Michele Giuttari – Das Monster von Florenz. Anatomie einer Ermittlung (Lesung)

Ermittlung: das Monster ist die Gesellschaft

In den Jahren 1974 bis 1985 wurden in der Umgebung von Florenz sieben junge Pärchen bestialisch ermordet. Jahrelang hielt sich die These vom eigenständig handelnden Serienkiller. Als Michele Giuttari 1995 die Leitung der Mordkommission von Florenz übernimmt, stellt er fest, dass mehrfach wichtige Daten unterschlagen wurden. Offenbar hatte der Mörder mehrere Gehilfen und führte die Morde im Auftrag aus. Giuttari schafft es, den Fall neu aufzurollen. Doch als der Fall weitere Kreise zieht, passt dies gewissen einflussreichen Persönlichkeiten überhaupt nicht in den Kram. Das Blatt wendet sich gegen Giuttari …

Der Autor

Michele Giuttari, 1950 in Sizilien geboren, arbeitete für mehrere Mordkommissionen, bevor er 1995 die Leitung der Squadra Mobile in Florenz übernahm. Seine Romane um Kommissar Michele Ferrara wurden Bestseller, z. B. „Die Signatur“. Er lebt mit seiner deutschen Frau in Florenz.

Der Sprecher

Simon Jäger, geboren 1972 in Berlin. Seit 1982 arbeitet er als Synchronsprecher bei Film und TV. Er lieh u. a. Josh Hartnett, James Duvall, Balthazar Getty, River Phoenix und Jet Li seine Stimme, aber auch „Grisu dem kleinen Drachen“, und war auch in TV-Serien wie „Waltons“ und „Emergency Room“ zu hören. Seit 1998 arbeitet er zudem als Autor und Dialogregisseur.

Unter der Regie von Kati Schaefer leitete Klaus Trapp die Aufnahme. Die Musik trugen Dennis Kassel und Dicky Hank bei.

Handlung

Nach rund 30 Jahren zieht Kommissar Michele Giuttaris Abschlussbericht einen Schlussstrich unter den bizarrsten und wichtigsten Fall in der Florentiner, wenn nicht sogar der italienischen Kriminalgeschichte: der Fall des Pärchenmörders, in aller Welt auch als „Monster von Florenz“ bekannt. Doch Giuttari ist alles andere als zufrieden. Der Mörder handelte nicht allein, sondern hatte Auftraggeber, und die darf Giuttari offenbar nicht aufspüren. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm immer wieder Knüppel zwischen die Beine. Die wahren Schuldigen seien bis heute auf freiem Fuß, schreibt er.

Giuttari hatte sich anno 1992/83 als Mafiajäger ausgezeichnet und sollte eigentlich Stellvertretender Polizeipräsident werden, doch die Beförderung kam nicht. Stattdessen wurde er versetzt, um Leiter der Squadra Mobile zu werden, einer Spezialeinheit, die sowohl mit Polizei als auch Carabinieri zusammenarbeiten kann. Am 15. Oktober 1995 tritt er seinen Dienst in einem ehemaligen Irrenhaus an. Hier soll er den Fall des „Monsters von Florenz“ aufklären. Wenn man ihn lässt.

Die Mordserie

Ab dem 15. September 1974, als man die ersten beiden Leichen fand, wurden alle Morde im Umkreis von Florenz, nicht aber in der Stadt selbst begangen. Das erste Pärchen kann identifiziert werden: Sie waren verlobt. Sie wurden nicht nur erschossen, sondern auch noch mit 96 Messerstichen traktiert. Das Mädchen wurde nicht vergewaltigt, aber in ihrer Scheide befand sich ein Rebschößling. Die Schusswaffe ist in allen Fälle die gleiche: eine Beretta Longrifle Kaliber .22 mit Winchester-Munition. Die Patronenhülsen tragen immer den Aufdruck der Serie H.

In den achtziger Jahren kommt der Killer fünf Jahre lang voll auf Touren. Am 7. Juni 1981 folgt das nächste tote Pärchen, doch diesmal findet sich ein grausiges Detail, das sich bei den nächsten Frauen wiederholen soll. Die Schamteile der Frau wurden komplett entfernt. Man verhaftet den Voyeur Enzo Spaletti, muss ihn aber wieder freilassen, weil der Pärchenmörder erneut zuschlägt.

Am 22. Oktober 1981, also nur wenige Monate später, ist ihm das nächste Pärchen zum Opfer gefallen. Auch sie starben in einer Neumondnacht, doch sie hinterließen eine Menge Spuren wie etwa Haare. Ansonsten ist alles wie gehabt. Schuhspuren Größe 44 finden sich im Schlamm: ein Mann. Ein angemalter, glattpolierter Stein wird ebenso wenig wie die Haare bei Giuttari abgeliefert. Erst beim Aktenstudium stößt er darauf.

