Jidi & Ageng – Der freie Vogel fliegt (Band 1)

Inhalt
Das Mädchen Lin Xiaolu besucht in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in der westchinesischen Stadt Chengdu eine Mittelschule mit Schwerpunkt Kunst und Gestaltung.

Während ihrer Grundschulzeit war sie von ihrem Vater und ihrer Klassenlehrerin zum „Taugenichts“ abgestempelt worden, weil sie astronomisch schlecht in der Schule war und lieber zeichnete als zu lernen.

Dem Augenschein nach wirkt sie etwas autistisch veranlagt, hinter ihrem ausdruckslosen Gesicht mit schwer zu deutender Miene verbergen sich jedoch eine reiche innere Gedankenwelt und eine Seele voller Imagination und Einbildungskraft.
Sie fürchtet sich vor dem Umgang mit anderen allzu lebendigen Mitgliedern der menschlichen Spezies und sie hat panische Angst davor, ins Blickfeld anderer Menschen zu geraten und sich vor ihnen bloßzustellen.

Aber dennoch interessiert sie sich lebhaft für die Schicksale anderer Menschen. In ihrer Phantasie gibt es einen Schutzgeist, der sich im Verborgenen um den Kummer der Menschen rundherum annimmt und deren Probleme im Stillen löst.
Als sie klein war, schwärmte sie für Saint Seiya, ein Held aus einem Manga, jetzt schwärmt sie für einen Jungen namens Han Che.

Doch selbst wenn morgen der Weltuntergang bevorstünde, so würde sie doch niemals ihre Gefühle gegenüber Han Che offenbaren … (Verlagsinfo)

Mein Eindruck:

Lin Xiaolu – ein äußerst interessantes, chinesisches Mädchen, das die Mittelschule besucht und mit vermutlich allem konfrontiert wird, was für dieses Alter normal ist: Schlechte Noten, der erste Schwarm, Zukunftsideen/-probleme. Und das alles gemischt mit einer guten Portion fantasievoller Einbildung, in der vor allem Hasen und Doraemon eine wichtige Rolle spielen. Denn Lin Xiaolu ist nicht nur ein Mädchen unter vielen, sondern weist einige besondere Charakterzüge auf. So lebte sie vor ihrer Mittelschulzeit beispielsweise in ihrer eigenen kleinen Welt, in der Hasen Parties feierten und sie stets unterstützten. Und als diese Realitätsferne sie plötzlich verließ, erfüllte sie eine gewisse Melancholie.

Es scheint jedoch beinahe so, als würde diese verschwinden, als das junge Mädchen irgendwann einen Schwarm findet. Han Che, der ‚tuschebesprenkelte Junge‘ (aka ‚Der Tuschejüngling‘), wie auch ein Kapitel heißt, geht auf dieselbe künstlerische Schule wie Xiaolu. Was nicht bedeutet, dass sie sich auch dort begegnen, das wäre ja viel zu simpel gedacht. Stattdessen sieht Xiaolu, wie Han Che eines Tages mit Malkreiden eine Zeichnung an einer Wand anbringt, woraufhin sie völlig hin und weg ist. Ob sie sich jetzt in den Jungen oder in dessen künstlerisches Talent verliebt hat, ist nicht ganz ersichtlich, eines ist dafür umso gewisser: Sie ist völlig vernarrt in ihn. Anstatt jedoch mit ihm zu sprechen, stalkt sie ihn regelrecht, findet heraus, wo er wohnt, wo er oft hingeht usw. Wo sie sich in ihrem Kopf zuvor noch eine eigene kleine Welt zusammengestrickt hatte, scheint sie in diese nun auch Han Che einzubauen. So wird dessen vermeintlicher Lieblingsladen schnell zu seiner ‚Geheimbasis‘… ohne dass er von seinem Glück weiß.

Bedenkt man jedoch die Umgebung, in der Lin Xiaolu sich befindet, erscheint ihre allzu fantasievolle Realitätsferne gar nicht mehr so abwegig. Was bleibt ihr auch viel übrig, wenn ihr Vater und ihre alte Lehrerin sie als ‚Taugenichts‘ und ‚Nichtsnutz‘ bezeichnen, nur weil sie lieber malt, anstatt zu lernen? Selbst ihre ehemaligen Mitschüler hatten sie schräg angeguckt und Abstand zu ihr gehalten, weil sie in ihren Augen viel zu locker mit der Scheidung ihrer Eltern umgegangen war. Sie ist also eigentlich nur ein Kind, das vor der grausamen Realität flieht und dabei eindeutig bessere Methoden hat als manch andere Person. Wobei ‚grausam‘ in diesem Buch relativiert wird. Xiaolus Erinnerungen zeigen zwei Szenen, in denen einmal ihr Vater und einmal ihre Lehrerin als sehr stark und böse dargestellt werden – jeweils mit dem Hinweis, dass es bloß ihrer Erinnerung entspricht und nicht etwa auf häusliche Gewalt oder Züchtigung zurückzuführen ist… Wie das Ganze nun wirklich war, werden wohl nur die Beteiligten wissen – ohne an dieser Stelle irgendjemandem irgendetwas unterstellen zu wollen!

