Philip MacDonald – Die Totenliste

Eine Liste mit zehn Namen: Engländer aus allen gesellschaftlichen Schichten vom Landarbeiter bis zum Adligen, Gemeinsamkeiten gibt es nicht. Warum also übergibt Adrian Messenger, der viel gelesene Romane über große Verbrechen schreibt, diese Liste seinem Kriegskameraden und Freund George Firth, Leiter des Criminal Investigation Department von Scotland Yard, und bittet ihn eindringlich, Nachforschungen über den Verbleib der Männer anstellen zu lassen? Einer Gräueltat sei er auf der Spur, mehr lässt sich Messenger nicht entlocken. Nun wird er auf ewig schweigen: Den Absturz des Flugzeugs, das ihn zu weiteren Recherchen in die USA bringen soll, überlebt er nur kurze Zeit. Mit ihm im Wasser des Atlantik treibt der einzige Überlebende: Raoul St. Denis ist ein Journalist, der Messengers letzte, im Delirium gestammelten Worte überliefert.

Inzwischen hat Firth herausgefunden, dass acht der aufgelisteten Männer bei merkwürdigen „Unfällen“ ums Leben gekommen sind. Ein weiterer ist spurlos verschwunden, nur der letzte scheint sich guter Gesundheit zu erfreuen. Ist Jonathan Slattery aus Twickenham ein Glückspilz – oder der Mörder? Firth setzt Anthony Gethryn, seinen Mann für delikate Ermittlungen, auf die Sache an. Dieser setzt mit der ihm eigenen Beharrlichkeit die winzigen Bruchstücke eines möglichen Falls zusammen. Was dabei Stück für Stück zu Tage tritt, ist nicht weniger als eine lange Kette niederträchtigster Verbrechen. Verrat, Massen- und Serienmord bilden nur die schlimmsten Taten des kriminellen, aber genialen Psychopathen, der von seinen ratlosen Verfolgern „Mr. Smith-Brown-Jones“ genannt wird. Viel zu lange kann dieser unter Gethryns Augen sein teuflisches Spiel fortsetzen. Schlimmer noch: Die Liste des Adrian Messenger ist nicht vollständig; es fehlen die Namen einiger Zeitgenossen, die der Mörder unbeirrt auslöschen wird, wenn ihm Gethryn nicht endlich auf die Schliche kommt …

Ein Stück Papier mit zehn Namen – mehr braucht ein fähiger Autor nicht, um einen spannenden Thriller zu schreiben. Die Neugier des Lesers ist sofort geweckt: Wieso sterben diese Männer wie die Fliegen? Welches Geheimnis teilen sie? Wird es gelingen, der Mordserie ein Ende zu machen? „Die Totenliste“ empfiehlt sich als später Vertreter des „Rätselkrimis“, der das „Goldene Zeitalter“ des Kriminalromans zwischen dem I. und II. Weltkrieg prägte. Philip MacDonald gehörte zu den bedeutenden Vertretern dieses Genres. Seine schriftstellerische Karriere endete faktisch mit dem Ende des „Golden Age“. Mit „Die Totenliste“ kehrt er noch einmal in diese Ära zurück, ohne freilich auszublenden, dass sich die Zeiten inzwischen geändert hatten. Unmögliche Morde an altersstarrsinnigen Erbonkeln in verschlossenen Räumen waren nicht mehr zeitgemäß. In den 1940er und 50er Jahren hatte man ganz andere Dimensionen der Bösartigkeit kennen gelernt. So ist „Mr. Smith-Brown-Jones“ kein Krimineller mit Sportsgeist mehr, sondern ein irrer, aber eiskalter Psychopath, der zur Verwirklichung seines Plans Menschen in Serie mordet und nicht davor zurückschreckt, Züge entgleisen zu lassen und Flugzeuge zu sprengen.

Smith-Brown-Jones‘ Mordodyssee und die verzweifelten Ermittlungsbemühungen seines Gegners Gethryn schildert MacDonald in zwei parallelen Handlungssträngen, die beide mit enormem Tempo vorangetrieben werden. Es lässt sich verfolgen, wie sich Gejagter und Jäger immer näher kommen, bis sich die beiden Stränge im großen Finale treffen.

MacDonald ist ein glänzender Handwerker, was bei einem Mann, der mehr als 40 Drehbücher für Film und Fernsehen verfasste, nicht wundern sollte. Er schafft es sogar hinter der schwungvollen Geschichte den hanebüchenen Plot zu verstecken. Hier ist „Die Totenliste“ eindeutig das Spätprodukt einer versunkenen Epoche. Die Auflösung soll dieser Stelle nicht verraten werden, aber es ist kein langes Nachdenken nötig, um zu erkennen, dass der Mörder einen irrwitzigen Aufwand für ein grundsätzlich sinnloses Verbrechen treibt. Andererseits ist dies womöglich nur ein weiterer Aspekt seines Wahns. Was freilich noch wichtiger ist: Die Story ist absolut unrealistisch, aber dem Verfasser gelingt es vorzüglich, sie uns zu verkaufen. So lange wir lesen, kümmern wir uns nicht um die Logik, sondern lassen uns unterhalten. Dem strengen Kritiker mag dies nicht genug sein, wir Leser sagen: Gute Arbeit, Mr. MacDonald!

Wie die meisten klassischen „Whodunit?“-Krimis weist „Die Totenliste“ keine ausgefeilte Figurenzeichnungen auf. Im Vordergrund steht das kriminalistische Rätsel. Wie wurde die Untat begangen? Der Detektiv wirkt als „deus ex machina“ mit aufgesetzten Marotten, die seinen Unterhaltungswert steigern. Das hat er auch bitter nötig, weil menschliche Züge ihm weitgehend fremd sind. Anthony Gethryn ist ein Spürhund, ganz Job, nur ansatzweise Mensch – oder gar Mann.

