Lynch, Scott – Lügen des Locke Lamora, Die (Locke Lamora 1)

|Locke Lamora / Der Gentleman-Bastard:|

Band 1: _“Die Lügen des Locke Lamora“_
Band 2: [„Sturm über roten Wassern“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5172
Band 3: „Die Republik der Diebe“ (11.10.2011)
Band 4: „The Thorn of Emberlain“ (noch ohne dt. Titel)
BAnd 5: „The Ministry of Necessity“ (noch ohne dt. Titel)
Band 6: „The Mage and the Master Spy“ (noch ohne dt. Titel)
Band 7: „Inherit the Night“ (noch ohne dt. Titel)

„Scott Lynch“ ist keinesfalls der neue Roman des Autoren Locke Lamora – dass es dennoch so erscheint, liegt an der völlig unpassenden Titelbildgestaltung, die leider an ältere |Dungeons & Dragons|-Romane erinnert. Es ist vielmehr umgekehrt: Der 1978 in Minnesota geborene Scott Lynch ist der Autor von „Die Lügen des Locke Lamora“, einem Edelganovenroman im Fantasymilieu. Diese recht seltene Kombination bescherte ihm großen Verkaufserfolg und gute Kritiken in den USA. _Anmerkung:_ Der Heyne-Verlag hat mittlerweile das Erscheinungsbild der Serie zum Besseren verändert, [hier]http://www.jagve.org/jpg/dldll.jpg zum Vergleich das alte Cover, auf das sich die Kritik bezieht.

Mag der Dieb als Charakter auch ein Archetyp der Fantasy sein, so ist er doch meistens eher eine Nebenfigur. Zumindest in den |Forgotten Realms| (Vergessenen Reichen) pflegen die werten Langfinger sich in mächtigen Gilden zusammenzurotten und gewissen Klischees zu huldigen, mit denen Lynch jedoch zu brechen versucht durch ein italienisch angehauchtes Szenario mit britischem Einschlag. Der Stadtstaat Camorr, in dem die Handlung spielt, ist zwar auch die Heimat vieler organisierter Banden (und deutlich an die Camorra und Neapel angelehnt), im Gegensatz zu Calimhafen im |D&D|-Universum jedoch wesentlich detailverliebter dargestellt. Es herrscht ein „Geheimer Friede“ zwischen dem Oberhaupt der Banden, Capa Barsavi, und dem Adel von Camorr. Auch die Gendarmerie ist in diesen eingeweiht. Diebe dürfen mehr oder weniger ungestraft ihr Unwesen treiben, solange die Aristokratie von ihnen verschont bleibt.

Doch der gewitzte Locke Lamora, ein Lehrling von Vater Chains, einem angeblich halbblinden Bettelmönch des Perelandro, hält sich selten an den Frieden. Nicht ganz in Robin-Hood-Manier stiehlt er von den Reichen. Allerdings nicht, um es unter den Armen zu verteilen, die lässt man einfach in Ruhe und genießt selbst das süße Leben, das die reiche Beute den Gentleman-Ganoven ermöglicht. Hier liegt auch der Unterschied zum britischen Edelganoven: Locke und seine Bande sind Waisen und keine bereits reichen Snobs mit Attitüde. Was sie von den übrigen Schlägern und Gaunern Camorrs unterscheidet, sind ein gewisses Schauspieltalent und eine umfassendere Bildung. So kann sich Locke als Edelmann verkleiden und überzeugend als Geschäftsmann auftreten, denn er versteht etwas von Buchhaltung und den Sitten am Hof von Herzog Nicovante und anderen Herrschern.

Die Geschichte beginnt mit der Überstellung Locke Lamoras an Vater Chains, der seine besonderen Talente erkannt hat. Gleichzeitig hat ihn ein gewisser Übermut in eine gefährliche Lage gebracht. Denn Locke hat bereits in seiner Ausbildung beim „Lehrherrn der Diebe“ im „Hügel der Schatten“, der junge Waisen aufsammelt und sie für die Banden Camorrs ausbildet, über die Stränge geschlagen. Er hat sich mit den Ordnungshütern der Stadt angelegt und sie bestohlen, was eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen in Bewegung setzte, die mit dem Brand eines Wirtshauses, Verhaftungen und dem Tod einiger seiner Gefährten endete. Grundsätzlich ist auch er des Todes. Denn Capa Barsavi kann nicht dulden, dass irgendjemand den „Geheimen Frieden“ bricht. Der Lehrherr ist gezwungen, beim Capa um seinen Tod zu bitten und ihn dann auch zu töten, doch Vater Chains fordert den verwegenen Bursche für sich an. Zusammen mit den Zwillingen Calo und Galdo Sanza, Bug, Jean Tannen und Sabetha bildet er sein Team von Gentleman-Ganoven. Locke entwickelt sich zum Kopf der Bande, in der jedes Mitglied seine besonderen Talente hat. Der kurzsichtige aber starke Jean zum Beispiel ist ein gefährlicher Schläger mit aufbrausendem Temperament, aber da er aus bürgerlichem Hause stammt, auch der beste Rechner der Bande, mit der bei weitem schönsten Handschrift.

