H. P. Lovecraft – Der Fall Charles Dexter Ward

Ein unvorsichtiger Privatforscher erweckt einen bösen Hexenmeister zum Leben. Der Schurke nimmt seine Stelle ein, um seinem blasphemischen Handwerk erneut nachzugehen, bis sich zwei beherzte Männer gegen das Grauen stellen … – Locker dem „Cthulhu“-Zyklus angehörend, erzählt Autor Lovecraft die bekannte aber spannende Geschichte vom Zauberlehrling, der nicht mehr los wird, was er gerufen hat. Die hier neu übersetzte, fachkundig kommentierte sowie illustrierte Geschichte enthüllt sich gekonnt pseudodokumentarisch aus alten Dokumenten, Berichten, Zeitungsartikeln etc., bis sie ihren Bogen im Finale in einem wahren Pandämonium vollendet.

Das geschieht:

Seit jeher galt Charles Dexter Ward aus Providence, Rhode Island, als frühreifes Wunderkind. Da seine Familie mit Reichtum gesegnet ist, kann er sich seinen historischen Privatstudien ungehemmt hingeben. Eine schlimme Wendung nimmt sein Leben, als ihm der Zufall alte Dokumente in die Hände spielt, die von seinem Vorfahren Joseph Curwen künden. Dieser war im 18. Jahrhundert ein Naturwissenschaftler, der sich später in einen Hexenmeister verwandelte. In diesem Metier war er offenkundig erfolgreich, da mit einem unnatürlich langen Leben gesegnet wurde. Auch mit den Toten konnte er angeblich sprechen. Man fürchtete ihn, doch Curwen trieb es schließlich zu weit mit seinen satanischen Künsten; in einer Aprilnacht des Jahres 1771 rotteten sich verängstige und wütende Bürger aus Providence zusammen, zerstörten sein Labor und bliesen ihm das Lebenslicht aus.

Bei seinen Nachforschungen kommt Ward der Wahrheit zu nahe. Er findet heraus, wie Curwen die Toten wecken und sich unterwerfen konnte. Leider ist er naiv genug, sich zwecks Bestätigung ausgerechnet an der Leiche des Vorfahren zu versuchen. Der böse Curwen hatte einst Vorsorge dafür getroffen, dass auch sein Tod nicht endgültig ist, sollte nur jemand so klug – oder dumm – sein, seine Leiche zu finden und der erforderlichen Prozedur zu unterziehen.

Charles Dexter Ward beginnt sich im Denken und Handeln grundlegend zu verändern. Seine Familie und Freunde erschrecken und fürchten sich. Fast könnte man glauben, ein Fremder stünde vor ihnen Dr. Willett, der Familienarzt, und Ward senior beginnen verzweifelt, Charles‘ Weg in den vermeintlichen Wahnsinn nachzuspüren. Sie geraten in einem Pfuhl wahrlich kosmischen Grauens, das nur auf die Gelegenheit lauert, über die Welt herzufallen …

Ein Dokument des Grauens

Es ist schon erstaunlich, dass eine umständlich erzählte Geschichte, die zudem den nichtssagenden Titel „Der Fall Charles Dexter Ward“ trägt, so unerhört spannend ist. Howard Phillips Lovecraft hat es weder sich noch seinen Lesern jemals einfach gemacht und sich an die angeblichen Konventionen des phantastischen Genres gehalten, d. h. trivialen Buh!-Grusel für schlichte Gemüter gedrechselt. Stattdessen nahm er seine Arbeit und sein Publikum ernst. Heute heißt ihn die (wohlwollende Fraktion der) Literaturkritik einen Nachfolger des großen Edgar Allan Poe und akzeptiert ihn als modernen Mythenschöpfer.