Eine Liebesgeschichte gibt es zwar durchaus. MacDonald fügt sie seinem Garn allerdings eher pflichtschuldig hinzu. St. Denis soll als feuriger Franzose auftreten, der um die schöne, nur vorgeblich kühle Jocelyn Messenger buhlt. Da sprühen keine Funken, sondern dominieren stumpfe Klischees. Die Männer sind nur sie selbst, wenn sie unter sich bleiben. Über allem schwebt die typische „Old Boys“-Atmosphäre kameradschaftlicher Verbundenheit. Man hat denselben gesellschaftlichen Hintergrund, hat studiert, im Krieg wacker fürs Vaterland gekämpft. Das verbindet, nur das zählt wirklich.

Wer nicht dazu gehört, hat Pech gehabt. Unserem Bösewicht ist es so ergangen. Man hat ihm vorenthalten, was er ersehnt und meint als Geburtsrecht für sich beanspruchen zu können. Darüber ist er buchstäblich verrückt geworden. MacDonald hält sich klugerweise mit entsprechenden Szenen sehr zurück. Smith-Brown-Jones kontrolliert sich streng und organisiert seine Mordattacken vorbildlich. Darunter lauert stets der Wahnsinn, kein kriminalistischer Sportsgeist mehr, wie ihn die Widersacher von Sherlock Holmes, Hercule Poirot oder Gideon Fell an der Tag legten.

Meisterregisseur John Huston (u. a. „Der Malteser Falke“, „Der Schatz der Sierra Madre“, „African Queen“) verfilmte „Die Totenliste“ 1963 mit George C. Scott in der Gethryn-Rolle. Es entstand ein etwas konfuses, aber flottes B-Movie von zeitlosem Unterhaltungswert. Von der zeitgenössischen Werbung sehr herausgestellt wurde ein kurioser, jedoch leicht verunglückter Gag: Große Stars (Robert Mitchum, Burt Lancaster, Tony Curtis, Frank Sinatra) absolvierten kurze Gastauftritte. Sie wurden ausgiebig mit Latex verpflastert sowie verkleidet und durften sich in einer dem Film angehängten Sequenz demaskieren, damit man sie wenigstens nachträglich identifizieren konnte. Den Vogel schoss wie so oft Kirk Douglas ab, der als unheimlicher Mörder gleich in vier Rollen nicht zu erkennen war.

Philip MacDonald wurde 1899 in eine Familie berühmter Literaten geboren. Sein Vater Ronald war Schriftsteller und Theaterstückverfasser, sein Großvater der berühmte schottische Dichter und Autor George MacDonald (1824-1905). Bis er selbst zur Feder griff, folgte Philip treulich den Konventionen seiner Zeit. Nach seiner Schulzeit ging er zum Militär und wurde Kavallerist. Als solcher wurde er einberufen und erlebte den I. Weltkrieg auf den Schlachtfeldern des fernen Mesopotamien. Ins Zivilleben zurückgekehrt, begann er zu schreiben. Die ersten beiden Bücher entstanden als Kooperation zwischen Sohn und Vater MacDonald, wobei ersterer das Pseudonym „Oliver Fleming“ wählte.

Schon diese ersten beiden Werke („Ambrotox and Limping Dick“ und „The Spandau Quit“) waren Thriller im Stile eines John Buchan. Dann entdeckte MacDonald den klassischen Puzzle-Krimi als „sein“ Genre. 1924 debütierte er solo mit „The Rasp“, auf dessen Seiten der ehemalige Geheimdienstmann und Gentleman-Ermittler Colonel Anthony Ruthven Gethryn das Licht der literarischen Welt erblickte, der noch in vielen weiteren Romanen die Hauptfigur wurde. MacDonald war so erfolgreich, dass er 1931 als Drehbuchautor nach Hollywood gehen konnte. In den nächsten beiden Jahren entstand als „Nebenprodukt“ seiner Filmarbeit der Hauptteil seiner Werke, die indes oft unter dem Schreibtempo ihres Verfassers litten.

Mit dem II. Weltkrieg endete MacDonalds schriftstellerische Karriere bzw. verlagerte sich gänzlich auf die Filmarbeit. Mehr als 40 Kino- und TV-Filme schrieb er, darunter viele Routinestreifen der „Mr. Moto“- und „Charlie Chan“-Serien. Er lieferte aber auch die Story zum John-Ford-Klassiker „The Lost Patrol“ (1934) und arbeitete am Drehbuch zu Alfred Hitchcocks Meisterwerk „Rebecca“ (1940) mit. Ende der 1950er Jahre gab MacDonald das Schreiben auf. Mit seinen Kurzgeschichten war er zuletzt sehr erfolgreich gewesen: 1953 und 1956 zeichneten ihn die „Mystery Writers of America“ mit einem „Edgar Allan Poe Award“ aus. Sein letztes Werk wurde 1959 „The List of Adrian Messenger“, gleichzeitig der Abschied für Gethryn. Philip MacDonald starb 1981.

|Impressum|

Originaltitel: The List of Adrian Messenger (New York : Doubleday 1959)
Übersetzung: Georg Kahn-Ackermann
Deutsche Erstausgabe: 1961 (Kurt Desch Verlag/Die Mitternachtsbücher Nr. 101)
172 S.
[keine ISBN]
Letzte Neuauflage: 1983 (Wilhelm Heyne Verlag/Heyne Crime Classic Nr. 2066)
186 S.
ISBN 3-453-10669-5