Scott Lynch erzählt die Ausbildung von Locke Lamora parallel zum ersten Coup Lockes, einem Betrug an Don Salvara, dem gegenüber er sich als ein Bevollmächtigter des Hauses bel Auster, bekannt für seinen weltberühmten Austershalin-Kognak, ausgibt. Doch die Geschichte wird noch komplexer, denn in Camorr tobt ein Bandenkrieg. Der „Graue König“ versucht, Capa Barsavi die Vormachtstellung abzunehmen. Er intrigiert gegen Locke und bringt ihn unter seine Kontrolle. Er soll für ihn mit Capa Barsavi verhandeln. Dank eines Soldmagiers aus Karthain konnte er bisher der geballten Macht der Banden widerstehen, doch nun möchte er ihn sprechen. Locke vermutet zu Recht eine List – er wird als Köder einer raffinierten Falle missbraucht, die ihn fast das Leben kostet. Viele Anhänger Barsavis und Freunde Lockes sterben auf bewusst brutale und grausame Art und Weise, der „Graue König“ ist jedoch damit nicht zufrieden. Er will nicht nur Herr über die Unterwelt Camorrs sein, auch mit dem Adel hat er ein Hühnchen zu rupfen …

Ab diesem Zeitpunkt gewinnt das Buch deutlich an Klasse und Fahrt, denn die ersten 238 Seiten bis zum Beginn des zweiten Buches „Komplikationen“ sind ziemlich langweilig. Lockes Ganovenabenteuer und Genialität werden zu oft gepriesen, ohne dass Lynch einen genialen Coup folgen ließe. Die Rückblenden in die Vergangenheit wirken hier besonders bremsend und störend. Im weiteren Verlauf der Handlung, sobald sie an Komplexität und Witz gewinnt, erzeugt diese Erzähltechnik jedoch durchaus eine gewisse Abwechslung und Steigerung der Spannung. Die Zwischenspiele und Sprünge sind kürzer als zu Beginn, nicht mehr so willkürlich, sondern haben Bezug zur Haupthandlung.

Der Charakter Locke Lamora ist eine bewusste Leerstelle des Autors. Wir erfahren mehr über Vater Chains, Capa Barsavi und Jean Tannen als über Locke selbst und seine unglückliche Liebe Sabetha. Geschickt offenbart Lynch häppchenweise Details. Erst erfahren wir, dass Locke in Sabetha verliebt war, dann, dass sie über einem halben Kontinent geflüchtet ist – warum auch immer. Dann indirekt ihre Haarfarbe, dass sie eine perfekte Verführerin und Schönheit ist … und mehr nicht. Sabetha könnte in weiteren Romanen eine wichtige Rolle spielen. Locke selbst ist ein eher schmächtiger und nicht gerade gutaussehender junger Mann, dem man die Spuren der Unterernährung in der Jugend noch ansieht. Seinen wahren Namen – er heißt weder Locke noch Lamora – flüstert er am Ende des Romans Jean Tannen ins Ohr. Dem Leser bleibt er vorenthalten.

Camorr selbst, der einzige Schauplatz der Handlung, ist eine Hafenstadt, die, wie bereits erwähnt, an Neapel angelehnt ist. Magie spielt weitgehend keine Rolle, stattdessen Gift, List und Tücke. Ein sehr italienisches Szenario, mit einigen britischen Spritzern wie dem Gentleman-Aspekt und den Waisenkinderbanden. Lynch ließ es sich jedoch nicht nehmen, noch eine Hai-Variante des Stierkampfs und gläserne Bauwerke der Eldren, mystischer und ausgestorbener Vorfahren der Menschen, einzubauen. Nebenher erzählt er über weit entfernte Gebiete und zwielichte Organisationen, wie die Soldmagier von Karthain. Diese Welt ist auf Expansion angelegt, und so wundert es nicht, dass Locke am Ende des Buchs gezwungen ist, Camorr auf dem Seeweg zu verlassen. Der nächste Band wird unter dem Titel „Sturm über roten Wassern“ erscheinen.

_Fazit:_

Ganz so originell, wie die vielen Rezensionen und Pressestimmen auf dem Buchrücken behaupten, ist „Die Lügen des Locke Lamora“ sicher nicht. Das Szenario mag einem Amerikaner exotisch vorkommen, einem Europäer dürfte es wesentlich geläufiger sein. Italienisches Mittelalter beziehungsweise frühe Neuzeit treten immer häufiger in der englischsprachigen Fantasy auf, wie bereits in [„Der venezianische Ring“ 1401 von Cherith Baldry. Das soll nicht heißen, „Locke Lamora“ sei ein Langweiler, ganz und gar nicht. Ein sehr verhaltener Start und ein unausgereifter Spannungsbogen sowie starke Qualitätsschwankungen machen den Roman zu einem Wechselbad der Gefühle. Auf wirklich vorzügliche Passagen folgen Kapitel, die an Trivialität und Banalität kaum zu überbieten sind. Der sehr indirekte und vage Stil der Charakterisierung Lockes ist ausgeprägte Geschmackssache, ebenso die Erzählweise mit den vielen Zwischenspielen in der Vergangenheit.

Doch mit viel Witz und Liebe zum Detail macht Scott Lynch einiges wett, und im Genre der Fantasyganoven ist Locke Lamora ohne Zweifel bereits jetzt der unangefochtene Capa. Auf seine weiteren Abenteuer kann man gespannt sein, denn Locke hat sich in diesem Buch mehr Feinde als Freunde geschaffen. Sehr gefährliche Feinde.

|Originaltitel: The Lies of Locke Lamora (Teil 1) – The Gentleman Bastard Sequence Bd. 1
Originalverlag: Gollancz
Aus dem Englischen von Ingrid Herrmann-Nytko
Deutsche Erstausgabe
Paperback, 848 Seiten, 13,5 x 20,6 cm|
http://www.heyne.de
http://www.scottlynch.us