Clauß, Martin – Atem des Rippers, Der

London im Jahr 1903: Der sterbende Priester Henry Ouston gesteht auf dem Totenbett der Krankenschwester Ellen, dass er die Identität des legendären Jack the Ripper kennt, der das ganze Land vor fünfzehn Jahren mit seinen grauenvollen Frauenmorden im Stadtteil Whitechapel in Angst versetzte. Kurz darauf stößt der Kunstmaler Walter Sickert in London auf ein Tagebuch, das offenbar von Jack the Ripper verfasst wurde. Hin- und hergerissen zwischen Grauen und Faszination liest er in seiner Herberge die Geständnisse des berühmten Mörders, die im Jahr 1888 beginnen.

Im Jahr 1881 reist der englische Assistenzchirurg Alan Spareborne durch Norditalien. In Padua trifft er am Namenstag des Heiligen Antonius einen Geistlichen und kommt mit ihm ins Gespräch. In lateinischer Sprache unterhalten sie sich über ihre Lieblingsthemen, Reliquien und Chirurgie. Der Geistliche bittet ihn, die Echtheit eines konservierten Organs zu überprüfen, bei dem es sich um die Leber des Heiligen Antonius handeln soll. In Gegenwart des angereisten Papstes entlarvt Spareborne das Organ als Fälschung und ergreift im anschließenden Tumult die Flucht.

Von nun an erfährt Sparebornes Lebens eine radikale Wende. Er betrachtet sein Erlebnis als göttliches Zeichen, tritt zum Katholizismus über, studiert Theologie und wird Priester. Sein besonderer Schwerpunkt ist die Erforschung von Reliquien – und vor allem ihre Beschaffung. Eine Serie von Frauenmorden nimmt ihren Anfang …

Nach wie vor ist der unbekannte Mörder, den man „Jack the Ripper“ genannt hat, eine dankbare Inspirationsquelle für mediale Verarbeitungen aller Art, und allen an dieser legendären Gestalt Interessierten bietet der Kurzroman von Martin Clauß eine spannende und lohnenswerte Schilderung, die versucht, einen etwas unkonventionellen Weg einzuschlagen.

|Verwobene Handlungsstränge|

In den nur knapp über 100 Seiten, die das Büchlein umfasst, steckt ein Komplex aus mehreren Handlungsebenen, die eng miteinander verknüpft sind. Die Geschichte beginnt im Jahr 1903 mit dem schockierenden Geständnis eines Mannes, der weiß, wer sich hinter Jack the Ripper verbirgt und wo dieser sich heute befindet. Unmittelbar nach diesem Paukenschlag schwenkt die Handlung um auf Mandalay, die Hauptstadt Burmas, in die sich der Ripper zurückgezogen hat.

Ein weiterer Handlungsstrang konzentriert sich auf den Kunstmaler Walter Sickert, der im Mai 1903 wieder in England einkehrt und das Tagebuch eines gewissen Geistlichen namens Alan Spareborne findet, dessen Einträge von 1888 bis 1902 reichen. Den größten Teil der Erzählung nehmen schließlich die Tagebucheinträge selbst ein. Gemeinsam mit Walter Sickert verfolgt der Leser den Werdegang von Jack the Ripper, dessen Leben ganz gewöhnlich beginnt, ehe er sich erleuchtet fühlt und ihn ein immer wieder ausbrechendes Fiebergefühl zu den grausamen Morden zwingt.

