Donald S. Johnson – Fata Morgana der Meere. Die verschwundenen Inseln des Atlantiks

johnson-fata-morgana-cover-kleinBevor die Kartografie ‚erfunden‘ wurde, mussten entdeckte Inseln auf gut Glück im umgebenden Meer verortet werden. Irrtümer und Missverständnisse sowie dreiste Lügen sorgten für die Entstehung unzähliger ‚Geister-Inseln‘, die nie existierten, obwohl sie auf zeitgenössischen Karten verzeichnet waren. Donald Johnson rekonstruiert das Phänomen dieser „Fata Morganas der Meere“ anhand ausgewählter Beispiele und ergänzt ebenso informativ wie spannend das Wissen über die Entdeckungsgeschichte.

Inhalt:

1541, irgendwo vor Neufundland: Drei kleine Schiffe steuern durch die unruhigen Wogen. Es ist kalt, es ist düster selbst tagsüber, und Nebel hängt über der See. An Bord ist man nervös, denn die Fahrt war lang und schwierig, seit man in Frankreich den Hafen verließ, und niemand weiß, wo man sich eigentlich befindet. Seekarten gibt es nicht; sie wären ohnehin keine echte Hilfe, da die Kartografie dieser Zeit mehr Kunst als perfekte Wissenschaft ist.

Plötzlich ertönt aus einer besonders dichten Nebelbank undeutliches Gemurmel, aus dem immer wieder schrille Schreie aufsteigen. Die erschrockenen Seefahrer sind sich sogleich einig: Das können nur böse Geister sein, die hier auf einer einsamen Insel am Rand der Welt hausen! Rasch werfen sie das Ruder herum und machen sich davon. Nach vielen abenteuerlichen Monaten glücklich wieder heimgekehrt, berichten sie von ihrem Erlebnis. Pflichtbewusst tragen Kartenzeichner dort, wo es ihnen vage geheißen wurde, die „Insel der Dämonen“ ein. So manchem Seebär werden in den nächsten Jahrhunderten kalte Schauder über den Rücken laufen, wenn sich sein Schiff der angegebenen Position nähert. Seltsam nur, dass nie jemand die übel beleumundete Insel findet.

Kein Wunder, denn es gibt sie überhaupt nicht! Die „Insel der Dämonen“ ist eine „Fata Morgana des Meeres“ – und sie ist keineswegs die einzige ihrer imaginären Art. Praktisch jede Karte, die bis zum 19. Jahrhundert entstand, verzeichnet im Atlantik mysteriöse Eilande, auf denen es zudem nicht geheuer zuging aber Ruhm und Schätze denen winkten, der es wagten, sie zu betreten.

Kartografie als Glücksspiel

Wie konnte es dazu kommen, dass der Atlantik mit Phantominseln förmlich übersät war? 27000 ihrer flüchtigen Art vermerkte Al Idrisi, arabischer Geograf des 12. Jahrhunderts! Donald S. Johnson, Journalist, Kartograf und selbst altgedienter Seemann, widmet sich der nicht unkomplizierten Aufgabe, ein komplexes Geflecht aus Wahrheit, Irrtümern und Lügen zu entwirren, hinter dem einige faszinierende Facetten der Entdeckungsgeschichte unserer Welt zum Vorschein kommen.

Dabei muss er vorab historische Grundlagenarbeit leisten, was im ersten Viertel des Buches – es soll hier nicht verschwiegen werden – die Lektüre ein wenig zäh werden lässt. Aber es hilft nichts: Ein paar Fakten zu Themen wie Geografie, Astronomie, Nautik oder Mathematik müssen auf den Tisch, und sei es nur, damit deutlich wird, vor welchen Problemen die Seefahrer vergangener Jahrhunderte standen.

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben. Wichtiger ist es, das Erlebte sorgsam aufzuzeichnen, denn nur so können andere diesen Spuren folgen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan, wenn das Wissen, die Mittel und allgemein gültige Standards fehlen, geografische Positionen zu bestimmen. Auf dem Meer brach daher prompt das große Rätselraten aus, als die ersten Entdecker die Küstenlinie hinter sich ließen. Das geschah schon früh, auch wenn wir nicht genau wissen, wann genau man es versuchte. Seefahrende Völker wie die Phönizier, die Griechen oder die Römer wagten sich schon weit auf den Atlantik hinaus, und sie hielten fest, was sie dort entdeckten; dies allerdings eher schlecht als recht, was kaum überrascht, wenn man sich vor Augen führt, dass nicht einmal über die Gestalt der Erde – Scheibe oder Kugel? – Einigkeit herrschte.