Das kommt sicherlich nicht von ungefähr. Bei aller Umständlichkeit weiß Lovecraft, wie man das Grauen schürt. Er kennt dessen Mittel und Wege zugegebenermaßen besser als die Methode, die Handlung durch Aktion voranzutreiben. Dies ist ihm nur bedingt gegeben; bei Lovecraft ist der Weg zum Grauen das Ziel. Kurz vor dem finalen Aufdecken der Karten geschieht noch immer etwas, das den Schleier nicht wirklich über dem Geschehen hebt, was gut ist, da es primär die Fragmentierung des geschilderten Horrors ist, der den Leser fesselt, der sich die Lücken selbst schließen muss.

Der heutige Horror-Freund mag sich allmählich vor Langeweile winden, doch Lovecraft schreibt in einer anderen Zeit. Er hat viel Zeit bzw. nimmt sie sich, seine an sich mit wenigen Worten nachzuerzählende Geschichte zu präsentieren. Bevor es überhaupt losgeht, folgen gleich zwei Rückblicke auf ein ganz anderes Leben; Charles Dexter Ward ist eigentlich nur Randfigur in seiner eigenen Geschichte.

Hexerei in den Vereinigten Staaten

Es geht um Joseph Curwen und seine unheimlichen Verbündeten. Ihr fast zweihundertjähriges Wirken & Wüten ersteht aus fiktiven Tagebucheinträgen, Zeitungsberichten, Chroniken usw., die Lovecraft mit immensem Talent im Stil ihrer jeweiligen Epoche nachschöpft. Immer beschränkt er sich auf Andeutungen bzw. auf (scheinbar) Dokumentarisches, will ‚sachlich‘ bleiben, macht deutlich, dass knapp hinter den Kulissen Schreckliches vorgeht. In diesen Passagen wirkt „Der Fall Charles Dexter Ward“ besonders nachhaltig.

Lovecraft gibt erst im letzten Drittel dem Freund des eher handfesten Horrors, wonach ihm verlangt. Auch hier gelingen ihm Szenen eindringlichen Schreckens, die aber die Intensität des früheren Rätselns nicht erreichen können. Freilich ist die Auflösung eines Rätsels meist irgendwie enttäuschend. Echte Überraschungen bleiben in der Regel aus, und Lovecraft ist bei aller Genialität in seinen Mitteln eingeschränkt: Das einzige Gefühl, das er zu wecken vermag, ist Schrecken. Mit seinen menschlichen Protagonisten weiß er ansonsten wenig anzufangen. Sie bleiben Spielfiguren auf dem Schachbrett seines kosmischen Schreckens und als solche flach, so dass man an ihrem Schicksal wenig Anteil nimmt.

Alter Ego eines Außenseiters

Charles Dexter Ward: Pechvogel, tragische Held, Zauberlehrling, der nicht mehr los wird, was er ohne Arg aber in Unkenntnis möglicher Konsequenzen rief. Lovecraft spricht es im Schlusskapitel noch einmal deutlich aus: Charles ist kein Hexenmeister des Mittelalters wie sein Vorfahr, sondern ein Wissenschaftler der Moderne, der sich von einem prinzipiell reinen Wissensdurst hinreißen lässt. Dafür zahlt er den höchsten Preis, der möglich ist; der liebenswerte, leicht lebensuntaugliche, allzu arglose junge Mann gerät einem echten Haifisch vor die Fänge.

Dieser Joseph Curwen ist Wards dunkles Spiegelbild. Er ist mehr Alchimist als Forscher. Vor allem stellt er seine Begierden bedingungslos über Gesetz und Moral. Curwen will wissen und herrschen. Mit Gewalt herrscht er über seine Totenwelt, foltert die Geister unglücklicher Genies, erpresst ihr verlorenes Wissen, um es für sich auszunutzen. Seine Gier wird ihm schließlich zum Verderben: Die Dämonen, die Curwen mit Zauberei in seinen Dienst zwingt, sind verständlicherweise wenig erbaut davon und lauern auf ihre Gelegenheit, es dem verhassten Herrn heimzuzahlen. Diese kommt schließlich, muss kommen, denn Curwen wird unvorsichtig und zitiert übernatürliche Mächte zu sich, die er nicht beherrschen kann.

