Sechs Männer in einer Gefängniszelle. Alle haben sie nur einen Gedanken: hinaus! Sie schmieden einen bemerkenswerten Plan, der ihnen die Freiheit bringen soll. Minuziös und die stets misstrauischen Wärter im Nacken setzen sie ihn um. Doch unter ihnen befindet sich ein Verräter … – Ungemein spannender, auch kongenial verfilmter Krimiklassiker aus Frankreich, der seine besondere Eindringlichkeit dem einschlägigen „Fachwissen“ des Verfassers verdankt, der selbst viele Jahre einsitzen musste und die Gefängniswelt als Mikrokosmos mit ureigenen Regeln beschreibt.
Das geschieht:
„Das Loch“ nennen die sechs Männer ihre Zelle 11/6 im Pariser „Prison de la Santé“. Eng ist es hier, kalt, feucht und schmutzig. Der Gefängnisalltag ist eintönig und streng reglementiert, die Wärter sind abgestumpft und nach Ansicht der Gefangenen oft unnötig brutal. Manu Borelli kommt nach einem missglückten Ausbruch ins Santé. Schon bei der Ankunft kreisen seine Gedanken um eine neue Flucht. In den Zellengenossen sieht er vor allem potenzielle Bundesgenossen. Die Chancen stehen gut: Roland Darbant gilt als notorischer Ausbrecher. Georges Cassid ist ein alter Bekannter, der kürzlich bei einem Fluchtversuch niedergeschossen wurde. Roland Vosselin, genannt „Hochwürden“, und Maurice Willman sind alte Knastveteranen, die es auch in die Freiheit und zu ihren Frauen zieht. Jean Jarinc ist ein Großmaul, aber er wird kurze Zeit später verlegt.
Rasch ist man sich einig. Bei einem Unternehmer, der billig im Gefängnis fertigen lässt, bestellt man Kartonage-Bögen, die einen großen Teil des Zellenbodens abdecken. Darunter bricht man mit organisiertem und improvisiertem Werkzeug die Betondecke zum Kriechgang unter dem Zellenblock durch. Dadurch erhält man Zugang zu den riesigen Kellergewölben, durch die sich praktisch jeder Punkt des Gefängniskomplexes erreichen lässt. Ein mannshohes Abflussrohr wird als möglicher Durchstich zur Freiheit gewählt. Zwar wurde es mit einem Betonklotz gesichert, doch die Wand der Rohres ist morsch: Man kann sich um das Hindernis herum graben!
Die Arbeit ist hart und gefährlich. Mehrfach ereignen sich Unfälle, die knapp glimpflich ausgehen. Zudem entwickelt sich der Ausbruch zu einem Wettlauf mit der Zeit: Die Gefängnisaufseher sind misstrauisch. Sie wissen nichts über die Vorgänge in Zelle 11/6, doch sie beginnen etwas zu ahnen. Der Druck auf die Männer wächst. Wird ihm jemand nachgeben …?
Mitfiebern ist mitentkommen
Die große Flucht aus dem eigentlich ausbruchssicheren Gefängnis – eine Geschichte, die auch der gesetzestreue Zeitgenosse seltsamerweise immer wieder gern verfolgt. Es geht nicht darum, dass es Verbrecher sind, die sich ihren Weg in die Freiheit bahnen. Die Story selbst ist es, die in ihren Bann zieht: Da sind Menschen, die einem mächtigen System scheinbar hilflos ausgeliefert sind. Sie werden ständig kontrolliert, beobachtet; im Grunde bleibt ihnen gar nichts übrig als sich zu beugen. Und doch triumphiert der Wille frei zu sein. Unter unsäglichen Mühen und mit unerhörtem Einfallsreichtum werden Fluchtwerkzeuge improvisiert, Wächter getäuscht, Tunnel gegraben. Ja, es sind Kriminelle, die sich hier aktiv zeigen – Autor Giovanni spricht es mehrfach deutlich an -, aber dies vergessen wir rasch. Stattdessen hoffen und bangen wir mit den Ausbrechern.
José Giovanni spielt in „Das Loch“ virtuos mit dieser Ambivalenz. Er schreibt einen Gefängnis-Roman auf mehreren Ebenen. Da ist der eigentliche Ausbruch, eine höchst verwickelte, von zahlreichen Zwischenfällen erschwerte Angelegenheit, die den Leser tüchtig Fingernägel beißen lässt. Einfachste Utensilien werden umfunktioniert und in den Dienst der Sache gesetzt. Man kann nur staunen, was sich beispielsweise mit einer einfachen Schnur anstellen lässt. Vor allem wirken diese steinzeitähnlichen Werkzeugkonstruktionen ungemein realistisch. Kein Wunder, denn „Das Loch“ ist auch die halb dokumentarische Schilderung des Alltags in einem französischen Gefängnis um 1960. Der Autor kannte diesen zur Genüge, er war als langjähriger Insasse bis ins Detail mit dem fast zeremoniellen Einerlei vertraut, der den Tagesablauf im Knast prägt. Auch als Ausbrecher hat er sich (vergeblich) versucht.
Eine fremde Welt tut sich auf. 6000 Gefangene werden nicht bestraft im Sinne von Buße mit anschließender Rehabilitierung, sondern weggeschlossen und verwahrt. Das Santé ist heillos überbelegt, die sanitären Verhältnisse schreien zum Himmel. In den Zellen sind die Männer allein mit ihren Ängsten und sexuellen Nöten – und mit ihrer Langeweile. Die Wächter sind überfordert und ausgebrannt, mechanisch erledigen sie ihren Dienst oder reagieren ihre Frustration an den Gefangenen ab. Dann gibt es noch Anwälte und die Gefängnisleitung, die indes nur größere Teile einer veralteten Justiz-Maschinerie sind, die völlig isoliert von der Außenwelt und ohne echten Zweck zu funktionieren scheint.