Interessant ist an dieser Konstellation vor allem, dass dieser Jack the Ripper weit davon entfernt ist, ein Frauen- oder Prostituiertenhasser zu sein, wie man es in der Forschung allgemein annimmt. Folglich fühlt sich Spareborne von der Presse missverstanden, denn niemand ahnt etwas von der religiösen Motivation für seine Taten. Die Suche nach dem Täter konzentriert sich auf Männer, die eine krankhafte Abscheu gegenüber Frauen haben, und nicht auf einen katholischen Geistlichen. Spannend für den Leser ist vor allem die Frage, welches Schicksal Alan Spareborne in der Gegenwart von 1903 widerfährt, nachdem der sterbende Henry Ouston seine Identität preisgegeben hat, und wie Walter Sickert mit den Erkenntnissen aus dem Tagebuch umgeht.

|Sorgfältige Fakteneinbindung|

Auch wenn Tagebuch und Gestalt des Alan Spareborne als Ripper fiktiv sind, finden sich viele historische Fakten im Roman wieder. Die Tagebuchaufzeichnungen bestätigen die allgemein meistvertretene Theorie der „kanonischen Fünf“, die Mary Ann Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddows und Mary Jane Kelly zu den Opfern zählt. Auch Martha Tabram, die nicht wenige Experten als sechstes Opfer hinzuzählen, findet Erwähnung, wird aber von jemand anderem getötet. Sehr schön gelungen sind die Bedeutung, die den Todestagen zugewiesen wird, sowie die Erklärung für das Entwenden der Organe, über das noch heute gern gerätselt wird.

Eine besondere Stellung nimmt Tagebuch-Finder Walter Sickert ein, ein berühmter Kunstmaler zwischen Impressionismus und Moderne, der wegen seiner gewaltdarstellenden Gemälde und seiner Bekanntschaft mit der später ermordeten Mary Jane Kelly in wenig beachteten Theorien als Tatverdächtiger genannt wurde, zuletzt von Kriminalautorin Patricia Cornwall in [„Wer war Jack the Ripper?“. 957 Mit dem Okkultisten Robert Donston Stephenson und dem Quacksalber Francis Tumblety treten zudem noch zwei weitere Verdächtige auf und natürlich die legendären Ripper-Briefe, die an die Polizei geschickt wurden und über deren Authentizität noch heute diskutiert wird. Es gelingt dem Autor, die Handlung glaubwürdig mit dem historischen Kontext zu verschmelzen. Fakten und Fiktion ergeben vermischt ein ansprechendes Gebilde, das dem bewährten Jack-the-Ripper-Thema eine durchaus originelle Seite abgewinnt.

|Nur kleine Schwächen|

Angesichts der Komplexität, bedingt durch die verschiedenen Handlungsstränge, ist es schade, dass das Werk so knapp ausfällt. Gerne würde man die Ereignisse noch etwas detaillierter auf hundert bis zweihundert weiteren Seiten verfolgen, denn verdient hätte dies die Handlung auf jeden Fall. Ein bisschen Einlesearbeit erfordert zudem der umständliche, gestelzte Stil der Tagebucheinträge, im Gegensatz zu den sehr flüssig geschilderten anderen Handlungsebenen. Letztes kleines Manko ist ein fehlendes Glossar. Verfügt der Leser nämlich über keine Hintergrundkenntnisse zum Fall „Jack the Ripper“, entgehen ihm sicher manche der historischen Gestalten, die eingearbeitet werden.

_Als Fazit_ bleibt eine gelungene und sehr lesenswerte Variante zum immer noch beliebten Jack-the-Ripper-Thema, das trotz seines geringen Umfangs eine verschachtelte Handlung mit mehreren Ebenen aufweist. Historische Fakten werden gekonnt mit Fiktion verwoben, der Hauptcharakter glaubwürdig dargestellt. Abgesehen von sehr geringen Schwächen eine empfehlenswerte Lektüre für alle Kriminalfans.

_Der Autor_ Martin Clauß, Jahrgang 1967, studierte Japanologie in Tübingen und unterrichtet seit 1998 an der Volkshochschule Esslingen am Neckar. 2005 veröffentliche er bei |BoD| „Das große Anime-Lösungsbuch“, 2007 „Das Schloss der Geister“, den ersten Band der Serie „Falkengrund“, und Anfang 2008 erschien der phantastische historische Asien-Roman [„Die Saat der Yôkai“]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3800054000/powermetalde-21 in Zusammenarbeit mit Maho Clauß bei |Ueberreuter|.

http://www.atlantis-verlag.de/
http://martinclauss.blogspot.com/

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