Mo Hayder – Die Behandlung

Ein Psychopath bringt Familien in seine Gewalt, die er anschließend systematisch erniedrigt und zerstört. Die Polizei sucht verzweifelt nach einer Spur des diabolischen „Trolls“, der gerade eine neue Runde seiner ‚Behandlung‘ begonnen hat … – Auch der 2. Roman der Jack-Caffery-Serie ist eine infernalische Reise in die Tiefsee der menschlichen Seele; spannend aber erbarmungslos zerrt die Autorin ihre Leser in ein Finale, das diesen Höllenritt tatsächlich toppen kann: ein finsteres Meisterwerk!

Das geschieht:

Jack Caffery, Detective der Mordkommission Südlondon, hat viel Elend gesehen. Sein aktueller Fall bringt ihn trotzdem mental aus dem Gleichgewicht: Ein Psychopath hat sich Einlass in das Haus der Peaches verschafft, Vater, Mutter und den neunjährigen Rory in seine Gewalt gebracht und sie ein unendlich langes Sommer-Wochenende völlig ungestört einer stumpfen, erbarmungslosen ‚Behandlung‘ unterzogen. Wie durch ein Wunder überleben die Eltern, aber Rory hat der Täter entführt. Obwohl die Beamten praktisch jeden Stein umdrehen, wird das Kind zu spät und bereits tot gefunden.

Die Polizei widmet sich dem scheußlichen Verbrechen mit vollem Einsatz und findet Hinweise auf den „Troll“, einen sadistischen Triebtäter, der dem Gesetz bisher entkommen konnte. Schlimmer noch: Ein Profil, das Caffery entwirft, macht deutlich, dass der „Troll“ längst eine andere Familie überfallen haben könnte. Die Churches könnten dies bestätigen, aber Vater, Mutter und Sohn sind damit beschäftigt, um ihr Leben zu kämpfen. Auch in ihrem Haus geht der „Troll“ nach seinem vom Wahnsinn diktierten Drehbuch vor, während Caffery und seine Kollegen verzweifelt herauszufinden versuchen, wo ihr Gegner zugeschlagen haben könnte.

Ein grotesker Wettlauf hat begonnen: Je länger die Churches ihrem Foltermeister widerstehen, desto größer wird die Chance der Polizei, sie zu finden und zu retten. Aber sogar Caffery, der zu allem Überfluss einen Privatkrieg mit dem Kinderschänder Penderecki führt, kennt nicht einmal annähernd die Dimension des wahren Grauens, das der „Troll“ über seine Opfer zu bringen gedenkt: Der Tod ist manchmal nicht das schlimmste Schicksal …

Nicht pubertär ‚schrecklich‘, sondern real und böse

Mo Hayder setzt neue Maßstäbe im Genre Serienmord-Thriller. Das gelang ihr schon in ihrem Debütroman „Der Vogelmann“, und sie kann sich mit diesem zweiten Teil der Jack-Caffery-Serie noch einmal steigern. Fragt sich nur, ob wir ihr dafür wirklich dankbar sein können. Selten ist es einem Autor gelungen, einen derartig verstörenden, düsteren, bar jeglichen Hoffnungsschimmers inszenierten Thriller auf die Leserschaft loszulassen. „Die Behandlung“ ist ein Trommelfeuer heimtückischer Tiefschläge in die Magengrube, ein morbides Meister- oder Machwerk, das mit den Maßstäben simpler Unterhaltung eigentlich nicht mehr gemessen werden kann.

Als Thriller bietet die Autorin einen grundsoliden, schlüssig entwickelten und logisch aufgelösten Plot. Die Figurenzeichnung lässt ebenfalls wenig zu wünschen übrig; ein wenig verrutscht ist Hayder höchstens die Figur der Chief Inspector Danniella Souness, eine hartgesottene Bürstenschnitt-Lesbe, die gar zu offensichtlich als Verstoß gegen politisch korrekte Klischees gestaltet wurde. Immerhin ist Souness trotz diverser häuslicher Schwierigkeiten noch die Fröhlichste in einer Runde trauriger Gestalten, gegen die Ian Rankins melancholische Schotten oder Henning Mankells polardepressive Schweden wie überdrehte Stimmungskanonen wirken.

Dies passt zu einem Buch, das man trotz seiner inhaltlichen und formalen Vergnügen nicht wirklich mit Vergnügen liest. Zwar gilt gewissen Kritikern die schriftstellerische Bloßlegung des Lesernervs ohne Betäubung als rechte Königsdisziplin, aber diese Haltung muss man nicht unbedingt teilen. Dass wir diesen Globus mit Zeitgenossen teilen, die eindrucksvoll unter Beweis stellen, dass der Titel „Mensch“ eigentlich gesetzlich geschützt werden musste, ist eine nur zu bekannte Tatsache, an die wir nicht ständig erinnert werden müssen – oder möchten. Doch Hayder legt nicht nur den Finger auf die Wunde, sondern bohrt ohne Erbarmen tief in ihr herum: Dies sollte beachtet werden, bevor man sich an die Lektüre wagt.