Drei Doppelmorde in Folge – inzwischen gehen Angst und Verfolgungswahn in Florenz, ja, in ganz Italien um. Jeder wird verdächtigt, die Polizei warnt die Bevölkerung vor bestimmten Orten und Verhaltensweisen.

Im Juni 1982, 1983, 1984 und schließlich im September 1985 schlägt der Killer erneut zu. Er tötet ein deutsches und ein französisches Touristenpaar. Bei den Frauen ist stets die Vagina herausgeschnitten. Wozu braucht der Killer so etwas – als Trophäe? Die Polizei, die die Squadra (Soko) Mostro gründet, lässt ein psychologisches Gutachten erstellen.

Der Verdächtige

1985 sagt das Monster dem Staat den Kampf an, indem es Beweisstücke an Staatsanwälte verschickt und sie damit wegen ihrer Unfähigkeit verhöhnt. Innenminister Scàlfaro schäumt und setzt eine Belohnung von 500 Mio. Lire (= eine halbe Mio. DM) aus. Die Ermittlungen von Polizei und Carabinieri gehen fünf Jahre weiter, bis nur noch ein Verdächtiger übrig bleibt: Pietro Pacciani.

Der 65-jährige Pacciani, der jahrelang seine eigenen Töchter missbraucht hat und durch Gewalttätigkeit auffiel, hat bereits 1951 einen Rivalen getötet und war dafür 13 Jahre in Haft gewesen, bis er 1964 freikam. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung ab dem 11.6.1990 findet die Polizei neben pornografischen Zeichnungen auch Zeitungsartikel über die Pärchenmorde sowie satanistische Objekte. Eine passende Patronenhülle wird 1991 gefunden, und 1992 denunzieren verschiedene anonyme Schreiber Pacciani.

Zeitdruck

Am 16.1.1993 wird er verhaftet und im April 1994 vor Gericht gestellt, wobei er immer wieder seine Unschuld beteuert. Am 1. November 1994 verurteilt ihn das Gericht zu lebenslänglicher Haft, doch Pacciani geht sofort in Berufung. Dieser zweite Prozess soll am 1. Februar 1996 beginnen. Zwischen seinem Amtsantritt im Oktober 1995 und dem 1.2.96 bleiben also Giuttari nur wenige Wochen Zeit, um Paccianis Schuld erneut zu belegen!

Mein Eindruck

Dies ist ein Polizeibericht. Das sollte man sich stets vor Augen halten. Man muss sich schon ziemlich gut mit Polizeiarbeit auskennen, um alle Abläufe nachvollziehen zu können. Von der Ermittlung mittels Spurensicherung, Zeugenvernehmung bis zur Einschaltung des zuständigen Staatsanwalts und schließlich Anklageerhebung ist es oft ein weiter Weg. Dieser Ablauf hat spezifische Phasen, die genau befolgt werden, ohne dass der Erzähler sie auch nur im Geringsten erklären würde. So läuft es eben, so und nicht anders, basta!

Die Details sollen uns auch nicht weiter kümmern, denn schließlich gilt es, eine Geschichte zu verstehen und zu interpretieren. Diese Geschichte ist in keiner Weise unterhaltsam. Wie gesagt: Dies ist ein Polizeibericht. Die bewegendsten Szenen sind stets die Zeugenvernehmungen. Ob es nun ein Komplize Paccianis ist oder eines seiner Opfer, das er missbraucht statt getötet hat, stets handelt es sich um eine menschliche Begegnung. Giuttari stellt sie uns in denkbar knappster Form dar, doch nach einer Weile hat man ein Gespür dafür entwickelt, welche Tragödien sich hinter den dürren Worten verbergen. Ausgebeutete Hausfrauen, missbrauchte Huren, erpresste Homosexuelle und Komplizen, eine ganze Mordserie an Florentiner Prostituierten – und schließlich die Spur zu einem Auftraggeber, einem Arzt.

Doch ausgerechnet an den kommt Giuttari nicht heran. Die Staatsanwälte sabotieren den Fall, verschleppen Genehmigungen. Giuttari soll versetzt, befördert werden, wird schließlich suspendiert, als er sich erfolgreich dagegen zur Wehr setzt, abgeschoben, um von diesem Fall abgezogen zu werden. Was steckt dahinter, fragt er sich? Wer hat die Beweismittel unterschlagen? Warum werden die Hintermänner der Auftragsmorde geschützt? Wer hält seine schützende Hand über sie? Wer zahlte an Pietro Pacciani die enorme Summe von 157 Millionen Lire und sorgte dafür, dass er in der Berufung freigesprochen wurde?