Abseits des chinesischen Alltags habe ich tatsächlich auch noch etwas an kulturellem Wissen gewonnen. Denn in ‚Der freie Vogel fliegt‘ wurde nicht nur das Leben einer Mittelschülerin per se beschrieben, sondern es wurden tatsächlich auch ein paar Informationen über Antoni Gaudì geliefert. Darüber hinaus haben Jidi und Ageng indirekt sogar auf eher politische Punkte des chinesischen Lebens hingewiesen, wie etwa die Tatsache, dass Jungen dort mehr wert sind als Mädchen.

Auffällig sind ferner die Schuluniformen. Wenn ich bislang an asiatische Schuluniformen gedacht habe, kamen mir Blusen und Röcke, Jackets und Hosen, vielleicht noch Krawatten oder Schleifen in den Sinn. Das ist hier weit verfehlt. An dieser Mittelschule sehen die Schuluniformen aus wie Sportanzüge. Das ist zunächst doch etwas befremdlich, doch wenn der Leser bedenkt, dass es sich um eine Schule mit Schwerpunkt Kunst – wo also viel gemalt wird – handelt, ist das Ganze gar nicht mehr so unsinnig. Schließlich wäre es ein Desaster, weiße Blusen und Hemden mit Farbe zu bekleckern…

Äußerst rührend sind auch der Grund für die Geschichte sowie der mit ihr verfolgte Zweck, Kindern zu zeigen, dass sie ihre Träume und Ziele nicht aufgeben und sich nicht unterkriegen lassen sollten, was beides im Nachwort erwähnt wird. Nachworte sind ja meistens eher ein ‚wir haben viel gearbeitet‘ und ‚danke an…‘. In diesem Fall sind mir jedoch tatsächlich die Tränen gekommen, gerade was Jidis Nachwort zu der deutschen Auflage, in welchem sie auch Verbindungen zu ihrem eigenen Leben zieht, angeht.

Wer Chinesisch lernt, wird von diesem Buch begeistert sein, womit ich nicht die Story an sich meine. Denn diese Ausgabe ist zweisprachig verfasst – die erste Hälfte beinhaltet die Geschichte auf Deutsch, die zweite Hälfte auf Chinesisch. Ich kann mir gut vorstellen, dass es eine gute Übung für die eigenen Chinesischkenntnisse ist, die Geschichte lesen und direkt überprüfen zu können. Darüber hinaus findet sich am Ende sogar eine Vokabelliste. So lässt sich hier der Spaß an der Geschichte/am Lesen und am Lernen also bestimmt super verknüpfen.

Anzumerken ist, dass viele Anime-Figuren dargestellt oder erwähnt werden, was aber größtenteils wohl daran liegt, dass Lin Xiaolu ein unglaublicher Comic-Fan ist. Beispielsweise hat sie sich bei der Scheidung ihrer Eltern statt um diese mehr um das Überleben ihres Lieblingscharakters gekümmert, was nicht bei allen Personen gut ankam. Jedenfalls muss ein Leser kein Anime-Fan sein, um die Referenzen zu verstehen, denn vor dem Nachwort befinden sich einige Erläuterungen zu einzelnen Charakteren bzw. Manga-Reihen.

Fazit:

Zumindest laut Amazon liegt die Altersempfehlung für dieses Buch bei 14-17 Jahren. Ich muss jedoch sagen, dass ich es auch darüber hinaus sehr empfehlen kann. Beim Lesen wurde ich gefragt, ob es sich bei diesem Buch um ein Kinderbuch handelte, worauf ich am Anfang keine wirkliche Antwort wusste. Nach dem Lesen kann ich dieser Vermutung jedoch nur widersprechen. Klar, es ist bestimmt interessant für (insbesondere in China lebende) Jugendliche, dieses Buch zu lesen und zu sehen, dass sie mit all den Problemen und Dingen, die sie belasten, nicht alleine sind. Jedoch ist es auch darüber hinaus sehr interessant, zu sehen, wie das Leben eines Schülers in China sein kann.

Im Großen und Ganzen hat mir das Buch sehr gut gefallen. Lediglich zwei Punkte sind als negativ anzumerken, wobei das wirklich schon meckern auf hohem Niveau ist. Zum einen wurden die Aufschriften auf Postern, Reklametafeln usw. (also stets dort, wo chinesische Schriftzeichen zu finden sind) ohne richtigen Verweis übersetzt. Der Leser weiß zwar, dass auf Seite X jener Satz oder jenes Wort steht, kann ihn/es teilweise jedoch nicht genau zuordnen, wenn auf einer Seite mehrere Zeichen zu finden sind. Und zum anderen wurde so ziemlich alles übersetzt, mit Ausnahme der Inhaltszusammenfassungen am Ende, mit denen ich als nicht im Chinesisch Bewanderte also nichts anfangen konnte.

Sehr gut gefallen hat mir jedoch wiederum das Spiel mit dem Kontrast zwischen Einsamkeit und Freundschaft/Gemeinschaftsgefühl, welches sich sowohl in der Geschichte bzw. dem Text als auch in den Zeichnungen widerspiegelt.

Ich bin also insgesamt sehr zufrieden mit diesem Comic und kann ihn nur wärmstens weiterempfehlen!

Taschenbuch: 288 Seiten
Originaltitel: Dianjiao zhangwang (踮脚张望1) / Standing on your tiptoe
Aus dem Chinesischen von Martina Hasse
ISBN-13: 978-3905816723

www.chinabooks.ch

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