Max Barry – Providence. SF-Roman

Interplanetarische Kammerjäger in der Bredouille

Sieben Jahre nach dem fatalen Erstkontakt startet die Providence Five. Es ist das größte und modernste Kampfschiff und soll die Menschheit vor ihrem bisher schlimmsten Feind schützen: Aliens, die sich so grundlegend von uns unterscheiden, dass keine Kommunikation mit ihnen möglich ist. Die Besatzung der Providence besteht nur aus vier Personen, deren Aufgabe es ist, das Schiff zu überwachen und durch Videos in den Sozialen Netzwerken den Menschen auf der Erde von ihren vermeintlich heroischen Taten zu berichten. Doch die Schiffs-KI hat andere Pläne: Sie fliegt einen Bereich an, der so weit von der Erde entfernt ist, dass der Kontakt zur Flotte abbricht. Hier befindet sich die Hauptbasis der Außerirdischen. Für Gilly, Talia, Anders und Jackson wird der Kampf im All plötzlich sehr, sehr real … (Verlagsinfo)

Der Autor

Max Barry, geboren am 18. März 1973, lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Melbourne, Australien. Seine besten Jahre verbrachte er bei Hewlett-Packard, bevor er seine Festanstellung gegen das Schreiben von Romanen eintauschte. Mit »Logoland«, einer beißenden Satire über eine von Großkonzernen beherrschte Zukunft, feierte er seinen ersten großen internationalen Erfolg. Darüber hinaus entwickelte er das Onlinespiel »NationStates« und arbeitete an unterschiedlichen Software-Projekten mit. Max Barry lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Melbourne, Australien. (Verlagsinfo)

Zu „Logoland“ gibt es ein begleitendes Internetspiel des Autors, das man unter der Adresse www.nationstates.net findet. Jeder Spiel könne seinen eigenen Staat mit seinen eigenen politischen Idealen kreieren, heißt es in den Buchinfos. Nationstates.net taucht auch in „Lexicon“ wieder auf.

Wichtige Werke:

1) Logoland
2) Maschinen Mann
3) Lexicon
4) Providence (2021)
5) Die 22 Tode der Madison May

Handlung

Beim Erstkontakt mit den sogenannten „Salamandern“ haben die Aliens vor sieben Jahren die gesamte Besatzung der „Coral Beach“ ausgelöscht. Wenn man sich nun den Video-Zusammenschnitt aus den automatischen Kameraaufnahmen anschaut, bleibt es immer noch ein Rätsel, warum die mannshohen Aliens die Menschen in ihren Schutzanzügen angriffen: Ein Geräusch wie ein Spucken – Hukk! – und ein Loch tut sich im Schutzanzug auf. Der Insasse erstickt – oder erliegt einer explosiven Dekompression, je nach Umgebung. Ein Hukk!, und schon tut sich im Stahlrumpf ein etwa dreißig Zentimeter breites Loch auf.

So begann der Krieg gegen die Salamander. Zwar findet er ganz weit weg statt, ist aber dennoch ständig präsent, findet Isaiah Gilligan: Die Crews der Kriegsschiffe, die dort draußen operieren, vermelden über alle Social-Media-Kanäle ihre Abschusserfolge. Als jetzt die fünf Kilometer lange „Providence Five“ startet, ist sie das modernste Kriegsschiff der Flotte, und die vierköpfige Besatzung hat die Absicht, wenn nicht sogar den Auftrag, den Rekord von über 500.000 eliminierten Salamandern zu übertreffen.

Gilligan

Das interessiert Isaiah Gilligan jetzt nicht so wahnsinnig. Er ist zwar für den Posten „Erkundung“ und „Aufklärung“ (INTEL) eingeteilt, aber sein echter Job besteht offenbar darin, die Rohre der „Providence“ frei von Verstopfung durch diese wuselnden Krabben zu halten und geplatzte Rohre zu flicken. Die anderen drei wollen ja schließlich duschen und eine warme Mahlzeit, außerdem überschwemmt das Wasser die Gänge und Schächte. Die Lecks bekommt Gilly über eine transparente Datenbrille angezeigt, die von der Schiffs-KI mit Informationen versorgt wird.

Anders

Seinem Kollegen Paul Anders macht das alles offenbar wenig aus. Entgegen seinem Bewerbungsvideo ist er ein Chaot sowie ein großer Fan von Spielen, auch mit echten Kriegswaffen wie etwa messerscharfen Wurfsternen. Dann ist es der Job von „Life Officer“ Talia Beanfield, ihn psychologisch zu korrigieren. Leider ist sie so empfindsam-empathisch, dass sie kaum ein Wort herausbringt. Bleibt noch Captain Jolene Jackson auf der Brücke. Die Kriegsheldin leitet die Einsätze und sie hält die Verbindung zur Missionskontrolle aufrecht.