Als ein engagierter Staatsanwalt in Perugia einem mysteriösen Selbstmord eines Arztes nachspürt und auf unzählige Ungereimtheiten stößt, ergeben sich eine Reihe von Verbindungen zu den Morden in der Region Florenz. Giuttari lobt Staatsanwalt Mignini ausdrücklich wiederholt, doch auch dessen Ermittlungen werden sabotiert und verschleppt. Nach der Exhumierung stellt sich heraus, dass der Selbstmörder nicht der Mann ist, der im Grab liegt! Der Staatsanwalt Fioravanti wird beinahe überfahren!

Immerhin: Zwei von Paccianis Komplizen werden in einem dritten Prozess verurteilt, und Pacciani stirbt 1998, nur wenige Jahre nach seiner Freilassung, allerdings unter merkwürdigen Umständen. Auch sein Komplize Lotti segnet das Zeitliche, und der zweite Komplize Mario Vanni fristet seinen Lebensabend im Altersheim statt im Knast. Nachdem im November 2005 in Giuttaris Büro mit einem Schlüssel (!) eingedrungen und sein Büro völlig verwurstet wurde, weiß der Kommissar, dass nun Feierabend ist und schließt die Akte. Denn die Hintermänner sitzen – aber das sagt er nie – offenbar im eigen Justizapparat.

Das „Monster von Florenz“: Das ist kein Einzelner, sondern eine ganze Bande. Und weil er gedeckt wird, kann man sagen, dass es sich beim „Monster“ um die Gesellschaft handelt. Genau jene Gesellschaft, vor der Giuttari sie schützen soll …

Der Sprecher

Simon Jäger, die deutsche Stimme von Heath Ledger und Josh Hartnett, ist ein sehr fähiger Sprecher für gruselige und spannende Texte. Er hat bereits für den Eichborn/Lido-Verlag Geschichten von H. P. Lovecraft effektvoll vorgetragen. Leider kann er in Giuttaris Polizeibericht seine Stärken fast gar nicht ausspielen, sondern muss vielmehr sehr sachlich vortragen.

Aber es gibt auch emotionale Dialoge. Wenn Beschuldigte wie Pacciani oder Fernando Pucci aufbrausend und ablehnend reagieren, so kann Jäger seine tiefe Stimme zu voller Lautstärke „aufdrehen“. Auch dann, wenn ein anonymer Anrufer Giuttari mit dem Schlimmsten bedroht. Dann benutzt Jäger eine geradezu fauchende Stimmlage. Selten, dass mal ein Zeuge zögernd und stockend aussagt. Ganz anders hingegen die Frauenfiguren. Sie werden fast durchgehend mit weicher, eher leiser Stimme porträtiert. Leider sind solche emotionalen Szenen viele zu selten.

Da es Geräusche überhaupt nicht gibt und Musik nur als In- und Outro, sind darüber nur wenige Worte zu verlieren. Die Musik besteht aus einem Streichermotiv als Fundament, über das ein Piano elegische Molltöne tröpfelt.

Unterm Strich

Dieses Hörbuch ist ein Polizeibericht und damit eine wenig unterhaltsame, sehr sachliche, alles andere als glamouröse Veranstaltung. Der Bericht prescht durch die Termine, das Personal ist recht umfangreich, die Vorgänge in den Behörden sind für den Unvorbereiteten verwirrend und der Ausgang unbefriedigend: Es gibt keine Lösung des Falles. Denn wie gesagt, handelt es sich beim „Monster von Florenz“ um keinen Einzeltäter, sondern um eine Bande von Killern, die von Hintermännern beauftragt wurde. Das Monster, das ist die Gesellschaft. Und diese hat kein Interesse daran, sich selbst auf die Anklagebank zu schicken. Harte Fakten, harte Konsequenzen.

Das Hörbuch wird von Simon Jäger sachlich und mitunter auch emotional gestaltet. Als deutsche Stimme von Josh Hartnett („Black Hawk Down“) liest Jäger schnell, aber deutlich und präzise. Das ist angemessen für den Polizeibericht eines Kommissars. Man muss es akzeptieren oder zu etwas anderem greifen. Ich fand jedenfalls die Richtungen, in die Giuttaris Ermittlungen gingen, höchst interessant und aufschlussreich. So also wird in Italien die Polizei- und Justizarbeit behindert, ja, die Ermittler werden sogar nicht selten an Leib und Leben bedroht. Ein Mafiajäger wie Giuttari dürfte das gewöhnt sein.

Originaltitel: Il mostro. Anatomia di un indagine, 2006
Aus dem Italienischen übersetzt von Katharina Förs und Rita Stuß
259 Minuten auf 4 CDs

http://www.luebbe.de/luebbe-audio

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