Joachim Körber (Hg.) – Das vierte Buch des Horrors

koerber buch des horrors 4 cover brcInhalt:

In zehn Erzählungen wird die Entwicklung der unheimlichen Literatur zwischen 1870 und 1900 nachgezeichnet:

– Vorwort, S. 7-10

– Gustav Adolfo Becquer: Das Teufelskreuz (La cruz del diablo, 1871), S. 11-34: Der böse Ritter rächt sich für seinen Tod und lässt sich als Gespenst auch mit Gottes Hilfe nur schwer unterwerfen.

– Villiers de l’Isle-Adam: Vera (Vera, 1874), S. 35-48: Die Trauer des Witwers ist so stark, dass er die verstorbene Gattin durch die Kraft der Einbildung scheinbar ins Leben zurückholt.

– Robert Louis Stevenson: Der Leichendieb (The Body Snatcher, 1884), S. 49-62: Der skrupellose Arzt entledigt sich scheinbar perfekt eines Erpressers, doch dieser rächt sich für sein grausige Ende.

– Bram Stoker: Die Dualisten oder Der Todesfluch der Zwillinge (The Death Doom of the Double Born, 1887), S. 63-84: Zwei bitterböse Buben treiben erst vandalistische Scherze, um sich bis zu Verleumdung und Mord zu steigern.

– Ambrose Bierce: Die mittlere Zehe des rechten Fußes (The Middle Toe of the Right Foot, 1891), S. 85-96: Ein finsterer Streich sollte dem straffrei entkommenen Strolch gestellt werden, was den Geistern seiner Opfer die Möglichkeit zur Rache verschafft.

– Charlotte Perkins Gilman: Die gelbe Tapete (The Yellow Wall Paper, 1892), S. 87-120: Das seltsame Muster der Wandverkleidung treibt eine ohnehin nervenschwache Frau endgültig in den Wahnsinn.

– Francis Marion Crawford: Die obere Koje (The Upper Berth, 1894), S. 121-154: Wer in diesem Bett schläft, geht des Nachts über Bord; zwei Männer, die das Rätsel lösen wollen, entdecken wesentlich mehr, als sie erfahren wollten.

– Matthew Phipps Shiel: Huguenins Frau (Huguenin’s Wife, 1895), S. 155-170: Die seltsame Verbindung zwischen einem wirren Dichter und seiner toten Gattin lässt auf einer einsamen griechischen Insel buchstäblich das Feuer der Hölle ausbrechen.

– Robert William Chambers: Der Erschaffer von Monden (The Maker of Moons, 1896), S. 171-236: Im nordamerikanischen Urwald stößt eine Jagdgesellschaft auf einen bösen chinesischen Zaubermeister und seine Schergen.

– Arthur Machen: Die weißen Gestalten (The White People, 1899), S. 237-291: Schon an ihrer Wiege standen Feen oder Kobolde, die allerdings Vertreter eines uralten, verderbten Volkes sind und ihr Opfer immer tiefer in den Sog des Bösen treiben.

– Anhang I: Zur weiteren Lektüre empfohlen, S. 292-300
– Anhang II: Quellen- und Rechtenachweis, S. 301-303

Horror zwischen Literatur und Genre

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Aufklärung, unterstützt durch eine Flut naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Errungenschaften, der ‚Realität‘ des Gespenstes, des wiederkehrenden Toten oder des Werwolfs weitgehend den Garaus gemacht. Der Spuk, vor dem man sich einst gefürchtet hatte, war gebannt aber nicht vergessen; die zeitgenössische Haltung entsprach der des Helden aus Grimms „Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen“, der immer wieder seinen Herzenswunsch äußert: „Ach, wenn’s mir nur gruselte!“

Das Vergnügen an einer ungefährlichen Angst hatte die Romantik des frühen 19. Jahrhunderts bedient. Sie knüpfte an regionale Folklore, an Legenden und Sagen an, bediente sich aber moderner, die Handlung der ‚Moral‘ vorziehenden Erzähltechniken. Mit dem Fortschreiten der in Siebenmeilenschritten ‚moderner‘ werdenden Welt begann diese Quelle auszutrocknen. Gustav Adolfo Becquer (1836-1870) markiert mit „Das Teufelskreuz“ bereits einen späten Vertreter dieser Phantastik, die nur in einer Nische des Genres überdauerte.

Stattdessen begannen sich nicht nur Forscher, sondern auch Schriftsteller mit jener unbekannten Welt zu beschäftigen, deren räumliche Ausdehnung zwar gering schien, deren Inneres sich jedoch zunehmend als schier unendliches Füllhorn der Wunder und der Schrecken entpuppte: Das menschliche Gehirn wurde als Sitz eines Verstandes begriffen, der aus dem Lot geraten konnte. Die Folgen hießen Täuschung, Illusion und Wahnsinn.

Der Geist und seine bösen Geister

Der Psyche nachzuspüren wurde interessanter als die Darstellung nächtlicher Friedhofs-Eskapaden. Robert Louis Stevenson (1850-1894) macht es deutlich, indem er noch die Elemente der alten Schauergeschichten heraufbeschwört (und sie dabei meisterhaft zum Einsatz bringt), während der wahre Schrecken nicht aus den Umtrieben moralfreier Grabräuber resultiert, sondern in den Hirnen übermüdeter, angeekelter Männer mit schlechtem Gewissen erschaffen wird. Die Entscheidung überlässt Stevenson seinen Lesern; er schürt damit deren Unsicherheit noch.

