Minte-König, Bianka – Estelle – Dein Blut so rot (Die dunkle Chronik der Vanderborgs 1)

Bianka Minte-König schreibt eigentlich Jugendbücher für pubertierende Mädchen, gern auch mit tatkräftiger Unterstützung ihrer eigenen Tochter Gwyneth Minte. Mit „Estelle – Dein But so rot“ jedoch, dem ersten Teil der „Dunklen Chronik der Vanderborgs“, wagt sie sich nun vor ins Erwachsenengenre, leicht zu erkennen an der blassen Schönheit auf dem Cover, die lüstern-mysteriös vom Buchdeckel herabschaut. Es fehlt eigentlich nur noch der halbnackte, langhaarige Mann, der sie in seine Arme schließt, um programmatisch klarzumachen, worum es in „Estelle“ geht: Denn natürlich handelt es sich beim vorliegenden Roman um eine dieser Vampirromanzen, die momentan den Buchmarkt zu überschwemmen drohen und innerhalb klar abgesteckter Handlungsschemata immer wieder die gleiche Geschichte erzählen. Immerhin hat Bianka Minte-König versucht, dem Genre ihren eigenen Stempel aufzudrücken, unter anderem auch, indem sie die Handlung ganz bodenständig nach Deutschland verlegt. Zumindest für große Teile …

_Wir befinden uns_ im Berlin der Jahrhundertwende. Vanderborg ist ein Tüftler, der von allem fasziniert ist, was mit Elektrik und Strom zu tun hat. Für den Großen Pilati, einen Zauberkünstler, baut er Maschinen, um dessen Illusionen überhaupt erst möglich zu machen. Seine neueste Erfindung ist eine Vampirfangmaschine, und weil so ein Vampir eine absolute Attraktion in Pilatis Bühnenshow wäre, fährt Vanderborg – seinen Sohn Friedrich, seine Tochter Estelle und eben jene Maschine im Gepäck – nach Polen, um sich dort einen Vampir zu fangen. Das kann so schwierig schließlich nicht sein! Leider geht die ganze Aktion jedoch vollkommen schief. Estelle wird während der Fangaktion vom Blitz getroffen. So scheint es jedenfalls. Was jedoch weder Vanderborg noch Friedrich begreifen ist, dass ihnen tatsächlich ein Vampir ins Netz gegangen ist: Im entscheidenden Moment ist nämlich die Vampirin Eleonore in Estelle gefahren, um fortan in deren Körper zu leben.

Für sie ist es eine Chance und ein Neuanfang. Mit Vanderborg und Friedrich fährt sie zurück nach Berlin. Zwar stellt sie bald fest, dass sie immer noch ein Vampir ist (so verträgt sie kaum Sonnenlicht und braucht regelmäßig Blut), doch eröffnen sich ihr auch ganz neue Möglichkeiten. Zusammen mit den beiden Männern fährt sie zur Weltausstellung nach Paris, da der Große Pilati dort eine Anstellung hat. Seine Illusionsmaschinen werden jedoch nicht geliefert und die ganze Reise endet in der Katastrophe – und in der Pleite. Den Karren aus dem Dreck zu ziehen fällt an Estelle. Sie soll den reichen Bankier Karolus Utz heiraten, um die Familie wieder solvent zu machen. Die Ehe steht jedoch unter einem schlechten Stern. Utz ist nicht gerade ein vorbildlicher Ehemann. Er hat eine Geliebte, die Estelle verabscheut. Doch kann Estelle Utz diese Tatsache moralisch bald nicht mehr vorwerfen, denn als sie den Soldaten Amadeus kennenlernt, beginnt auch sie eine Affäre. Das kann natürlich nicht endlos gut gehen, doch zunächst kommt der Erste Weltkrieg dazwischen und Liebesdinge müssen hintan gestellt werden.

_In vielerlei Hinsicht_ ist „Estelle“ ein Roman wie tausend andere. Die Hauptfigur ist eine vom Schicksal gebeutelte Heroine, wunderschön und eigentlich gutherzig, der jedoch aufgrund der äußeren Umstände ein tragisches Schicksal zugefallen ist. In Estelles (bzw. Eleonores) Fall begann alles damit, dass der Gutsherr ihres Dorfes sie töten ließ. Sterbend, verfluchte sie ihn und sein Geschlecht und kam als Wiedergänger wieder, um jeden in der Familie des Gutsherren ins Jenseits zu befördern. Dass diese Art der Vampirwerdung auch innerhalb des Romans eine Sonderstellung einnimmt (alle anderen Vampire werden klassisch durch Biss vampirisiert), wird zwar thematisiert, jedoch nie logisch aufgeklärt. Vermutlich ging es Minte-König allein darum zu zeigen, dass Eleonore unschuldig an ihrem Schicksal ist, um ihr keine Lesersympathien zu entziehen.

