Stephen King – Atemtechnik

Enthauptete Frauen: Horror vom Meister

Eine Frau, die ein Kind zur Welt bringt – das ist nicht Besonderes. Doch wenn diese Frau dabei keinen Kopf mehr besitzt, so ist das durchaus eine interessante Geschichte, die man sich zu Weihnachten, dem Fest des Christkindes, am Kaminfeuer erzählen kann.

Dieses Hörbuch enthält die ungekürzte Fassung der von Stephen King 1982 veröffentlichten Novelle „Atemtechnik“. Die Novelle gehört zu den vier Geschichten in dem Band „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“. Die Geschichten erschienen als ungekürzte Hörbücher zunächst einzeln und dann als Doppelpackung. „Atemtechnik“ findet sich im zweiten Teil „Herbst und Winter“.

Sprecher ist Joachim Kerzel (die deutsche Stimme von Jack Nicholson, Dustin Hoffman, Sir Anthony Hopkins, Jean Reno …), der inzwischen als kongenialer Stephen-King-Sprecher anerkannt ist – auch von mir. Seine Erzählweise bei „Briefe aus Jerusalem“ ist hinreißend und fesselnd. Er lehrt jeden Zuhörer das Fürchten.

Handlung

Weinhachtszeit. Winter in New York City, etwa Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Wie wir aus der Rahmengeschichte erfahren, versammeln sich die Mitglieder eines ebenso mysteriösen wie exklusiven Clubs in einem geheimnisvollen Haus, das innen möglicherweise größer als außen ist. Ein magisches Haus also, magisch wie die Geschichten, die hier erzählt werden, und mysteriös wie die Bücher, die man hier findet, aber sonst nirgendwo im Rest der Welt.

Allweihnachtlich kommen die Mitglieder zusammen, um einer nahezu unglaublichen Geschichte zu lauschen. Diesmal erzählt ein recht undurchsichtiger betagter Herr namens McCarron: eine Begebenheit aus dem Jahre 1932, als die Weltwirtschaftskrise noch jüngste Vergangenheit war.

Es ist die Geschichte der jungen Miss Stanfield (nicht ihr richtiger Name), die alles daransetzt, ihr Ungeborenes gesund zur Welt zu bringen. Da es sich um ein uneheliches Kind handelt, kann ihr dessen Vater leider nicht helfen – zu streng sind noch die viktorianischen Sitten in der Stadt.

Obwohl Miss Stanfield, eine Kaufhausverkäuferin, einen klugen und entschlossenen Eindruck vermittelt, beschleicht selbst ihren Arzt, den fortschrittlich gesinnten Mediziner McCarron, das ungute Gefühl, dass seine Patientin von finsteren Mächten verdammt ist. Sie selbst sagt es von sich: „Ich bin … verdammt.“

Je nun, wir wollen nicht gleich den Kopf hängen lassen, denkt sich der Arzt. Schließlich verarztete er Verwundete in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Er bringt ihr die revolutionäre Atemtechnik für Schwangere bei, die ein Franzose namens LaMaze entwickelt hat und die von den konservativen Kollegen McCarrons schlicht als Irrsinn und Hexerei abgetan wird. Diese Haltung wird symbolisiert von der Statue einer Mrs. White, die vor dem Hospital des Dr. McCarron gebieterisch aufragt.

Miss Stanfield erweist sich als über Erwarten aufgeschlossene Person und übernimmt die Atemtechnik mit Enthusiasmus. Sie entdeckt, dass sich mit dem richtigen Atmen auch die Energie eines drohenden Wutausbruchs ob einer Demütigung gut abbauen lässt. Unverheiratete Schwangere waren damals verpönt, ja geradezu geächtet.

Als bei Miss Stanfield die Wehen einsetzen, begeben sich sowohl Dr. McCarron als auch seine Patientin auf den Weg in die Klinik, um dort die Entbindung vorzunehmen. Doch dazu soll es nicht mehr kommen. Denn sowohl der Gott der Taxifahrer als auch Boreas, der die Straßen mit Eis überzieht, haben sich gegen eine „normale“ Entbindung verbündet – wahrscheinlich sogar der Geist der statuesken Mrs. White.

Miss Stanfield kommt niemals lebend im Krankenhaus an, ihr Baby hingegen mit knapper Not: dank der hervorragenden Atemtechnik seiner Mutter …

Mein Eindruck

Eine Geburt ist stets eine bedeutungsvolle Angelegenheit. Es muss sich ja nicht gleich um das Jesuskind handeln, es kann jedes Baby sein. Stephen King, der ja selbst eine Reihe von Kindern hat, zeigt an dem Beispiel einer gewissermaßen „unnatürlichen“ Geburt auf, wo die Grenzen des Gewohnten, Akzeptieren und Erträglichen hinsichtlich Leben, Tod und Geburt aufhören und wo der Wahnsinn beginnt.

In seiner meisterlichen Novelle spielt er ganz klar die Kräfte des Modernen, symbolisiert durch die Atemtechnik, gegen die Kräfte des Konservatismus, symbolisiert durch die Statue der Mrs. White, aus und lässt das Neue, symbolisiert im überlebenden Neugeborenen, triumphieren. Der Vorgang der Geburt wird so zum Kampf zwischen Alt und Neu/Jung, zwischen zwei Zeitaltern, zwischen Leben und Tod, Hoffnung/Kampf und Resignation. Es ist, als ob in diesem Moment Götter miteinander kämpften und es sei offen, welche Seite gewönne. Doch die guten Nerven des modernen Arztes McCarron geben offenbar den Ausschlag. –

Ist diese Geschichte wahr? Das ist die falsche Frage. Der Erzähler (King) und sein Berichterstatter aus der Rahmenhandlung bringen uns durch einen langen Anlauf, der praktisch die erste CD (rund eine Stunde) ausmacht, dazu, die Authentizität der Erzählsituation zu glauben. Der Rest ist dann nur noch ein Kinderspiel. Dann glauben wir auch die Geschichte.

Aber darum geht es King nicht. Die Notwendigkeit für die Geschichte besteht nicht in ihrer Authentizität, sondern in ihrer Wahrhaftigkeit. Dies ließe sich auch als „poetische Wahrheit“ übersetzen. Dies ist die Wahrheit, die einem Mythos wie dem von Prometheus oder der Büchse der Pandora eignet, einer Legende wie der von König Artus oder irgendeiner Geschichte, die bereits in das kollektive Bewusstsein übergegangen ist, wie etwa Kiplings „Dschungelbuch“.

Der Unterschied: „Atemtechnik“ liest sich nicht wie Fantasy, sondern wie ein Zeitungsbericht, den ein cleverer und sehr beredsamer Journalist verfasst hat. Die Zeitung wäre die Autorität, um den Glauben zu rechtfertigen. Doch diesmal wird die Geschichte dem undurchsichtigen Mitglied eines geheimnisvollen Clubs in den Mund gelegt, von dem man noch nie gehört hat. Glaube also, wer wolle, und stets auf eigene Gefahr.

Unterm Strich

Die beiden letzten der drei CDs enthalten die eigentliche Story und nur die letzte den atemlosen, schier wahnwitzigen Höhepunkt. Man folgt atemlos den wunderbar gesprochenen Worten Joachim Kerzels, als er das Unglaubliche schildert. (Ich werde mich hüten, hier die Pointe zu verraten.) Ideal als Weihnachtsgeschenk für Leute mit Humor. 😉