Die dritte Seite des Dreiecks bildet Dr. Wittell; man kann ihn auch als Stimme der Vernunft bezeichnen. Anders als Curwen und Ward versteht er zwar, aber er lässt sich von der Verlockung der Macht nicht versuchen. Deshalb können ihm die Mächte der Finsternis letztlich nichts anhaben. Der Preis, den Wittell zahlen muss, ist der Verlust seines Seelenfriedens, denn das Gefüge seiner Welt ist ins Wanken geraten. In dieser Hinsicht sind ihm Curwen und Ward überlegen: Sie akzeptieren keine Grenzen, sondern bemühen sich sie zu überwinden.

Stein in einem kosmischen Mosaik

„Der Fall Charles Dexter Ward“ gehört zum berühmten Cthulhu-Zyklus, obwohl der krakenköpfige Unhold sich dieses Mal nicht persönlich blicken lässt. Es sind seine Diener, mit denen es Ward zu tun bekommt; dies reicht, um ihm das Leben zur Hölle zu machen. Nebenbei erfährt der Leser weitere Details des von den „Alten Göttern“ beherrschten Universums. Wie immer beschränkt sich Lovecraft klug auf Andeutungen: Die urzeitlichen Unholde würden gar zu deutlich ins Licht gezerrt ihren Schrecken schnell verlieren. Diesen Vorwurf kann man Lovecraft nicht machen, der uns hier auf der Höhe seiner schriftstellerischen Kraft in den Bann zieht.

Dabei war die Veröffentlichungsgeschichte Lovecraft-typisch unglücklich. Der Verfasser schrieb diesen Kurzroman bereits 1927. Er weigerte sich generell, seine Texte ‚mainstreamtauglicher‘ zu gestalten. Stattdessen legte er verlagsseitig abgelehnte Storys meist beiseite und schrieb etwas Neues. „Der Fall Charles Dexter Ward“ erschien erst 1943 – sechs Jahre nach Lovecrafts Tod. Dieses Mal hatte er selbst sein Werk für zu minderwertig gehalten; eine Fehleinschätzung, die erst nachfolgende Leser- und Kritiker-Generationen korrigierten.

2016 erfuhr „Der Fall Charles Dexter Ward“ hierzulande eine neue, d. h. neu übersetzte, dabei behutsam modernisierte und durch Hintergrundinformationen interessant ergänzte Neuausgabe. Auf den Seiten 234-248 präsentierte sie Bilder des Fotografen Donovan K. Loucks. Sie zeigen Providence, Lovecrafts geliebte Heimatstadt. Loucks hielt Häuser und Orte fest, die Lovecraft prägten, weshalb er sie in seinen Erzählungen immer wieder beschrieb. Darüber hinaus suchte und fand Loucks Häuser, in denen Lovecraft wohnte und die erhalten blieben.

Der Literaturwissenschaftler und Phantastik-Spezialist Sunand Tryambak Joshi ordnet in einem Vorwort (S. 7-33) den Kurzroman in Lovecrafts Gesamtwerk ein. Darüber hinaus kommentiert er Lovecrafts Novelle, deren Text er durch zahlreiche Fußnoten ergänzt. Sie künden von seinem Wissen: Joshi schrieb 1996 „H. P. Lovecraft: A Life“. Diese Biografie ersetzte die umfangreiche aber aus Joshis Sicht lücken- und fehlerhafte Vita, die L. Sprague de Camp (1907-2000) 1975 vorgelegt hatte. 1997 ließ Joshi „The Annotated H. P. Lovecraft“ folgen. Nach diesem Buch galt er endgültig als fundierter (und nach Ansicht mancher Über-Fans allzu kritischer) Lovecraft-Kenner. Über dessen Leben und Werk schrieb Joshi zahlreiche Artikel. Für Aufsehen sorgte 2015 seine Entscheidung, die ihm 2005 und 2013 verliehenen „World Fantasy Awards“ zurückzugeben. Sie hatten bis dato die Gestalt einer Lovecraft-Büste besessen. Die „World Fantasy Convention“ befand dies nach kritischen Mahnungen für politisch unkorrekt, weil Lovecraft ein Rassist gewesen und deshalb vorbilduntauglich sei – ein Urteil, das Joshi für falsch und unterwürfig hält, was er durchaus begründen kann.