Seemannsgarn wird Druckerschwärze

So manche Insel kam deshalb dort zu liegen, wo sie garantiert nicht hingehörte. Die Zeitläufe steigerten das Chaos. Bekanntlich wurde die forschungsfrohe Antike zumindest im Abendland erst von der turbulenten Völkerwanderungszeit und dann vom finsteren Mittelalter abgelöst. Das Wissen der Antike ging verloren oder wurde zunehmend missverstanden. Anderenorts sah es besser aus. Im Norden ließen die Nordmänner oder Wikinger das Zeitalter der Entdeckungen nicht abreißen, im Westen folgten die Kelten, im Süden die Araber ihrem Beispiel. Aber auch sie irrten oder verlagerten kurzerhand Mythen und Sagen auf dreist erfundene Inseln: In diesen Zeiten hatte sich die Wirklichkeit den Wunschvorstellungen unterzuordnen.

Als es in Europa wieder heller in den Köpfen wurde, war die Verwirrung komplett: Zwischen der Alten und der Neuen Welt zeigten die Karten beinahe ebenso viele echte wie falsch lokalisierte oder gänzlich imaginäre Inseln. Verwirrte Kartografen versuchten, widersprüchliches Datenmaterial umzusetzen. Ständig kamen neue Inseln hinzu, denn spätestens seit Christoph Columbus nahm der Verkehr auf dem Atlantik drastisch zu – und damit die Meldungen darüber, was man angeblich dabei gesichtet hatte.

Dann waren da noch die Lügenbolde, die von Expeditionen zu wundersamen oder gefährlichen Inseln berichteten, die nur in ihrer Fantasie stattgefunden hatten. Die Brüder Zeno bereicherten 1380 die Atlantik-Karten ganzer Jahrhunderte mit der nicht gerade kleinen Insel „Frisland“, weil sie sich ärgerten, dass die venezianischen Seefahrer von der italienischen und spanischen Konkurrenz überrundet wurden. Dem konnte so gut nachgeholfen werden, dass der englische König vorsichtshalber seine Besitzrechte auf Frisland anmeldete …

Die Welt nimmt Gestalt an

Solche Geschichten sind es, die fesseln und bezaubern. Zu beobachten, wie diese Welt für ihre Bewohner jene Gestalt annahm, die wir heute kennen, ist so spannend wie ein Thriller. Natürlich geht Johnson auch auf die echten Wunder der Natur ein; Inseln, die aus dem Meer auftauchten, bald wieder versanken und womöglich später wieder auf der Bildfläche erschienen. Faszinierend ist jedoch die Erkenntnis, dass es selbst ohne solchen realen Ereignisse das Phänomen der Phantominseln gegeben hätte: Glaube versetzt nicht nur Berge, sondern kann sie sogar erschaffen!

Johnson hat sich immense Mühe mit der Recherche gegeben, um dann nicht vor dem Wust zusammengetragener Informationen zu kapitulieren, sondern klug auszuwählen. Wie ein Detektiv folgt er den Phantominseln durch die Jahrhunderte, kreist den Zeitpunkt ihrer ‚Geburt‘ ein, beobachtet ihre Entwicklung, ihre Veränderung und ihren ‚Tod‘, der zwangsläufig kommen musste, als sich die Möglichkeiten der Erdkartierung verbesserten. Diese Deduktionen führen zu erstaunlichen Ergebnissen. Unsere schockierten Franzosen von 1541 wären wahrscheinlich peinlich gerührt gewesen, hätten sie dem Nebel getrotzt, um an der „Insel der Dämonen“ anzulegen, die tatsächlich die Brutkolonie tausender Tölpel, Alken, Lummen und anderen Seevögel war, die natürlich ordentlichen Krach veranstalteten, der sich aus der Ferne recht unheimlich anhören mochte!

Den einzigen Schwachpunkt von „Fata Morgana der Meere“ stellen die Abbildungen dar. Die prachtvoll illustrierten und liebevoll verzierten Kartenwerke vergangener Jahrhunderte sprechen ihre ganz persönliche Sprache. Johnson ließ sie umzeichnen und dabei vereinfachen. Er raubte ihnen dadurch jede Individualität. Dies tat er nicht nur der Übersichtlichkeit wegen, sondern auch um sparen: Die Wiedergabe einer Originalkarte mit ihren filigranen Details ist um einiges kostspieliger als der Druck einer simplen Schwarzweiß-Zeichnung. Das sagt Johnson natürlich so offen nicht. „Fata Morgana der Meere“ ist trotzdem eine echte Sachbuch-Wundertüte, geöffnet zur Freude jedes Zeitgenossen, der (und selbstverständlich die) sich einen Sinn für die wunderbaren Seltsamkeiten der Welt um bewahren konnten!

Gebunden: 256 Seiten
Originaltitel: Phantom Islands of the Atlantic (Fredericton, New Brunswick/Canada : Goose Lane Editions 1998)
Übersetzung: Arnim Menneke
www.randomhouse.de/Verlag/Diana-Verlag

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