Ausnahmezustand als Alltag
Das Individuum ist nichts im Santé. Die Zellengemeinschaft stellt die Grundfeste dar. Schon aufgrund der ständigen Überbelegung ist es wichtig miteinander auszukommen. Dafür gibt es eigene, recht komplizierte Regeln, die Giovanni in die Handlung einfließen lässt. Man ist nicht befreundet, aber man steckt zusammen im „Loch“ und hat zusammenzuhalten gegen die Wärter und die Anwälte. Wer die Regeln nicht begreift oder gegen sie verstößt ist wie Jean Jarinc isoliert. Die Buschtrommeln funktionieren im Gefängnis ausgezeichnet. Manu Borelli weiß schon eine Menge über die Männer, die er in Zelle 6/11 treffen wird.
Giovanni begnügt sich nicht mit einer typischen „Männer-unter-sich“-Geschichte. Roland Darbant ist nie Clint Eastwood, der nur die „Flucht von Alcatraz“ personifiziert. Darbant ist ein Mensch mit entsprechenden Bedürfnissen, seinen Gefährten ergeht es ebenso. Für sie ist der Ausbruch kein sportliches Unternehmen, kein Wettbewerb mit dem System, sondern nichts als der Weg nach „draußen“, wohin es sie zieht, obwohl sie dort – welche Ironie! – weitaus weniger stark verwurzelt sind als im Knast. Im Grunde sind Darbant und Co. verdammt. Ihr Ausbruch muss misslingen, das wird bei der Lektüre rasch deutlich. Irgendwo ist der Wurm drin, schon bevor wir vom Verräter erfahren.
Der ist (sein Name bleibt hier natürlich unerwähnt) die tragische Figur der Geschichte. Er hat dem Druck nicht mehr standgehalten, hat resigniert und die Todsünde begangen zu „singen“. Der Kodex hinter Gittern mag nicht viele Kapitel besitzen, aber die Verschwiegenheit gegenüber dem „Feind“ mit der Schlüsselgewalt steht an oberster Stelle. Der Verräter kann vielleicht mit Verständnis, mit Nachsicht aber niemals rechnen. Von nun an ist er allein, schrecklich allein: Sollte ihn das Schicksal noch einmal in ein Gefängnis verschlagen, wird man dort Bescheid wissen.
Autor
José Giovanni geboren am 22. Juni 1923 in Paris, hatte wahrlich ein aufregendes Leben. Den jungen Mann zog es in die Alpen, wo er u. a. als Hotelangestellter, Holzfäller und Bergführer arbeitete. Seine Ortskenntnis ließ ihn während des II. Weltkriegs zum begehrten Kandidaten für den französischen Widerstand werden. Später kehrte er nach Paris zurück, wo er sich in der schwierigen Nachkriegszeit als Gangster versuchte. Bei einem missglückten Einbruch gab es mehrere Tote. Obwohl nachweislich unbewaffnet wurde Giovanni zum Tode verurteilt und erst nach mehreren Monaten zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe begnadigt.
In dieser Zeit begann er mit dem Schreiben. „Le Trou“ (dt. „Das Loch“), die Geschichte eines minuziös geplanten Gefängnisausbruchs, in die der Autor eigene Knasterfahrungen einfließen ließ, wurde vom Regisseur Jacques Becker als Drehbuch angekauft und 1960 sehr erfolgreich verfilmt (Die Rolle des Roland Darbant übernahm Jean Keraudy, ein bekannter Ausbrecher und Zellengenosse Giovannis.) Der Ex-Sträfling fand Geschmack an der Arbeit im Film und schrieb weitere Drehbücher. 33 wurden es insgesamt, darunter Klassiker wie „Classe tous Risques“ („Der Panther wird gejagt“, 1959), „Les Aventuriers“ („Die Abenteurer“, 1966) oder „Les Clans des Siciliens“ („Der Clan der Sizilianer“, 1969) sowie Szenarien und Dialoge. 1966 inszenierte er mit „La Loi des Survivants“ („Rache ist nicht nur ein Wort“) seinen ersten Film, der bereits typisch Abenteuer mit Melancholie mischt: Ihrer – oft kriminellen – Vergangenheit können seine gebrochenen Helden – Einzelgänger, Außenseiter – niemals entfliehen.
15 Kino- und fünf TV-Filme inszenierte Giovanni bis 2001, wobei er mit den Großen des französischen Film drehte: Jean Gabin („Deux Hommes dans la Ville“; dt. „Endstation Schafott“, 1973), Lino Ventura („Le Ruffian“ ; dt. „Der Rammbock“, 1982), Alain Delon („Le Gitan“ ; dt. „Der Zigeuner“, 1969), Jean-Paul Belmondo („La Scoumoune“; dt. „Der Mann aus Marseille“, 1972). Daneben veröffentlichte er zwanzig Kriminalromane, die wiederum oft als Vorlage für seine Filme dienten, und zwei Autobiografien. Seit 1969 lebte er mit seiner Familie recht abgeschieden in den Bergen des Schweizer Kantons Wallis. Die letzten Lebensjahre wurden durch gesundheitliche Probleme überschattet, doch Giovanni blieb als Autor bis zuletzt aktiv. Nach einer Hirnblutung ist Josè Giovanni am 24. April 2004 im schweizerischen Lausanne gestorben.
Taschenbuch: 191 Seiten
Originaltitel: Le trou (Paris : Gallimard 1962)
Übersetzung: Bernhard Kempner
Der Autor vergibt: