zu schließen, um die ständig wachsende Abwanderung aus der DDR zu unterbinden.

Die beiden Schwestern stehen jede für sich für eines der politischen Systeme. Durch ihre gegensätzlichen Überzeugungen geraten sie immer mehr aneinander und merken, dass die frühere Verbundenheit durch die Jahre der Trennung gelitten hat. Darüber hinaus engagiert sich Emmas bester Freund für DDR-Flüchtlinge und gegen den Sozialismus, was Alice rot sehen lässt.

Geschickt stellt Claire Winter die beiden gegensätzlichen Systeme vor, indem sie ihre Protagonisten darüber diskutieren oder auch streiten lässt. Sie schafft es dabei sogar, jede der beiden Denkweisen in gewissem Umfang nachvollziehbar zu gestalten, weil man die beiden Frauen im Laufe der Geschichte nicht nur immer besser kennen lernt, sondern sie auch immer sympathischer findet. Selbst Alice, die von der DDR vollkommen überzeugt ist und es nicht schlimm findet, vieles im Osten nicht zur Verfügung zu haben, kann man verstehen, wenn man ihre tragische Vergangenheit nach der Verschleppung bedenkt.

Charakterstark

Neben der spannenden Rahmenhandlung des Kalten Kriegs punktet das Buch mit den starken und realistisch gezeichneten Charakteren. Im Mittelpunkt stehen natürlich die beiden unterschiedlichen Schwestern, aber auch Emmas besten Freund Max, den Physiker Julius Laakmann und Alice russischen Freund, der sie im Januar 1945 gerettet hat, lernt man beim Lesen immer besser kennen. Alle Charaktere haben ihre Ecken und Kanten und sind dadurch unheimlich interessant. Sie stehen für ihre Überzeugungen ein und riskieren dabei im späteren Verlauf des Buches mitunter ihr eigenes Leben.

Je besser man die Figuren kennenlernt und je weiter die Geschichte fortschreitet, umso spannender wird das Buch. Etwa ab der Hälfte konnte ich das Buch praktisch nicht mehr aus der Hand legen, weil ich wissen wollte, was aus den einzelnen Figuren wird. Die Situation spitzte sich nämlich immer mehr zu, wurde immer brenzliger, sodass zwei Personen von der Bildfläche verschwinden mussten und man als Leser unbedingt die Hintergründe erfahren wollte.

Besser geht nicht

Bislang habe ich jedes Buch von Claire Winter gelesen oder – besser gesagt – verschlungen. Sie schafft es immer wieder, interessante Charaktere zu zeichnen und in eine spannende Rahmengeschichte zu verpacken. Auch hier verwebt sie geschickt die Schicksale ihrer Romanfiguren mit den historischen Ereignissen im Kalten Krieg, sodass man gedanklich komplett in die damalige Zeit versetzt wird, als in Berlin der Mauerbau vorbereitet wird.

Hier stimmt wirklich alles: Charaktere, Spannungsbogen, Rahmenhandlung, Story, Auflösung. Alles. Schade war nur, dass das Buch nicht noch länger war, ich hätte gerne noch viel mehr über Emma, Alice und ihre Freunde und Bekannten gelesen.

Gebundene Ausgabe: 576 Seiten
ISBN-13: 978-3453291959
Diana Verlag

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