Autor

Howard Phillips Lovecraft wurde am 20. August 1890 in der neuenglischen Stadt Providence, Rhode Island, geboren. Der Vater, ein Handelsvertreter, starb bereits 1898 im Wahnsinn. Die ebenfalls labile Mutter und zwei Tanten zogen Howard auf, der sich als Wunderkind erwies, mit drei Jahren zu lesen und mit sechs zu schreiben begann. Die arabische Vorgeschichte, dann das griechische Altertum begeisterten ihn. Er entwickelte sich zum belesenen aber nicht wirklich gebildeten Bücherwurm.

1917 begann Lovecraft ‚ernsthaft‘ phantastische Kurzgeschichten zu schreiben, nachdem er zuvor Poesie und Essays den Vorzug gegeben hatte. 1924 heiratete er und zog mit seiner Gattin nach New York. Dort kam er in Kontakt mit den „Pulp“-Magazinen, deren Herausgeber zwar schlecht zahlen aber stets neues Material suchten.

In der großen Stadt konnte sich Lovecraft nicht einleben. Die Ehe scheiterte. Schon 1926 kehrte Lovecraft nach Providence zurück. In den zehn Lebensjahren, die ihm blieben, führte er das zurückgezogene und sehr bescheidene Leben eines mäßig erfolgreichen Unterhaltungsschriftstellers. Als solcher machte er beachtliche Fortschritte und schuf die Cthulhu-Saga.

Lovecraft verfügte nie über die Energie oder das Selbstbewusstsein, aktiv an seiner Karriere zu arbeiten. Seine Werke erschienen unter Wert in billigen Magazinen, wo sie die Leser oft genug irritierten, wenn sie nicht sowieso von den Herausgebern abgelehnt wurden. Lovecraft versuchte nie, diese Geschichten anderweitig unterzubringen. Zu seinen Lebzeiten erschien überhaupt nur ein Buch in einem obskuren Kleinverlag. Am 15 März 1937 erlag H. P. Lovecraft einem Krebsleiden.

Dass er nicht in Vergessenheit geriet, verdankt er den Bemühungen zweier junger Verehrer. August Derleth und Donald Wandrei gründeten 1939 den Verlag „Arkham House“, um Lovecrafts Werk zu veröffentlichen. Nach schwierigen Anfängen traten Cthulhu & Co. einen bemerkenswerten Siegeszug an. In der phantastischen Literatur nimmt H. P. Lovecraft längst den ihm gebührenden Platz als kauziger, allzu sehr in Adjektive verliebter, aber origineller Mann mit großen Visionen ein, der den klassischen Horror um die Komponente Science-Fiction erweiterte, ohne dem Gernsbackschen Traum von der perfekt technisierten Zukunft hinterher zu laufen. Stattdessen schuf Lovecraft etwas Eigenständiges: ein alternatives Universum mit eigenen Naturgesetzen, so konsistent in seiner Darstellung, dass es uns, die wir um seine fiktive Natur wissen, erstaunlich real erscheint.

Mit H. P. Lovecraft und seinem Werk beschäftigen sich unzählige Websites. Eine der schönsten ihrer Art ist www.hplovecraft.com.

Klappenbroschur: 253 Seiten
Originaltitel: The Case of Charles Dexter Ward (Sauk City : Arkham Press 1943)
Übersetzung: Andreas Fliedner
www.golkonda-verlag.de

E-Book: 8296 KB
ISBN-13: 978-3-944720-60-9
www.golkonda-verlag.de

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