Deutlicher und quasi mit einer mutwilligen Brechung lässt Robert W. Chambers (1865-1933) seine Geschichte einer womöglich doppelt fiktiven magischen Invasion ausklingen. Ausgerechnet Ysonde, die Frau, die der Ich-Erzähler vor ihrem bösartigen Meister gerettet haben will, fasst dessen Bericht so zusammen: „Wie kannst du nur solchen Unsinn ohne jeglichen Anflug von Wahrheit oder Beweis schreiben?“

Während „Der Erschaffer von Monden“ und noch mehr „Der Leichendieb“ durch den sachlichen Stil zeitlos spannend blieben, wirkt Villiers de l’Isle-Adam (1838-1889) blumiger und damit altmodischer. In der Konsequenz ist „Vera“ jedoch intensiver: Der Geist überwindet die Materie und womöglich den Tod. Wieder gibt es eine ‚realistische‘ Kehrseite: Der trauernde Gatte könnte auch psychisch zerbrochen sein.

So ergeht es definitiv dem ebenso traurigen wie von Furcht erfüllten Witwer in „Huguenins Frau“. Die Wirkung dieser Erzählung leidet freilich unter einer heute übertriebenen Idealisierung eines klassischen Hellenismus‘, der bei M. P. Shiel (1865-1947) bereits in den Hellenismos mit seiner vor allem religiösen Wiederbelebung pseudo-antiker Traditionen umschlägt, ohne dass sich dies zumindest dem Leser heute mitteilt; das schwülstige Ergebnis ruft eher Grinsen als Grusel hervor.

Schrecken ohne Zierrat und Staubfänger

Dass die nüchterne, quasi sachliche Schilderung sowohl den ‚handfesten‘ als auch den ‚psychologischen‘ Schrecken über Jahre und Jahrhunderte retten können, belegen demgegenüber Charlotte Perkins Gilman (1860-1935), Ambrose Bierce (1842-1913/14) oder F. Marion Crawford (1854-1909). Gilman gelingt es in „Die gelbe Tapete“ den erst allmählichen und dann rapiden geistigen Verfall einer Frau nicht gänzlich frei von zeitgenössischen Stilelementen und Klischees aber dennoch erschreckend überzeugend darzustellen. In dieser Geschichte gibt es kein Gespenst. Das Ende bringt dennoch – oder gerade deswegen – ein Unbehagen, das kein Phantom oder kein Vampir so hervorruft: Das Wissen um die reale Möglichkeit eines solchen Wahns sorgt dafür.

Wobei sich Bierce und vor allem Crawford allerdings nach Kräften bemühen, das gerade Gesagte ad absurdum zu führen oder wenigstens zu relativieren. Sie lassen es spuken – Bierce indirekt, indem er das Gespenst niemals zeigt, sondern sich auf die Schilderung der Folgen seines Erscheinens beschränkt, und Crawford im frontalen Angriff, mit dem er auch den Literaturkritiker auf die Hörner nimmt: „Die obere Koje“ verstößt gegen jede Regel der ‚guten‘ Phantastik: Der Horror hält sich nicht in den Dunkelheit, sondern stürzt sich mitten ins Getümmel. Das Ergebnis ist eine der besten Spukgeschichten aller Zeiten. Crawford ersetzt das psychologische Moment durch traumwandlerisch sicher eingesetzte Chiffren des Schreckens. Er entkleidet sie ihrer romantischen Ursprünge und präsentiert uns ein zeitgemäßes, böses, gefährliches Gespenst, dessen Herkunft nie erklärt wird. Es bleibt reines Wirken, will nicht strafen oder rächen, sondern ist nur ‚da‘.

Auf höherem literarischem Niveau konfrontiert uns auch Arthur Machen (1863-1947) mit dem Horror als Element einer Welt, deren Topografie trotz Wissenschaft und Technik weiße Flecken aufweist, die zu betreten gefährlich ist. Mit Machens Erzählung schließt sich nach dem Willen des Herausgebers Körber zusätzlich ein Kreis: „Die Weißen Gestalten“ wurzeln in der Folklore, doch ihr Wirken hat nichts Märchenhaftes mehr an sich: Es sind sehr reale, nicht zwangsläufig bösartige aber fremde und damit unberechenbare Geschöpfe, die hier ihr Unwesen treiben. Hier wird die Phantastik in den folgenden Jahrzehnten verstärkt anknüpfen und den Anschluss an die ‚Realität‘ finden.

„Die Geschichte der unheimlichen Literatur in meisterhaften Erzählungen“, herausgegeben von Joachim Körber:

(1990) Das erste Buch des Horrors (1940-heute [= 1990])
(1991) Das zweite Buch des Horrors (1920-1940)
(1992) Das dritte Buch des Horrors (1900-1920)
(1993) Das vierte Buch des Horrors (1870-1900)

Zu den abgedruckten Geschichten gibt es knappe aber erhellende Hintergrundinformationen über ihre Verfasser; außerdem wird jede Story in das Umfeld der zeitgenössischen Phantastik eingeordnet.

In einem Anhang werden weitere Autoren und ihre Werke empfohlen sowie kommentiert, die aus Platzgründen nicht in das jeweilige „Buch des Horrors“ aufgenommen werden konnten.


Taschenbuch: 303 Seiten

Übersetzung: Maria Bamberg, Walter Brumm, Joachim Körber, Hans Maeter, Herbert Preissler (2), Karl H. Schulz, Ute Thiemann (2), Hans P. Thomas, Fritz Vogelsang
ISBN-13: 978-3-453-06129-3
http://www.heyne-verlag.de

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