Auf der Erde fordert man einen ständigen Strom von Video-Feeds an. Jeder an Bord ist aufgerufen, solche Clips zu erstellen, um dem Volk auf der Erde einen Eindruck vom „Leben“ an Bord der „Providence“ zu vermitteln. Vielleicht sind es ja auch bloß Lebenszeichen. Beanfield kümmert sich darum, denn sie glaubt an solchen Quatsch. Aber selbst sie ist bewusst, dass sie lediglich Kriegspropaganda liefern soll.

In die violette Zone

Nach zwei Jahren und einer entsprechend hohen Abschussquote kommt der Befehl, in die Violette Zone vorzustoßen. Das bedeutet, dass es dort keine Sendestationen und auch keine Funk-Relais gibt, was praktisch die Kommunikation zum Erliegen bringt. Bei diesem Blindflug sind sie auf die KI angewiesen, soviel ist klar.

Die ersten VZ-Gefechte sind vielversprechend, aber Gilly macht eine sonderbare Entdeckung. In den Trümmern der zerstörten Salamandernester scheint sich immer noch Leben zu regen. Eigenartig auch, dass die Aliens „intelligenter“, das heißt angemessener auf den letzten Angriff reagiert haben. Gilly überlegt sich, dass sie, wie Insekten, ein Erinnerungsarchiv anlegen, das auf Pheromonen basiert. Auf diese Weise könnten sie Erfahrungen an die nächste Generation weiterreichen. Jackson hält ihn für geistig labil.

Das Geheimnis

Beanfield und Jackson nehmen Gillys Theorie, die sie hanebüchen finden, immerhin zur Kenntnis. Als hätte die KI noch nie daran gedacht! Beanfield ist derweil von ihrer Entdeckung erschüttert, dass Anders, ihr Waffenoffizier, süchtig nach einem Schmerzmittel ist. Die Schmerzen bzw. Wunden zieht er sich im Spiel mit den Wurfsternen zu. Kein Wunder, dass er ständig spielen will. Als sie ihm energisch droht, ihm den Nachschub an Schmerzmittel zu sperren, rächt er sich, indem er Gilly genau jenes Geheimnis verrät, um dessen Geheimhaltung sie Anders x-mal gebeten hat: Dass all die geplatzten Rohre nur eine Erfindung der KI seien, um Gillys Geist zu beschäftigen. Alle visuellen und akustischen Wahrnehmungen sendet ihm die KI auf seine Datenbrille.

Meuterei

Gilly ist stinksauer, aber was kann er schon tun? Die KI ist heilig, allgegenwärtig und allmächtig. Ohne sie wäre die Crew aufgeschmissen. Oder etwa nicht? Die Frage stellt sich nach der nächsten Konfrontation. Die „Providence“ schießt auf ein scheinbar leeres Nest, das sich als Gravitationsbombe entpuppt. Der Materialschaden am Schiff ist minimal, aber die Software hat jetzt eine Macke: Ihr Prozess läuft in einer Schleife ab, die sich selbst zurücksetzt, wird also nie betriebsbereit. Das Schiff ist wehrlos. Als dann der richtige Angriff der Salamander anrollt, mit 14.000 Einheiten, hängt alles daran, dass Gilly den Fehler findet. Er muss Prozessorbank 996 eliminieren, und das gelingt ihm in letzter Sekunde. Dennoch durchlöchern zahlreiche Geschosse die Hülle, und Beanfield überlebt nur dank ihres obligatorischen Überlebenspakets.

Krise

Die Lage ist kritisch, signalisiert Captain Jackson. Während sich Anders von einer Disziplinarstrafe, einem Arrest, erholt und Talia von ihrer Nahtoderfahrung, fragt Jackson, ob die Crew das Schiff manuell steuern könne. Gilly ist erst einmal von den Socken, doch Jackson beharrt auf ihrer Frage. Während Talia bestürzt realisiert, dass Anders klaustrophobisch veranlagt ist, macht sich Gilly an die Arbeit, dem Schiff die Kontrolle zu entreißen. Das hätte er lieber nicht sollen, und er erkennt zu spät, dass die Salamander einen Großangriff gestartet haben…

Mein Eindruck

Das bekannte LOCUS-Magazin, eine Instanz der SF-Gemeinde, hat auf den ersten Blick recht: „PROVIDENCE ist eine Mischung aus Starship Troopers‘ und ‚Alien‘.“ Denn die Providence Five ist ein Kriegsschiff mit scheinbar nur einer Mission: Aliens abmurksen. Und als dann die Aliens an Bord kommen, wird es ungemütlich. Als schließlich die Crew aussteigen und auf einem Salamander-Planeten notlanden muss, wird es noch ungemütlicher: Hier wimmelt es vor Aliens! Von vier Crew-Mitgliedern überlebt hier nur eines.