Und natürlich gibt es eine überlebensgroße, alles verschlingende Liebe. Zunächst fühlt sich Estelle zwar zu Friedrich hingezogen, bemerkt aber bald, dass dies eine Sackgasse ist. Nicht nur würde die Welt eine solche Partnerschaft für Inzest halten, auch überkommt sie jedes Mal der Blutdurst, wenn sie Friedrich nahekommt. Als sie dann jedoch Amadeus kennenlernt, wird alles anders. Ihr innerer Vampir meldet sich nicht, wenn sie sich küssen. Das einzige, was zwischen ihnen steht, ist Utz. Zwar versucht Estelle halbherzig, die Affäre zu beenden, doch wird daraus nichts. Eine überlebensgroße Liebe wäre schließlich nicht überlebensgroß, wenn nicht er androhen würde, sich zu erschießen, sollte sie sich entscheiden, ihn nicht wiederzusehen. Und sie wäre ebenso wenig überlebensgroß, würde sie nicht praktisch an Melancholie eingehen, wenn sie von ihm getrennt ist. Dass solcherart destruktive Gefühle nicht wirklich etwas mit Liebe, sondern eher mit pathologischer Besessenheit zu tun haben, wird natürlich nicht thematisiert. Schließlich ist es ein Topos des Liebesromans, dass A ohne B nicht leben kann – eine sehr literarische Vorstellung, die sich im wahren Leben in der Regel nicht bestätigt (zum Glück).

Von den Charakteren und der Liebesgeschichte ist also kaum Überraschendes zu erwarten. Die Beschreibung der Liebesszenen dümpelt auch eher zwischen durchschnittlich und geradezu unterirdisch dahin. Minte-König beweist zumindest genügend Geschmack, die Bettgeschichten nicht überhand nehmen zu lassen und die entsprechenden Szenen immer der eigentlichen Handlung unterzuordnen. Wenn aber Estelle beispielsweise mit ihrem Liebhaber schläft und seine männliche Schönheit vor sich ausgebreitet sieht “wie ein geschmeidiges Wild, frisch erlegt, dem Jäger zum baldigen Genusse präsentiert”, dann ist das so unappetitlich wie metaphorisch schief. Da schaudert es den Leser unwillkürlich. Liebe mag zwar durch den Magen gehen, aber das Sprichwort bezieht sich wohl eher nicht auf einen derartigen Vergleich.

Was „Estelle“ aus der reinen Schnulze heraushebt, ist das gut ausgearbeitete Setting. Dass Bianka Minte-König in Berlin geboren wurde, zeigt sich deutlich. Die Stadt beschreibt sie mit einem guten Blick fürs (auch historische) Detail und so wird der Moloch Berlin bald selbst zum überzeugendsten Charakter innerhalb des Romans. Ebenso gut gelingen ihr die vielen kleinen literarischen Anspielungen, von denen der eine Leser wohl mehr, der andere weniger versteht. So gibt sie literarischen Größen Cameo-Auftritte (z.B. Georg Heym oder Georg Trakl). Sie lässt den berühmten Zille ein Porträt von Estelle malen und legt den handelnden Figuren wiederholt literarische Zitate in den Mund. Diese Passagen geben der doch recht geradlinigen und klischeehaften Handlung eine weitere Dimension und zeigen deutlich die germanistischen Wurzeln der Autorin. Da „Estelle“ noch zwei weitere Romane folgen sollen, darf man gespannt sein, welcher literarischen Epoche sich Minte-König dann so leidenschaftlich widmet.

_Wer Paranormal Romances_ bzw. Vampirroman(z)en mag, der ist mit „Estelle“ in jedem Fall besser bedient als mit der amerikanischen Massenware, die im Buchhandel erhältlich ist. Bianka Minte-König hat sich mit dem gut recherchierten historischen Setting viel mehr Mühe gegeben als es im Liebesroman-Genre in der Regel üblich ist. Dass die Liebesgeschichte dennoch in vorgefertigten Bahnen verläuft, ist vermutlich den Anforderungen des Genres und den Vorlieben des Publikums geschuldet.

|Broschiert: 423 Seiten
ISBN-13: 978-3800095247|

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