Die Auswahl

Das ist eine echt miese Überlebensrate, findet nicht nur eines der Crew-Mitglieder. Bemerkenswert ist das allerdings nicht, wenn man sich mal die Qualifikationen dieser vier Leutchen anschaut: Nur Captain Jackson ist für den Kampf qualifiziert, die anderen sind für irgendwas anderes geeignet. Aber für was, fragt sich Life Officer Beanfield. Denn die Besatzung wurde nicht von einem Personalrat, sondern von der KI selbst ausgewählt, die das Schiff steuert. Und diese KI gehört Surplex, dem Arbeitgeber von Gilligan, welcher nur unter Kontrakt für die Navy an Bord ist.

Inkompetent

Nun sollte man erwarten dürfen, dass wenigstens das Privatunternehmen Surplex darauf achtet, dass seine KI der Aufgabe gewachsen ist. In einem vorausgegangenen Gefecht jedoch erkannte die KI nicht einmal, um was es sich bei den Materiezusammenballungen handelte, an denen das Schiff gerade vorbeiflog: Alien-Nester. Jackson musste hilflos mit ansehen, wie ihre Lieben und Freunde in ihren Schiffen vernichtet wurden. Kein Wunder, dass sie auf die KI und die Aliens nicht gut zu sprechen ist. Wurde sie deshalb von der KI für die Providence V ausgewählt? Wäre das nicht ein Widerspruch, fragt sich Gilly.

Entdeckung

Paul Anders ist ein Klaustrophobiker, den man niemals an Bord auch nur irgendeines Schiffes hätte gehen lassen dürfen, erkennt Talia. Aber er liebt Waffen – und Rätsel. Diese liebt auch Gilligan, und das zu unserem Nutzen: Bis zu seiner letzten Lebensminute löst er Rätsel. Indem er den Ursprung der Salamander findet, liefert er eine Information, die für die Erdlinge nichts Gutes verheißt: Die Salamander brauchen keine Königin, keine heterosexuelle Vermehrung, sondern einfach nur die primäre Ursuppe, um daraus Eier zu erzeugen. Gilly realisiert, was das bedeutet, aber seine Entdeckung entlockt ihm lediglich ein staunendes „Wow!“.

Die Mission

Wenn aber nur eine Alienhasserin für den Kampf gegen Aliens qualifiziert ist, worin besteht dann die eigentliche Mission der Providence V, mag sich der Leser fragen. Die eigentliche Mission besteht offenbar im Marketing, und das ist das Spezialgebiet des Autors. Er lässt Beanfield alle Register ziehen: Video-Clip, Social Media Posts und vieles mehr – dafür ist sie als Life Officer zuständig. Die anderen drei müssen ihr als Statisten in ihrer Berichterstattung helfen. Das sind gute Voraussetzungen der Navy und von Surplex, aber denkbar schlechte für die Crew.

Das Stück heißt Alienkrieg, die Bühne bildet ein Kriegsschiff, und alle Besatzungsmitglieder sind nur Statisten. Denn der eigentliche Hauptdarsteller, soviel ist klar, ist die KI des Schiffes. Sie spielt Gott, und dessen Spiel heißt „Vorsehung“, also „providence“.

Handicap

Der Verlauf der Geschehnisse zeigt jedoch, dass Vorsehung nie ausreicht, denn das Leben ebenso wie der Krieg verlangen ständiges lernen, ständige Anpassung. Das zeigt sich in den letzten Kapiteln, als Gilly auf das Geheimnis der Salamander stößt. Sie lernen ständig dazu, und weil ihnen nie der Personalnachschub ausgeht, erhalten sie eine erfahrene Generation nach der anderen.

Die menschliche KI jedoch bleibt stets auf dem gleichen Niveau, auf das sie vom Surplex-Training gehoben worden ist: Selbst wenn sie lernen würde, könnte sie ihre Erfahrungen nicht weitergeben: Die elektronische Kommunikationssperre in der Violetten Zone verhindert das. Die Aliens haben dieses Handicap nicht: Sie brauchen keine Elektronik, sondern nutzen ihre biologische Chemie.

Die Übersetzung

Bernhard Kempen ist einer der besten Übersetzer hierzulande, und so lässt sich positiv feststellen, dass ihm auch die vorliegende Übersetzung sehr gut gelungen ist. Wie immer gibt es hier und da Druckfehler.

S. 26: „Und ihr werden sagen.“ Korrekt muss es „Ihr werdet sagen“ heißen, denn das ist die grammatische Form für die 2. Person Plural (ihr).

S. 163: „Offensicht[lich] hatte Jackson mit Widerspruch gerechnet.“ Die Silbe „lich“ fehlt.

S. 286: „Eigentlich hätten sie uns nicht kleinkriegen dürf[t]en…“: Das T ist überflüssig.

S. 360: „Eine Art Surren, das[s] er gleichzeitig hören und spüren konnte.“ Das zweite S ist überflüssig, da es sich bei „das“ um ein Relativpronomen handelt.

Unterm Strich

Ich habe den spannenden Roman, der viele Actionszenen enthält, in wenigen Tagen bewältigt. Ich bin sicher, ein weniger beschäftigter Leser könnte die knapp 400 Seiten in nur zwei Tagen schaffen. Denn der Autor erzählt vor allem szenisch, und diese Szenen sind häufig sehr fesselnd, so dass man wissen will, wie der Konflikt ausgeht.

Heinleins Vermächtnis

Am Anfang muss man herausfinden, was eigentlich los ist: ein unerklärter Krieg gegen seltsame Aliens. Doch aus der Verteidigung wird offenbar schnell ein Vernichtungsfeldzug. Die intergalaktischen Kammerjäger à la „Starship Troopers“ haben hier keine Bürgerpflichten zu erfüllen, sondern erfüllen lediglich ihre Abschussquote wie weiland bei Heinlein, doch nur der Captain ist wirklich dafür qualifiziert. Die von der Bord-KI ausgewählte Crew ist für etwas ganz anderes geeignet: Statisten in der Social-Media-Propaganda, die dazu dient, die immensen Kosten für die Kriegschiffe rechtfertigen zu können. Sie dient dazu, die bittere Wahrheit zu verschleiern, dass die Crew aus entbehrlichen Statisten besteht.

To learn or not to learn

Die Spielregeln ändern sich der Zone, in der die Verbindung zur Missionskontrolle gekappt ist. Als befände man sich noch auf „Bounty“, meutert die Besatzung und übernimmt das Kommando. Angesichts des nächsten Alienangriff erweisen sich die Folgen als fatal – für das Schiff. Aber darum geht es nicht: Die Kommunikationssperre erlaubt es der Crew, vor Ort selbst Informationen zu sammeln und daraus zu lernen, ohne die Propaganda und die Schiffsregeln zu beachten.

Im Unterschied zur elektronischen KI lernen die Menschen und ähneln darin den Salamandern. Gilly bringt es auf den Punkt: In diesem Krieg geht es um die Weitergabe der jeweiligen Gene. Und in diesem Darwins Evolutionskampf überleben nur die anpassungsfähigsten Gene. Nur diejenigen, die zum Lernen und der Weitergabe ihres Wissens in der Lage sind.

Wie auf der unglückseligen „Pequod“, Moby Dicks Opfer, gibt es nur einen Überlebenden (Ishmael?), der vom Schicksal des Schiffes erzählen kann. Es ist spannend, was sie oder er zu erzählen hat. Doch das darf hier nicht verraten werden.

Der ausgetüftelt erzählte, mit vielen Rückblenden unterfütterte Roman gibt seine vielen Ebenen nicht ohne Weiteres preis. So mancher Leser, der sich nicht die Mühe des Nachdenkens macht, sondern nur auf Landser-Action geeicht ist, dürfte enttäuscht sein, besonders vom letzten Viertel, als die Crew einer nach dem anderen untergeht. Doch nicht das individuelle Ende ist von Belang, sondern die Erkenntnisse, die es den anderen mitteilen kann. Geht dieses Wissen verloren, dürfte dieser sinnlose Krieg endlos weitergehen. Der Epilog legt die ganze bittere Ironie dieser Situation offen.

Taschenbuch: 397 Seiten.
O-Titel: Providence, 2020
Aus dem Englischen von Bernhard Kempen.
ISBN-13: 9783-453-424708

www.heyne.de

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