Ganz unten = jenseits der Menschlichkeit

Dabei irritiert nicht primär die ungewöhnlich drastische Weise, in der sich Hayder dem Phänomen des Serienmordes nähert. Im Grunde ist es sogar eine erfreuliche Abwechslung, nicht schon wieder mit einem dämonisch-faszinierenden Hannibal Lecter-Klon konfrontiert zu werden. Serienmörder sind keine unkonventionellen Helden der Neuzeit, sondern kranke, gefährliche, abstoßende Gesellen, die ganz sicher nicht zum Helden taugen. Aber auch das Mitgefühl selbsternannter Gutmenschen dürfte vom „Troll“ abtropfen: Er ist zwar selbst das Produkt brutalen Missbrauchs, aber Hayder erinnert immer wieder daran, dass ihn seine Krankheit nicht der Verantwortung für das eigene Denken und Handeln enthebt.

Wie konsequent Hayder in dieser Hinsicht bleibt, verdeutlicht der Subplot um Cafferys Suche nach dem verlorenen Bruder Ewan. Seit mehr als zwei Jahrzehnten martert ihn die Erinnerung an das Verschwinden des Älteren, der offensichtlich einem Kinderschänder zum Opfer gefallen ist. Caffery kennt sogar den Hauptverdächtigen: Ivan Penderecki, ein Nachbar und überführter Päderast, konnte niemals überführt werden. Dies endlich nachzuholen und Aufklärung über das Schicksal des Bruders zu erhalten, ist Cafferys fixe Idee geworden. Er hat das Haus der Eltern geerbt und ist dort eingezogen. Seit Jahren liefert er sich ein bizarres Katz-und-Maus-Spiel mit Penderecki, der ihn mit kaum verhohlenen Andeutungen quält, die deutlich machen, dass er tatsächlich um Ewans Ende weiß.

Von allen Bosheiten, die sich die Menschen einander zufügen können, ist der Missbrauch der ganz Jungen, Wehrlosen sicherlich der infamste. Dieser Handlungsstrang ist am schwersten erträglich, zumal Hayder ihrem Publikum keinerlei Pardon gewährt und mit fast klinischer Präzision – die freilich fern jeder sensationslüsternen Effekthascherei bleibt – kaum vollstellbare Gräuel schildert. So konfrontiert sie uns mit einem Reigen jämmerlicher, deformierter und zerstörter Persönlichkeiten. Eine Erlösung oder auch nur Gerechtigkeit bleiben folgerichtig aus. Unglaublich perfide konterkariert Hayder das Happy-End, mit dem Jack Caffery belohnt zu werden scheint, mit dem grausamen Schicksal Ewan Cafferys, das diesen praktisch unter den Augen des ahnungslosen Bruders ereilt, der seinen schließlich gefundenen inneren Frieden teurer bezahlt, als ihm jemals bewusst werden wird. Dieses Finale wird nicht so schnell in Vergessenheit geraten!

Lektüre als (lohnenswerte) Anstrengung

Kein Thriller für den Feierabend also, sondern … ja, was eigentlich? Wie es scheint, lassen sich auch keine Lehren aus der Lektüre dieses Werkes ziehen. Sehr irritierend ist die faksimilierte Wiedergabe des „Troll“-‚Behandlungsprotokolls‘ als Epilog – ein Dokument des Wahnsinns, aber was soll das jetzt noch? Neue Erkenntnisse bringen uns die Rasereien eines gestörten Geistes jedenfalls nicht mehr. Die Welt ist schlecht, so die deprimierende Quintessenz, aber das wussten wir wie gesagt schon vorher.

Trotzdem wird sich kaum jemand dem Sog der „Behandlung“ entziehen können. Dafür gibt es mehrere Gründe. So ließe sich anführen, man wolle des inneren Friedens willen unbedingt die Auflösung der Geschichte kennen: Es muss doch irgendwann die Gerechtigkeit wieder Oberwasser bekommen! Aber da ist noch etwas anderes: das voyeuristische Interesse am Unglück des Nachbarn, das einen selbst nicht trifft – an sich eine recht menschliche Anwandlung, die kontrolliert, aber nicht unterdrückt werden muss. Hayder thematisiert diese gern totgeschwiegene Schaulust vorzüglich am Beispiel der Familie Church, die heimlich fasziniert das Grauen im nahe gelegenen Haus der Peaches verfolgt und sich dazu beglückwünscht, verschont geblieben zu sein.

Umso heftiger ist dann der Schock – für die Churches und für den Leser -, wenn der „Troll“ doch im trügerisch trauten Heim zuschlägt. Die Reaktion ist natürlich vorgezeichnet; sie dürfte schon unseren Höhlen bewohnenden Vorfahren in Fleisch und Blut übergegangen sein: Wieso trifft es mich? Das habe ich doch nicht verdient! Doch Sicherheit gibt es nicht auf dieser Welt; sollte diese Erkenntnis zu vermitteln Mo Hayders Intention gewesen sein, hat sie ihr Ziel wahrlich erreicht!

„Die Behandlung“ – der Film

2014 wurde der Roman verfilmt – allerdings nicht in England, sondern in Belgien. Die Handlung von „De behandeling“ verlegte Drehbuchautor Carl Joos problemlos in dieses Land. Geert Van Rampelberg ermittelte unter der Regie von Hans Herbots als „Nick Cafmeyer“. Auf DVD und Blu-ray ist „Die Behandlung“ im Januar 2015 auch in Deutschland erschienen (Label „Capelight“).

Autorin

Mo Hayder (geb. 1962) hat als Schriftstellerin den besten Leumund zu bieten: einen kunterbunten Lebenslauf. Demnach hat sie die Schule mit 15 Jahren verlassen und sich u. a. als Barmädchen, Wachschutzfrau, Filmemacherin, Hostess und Englischlehrerin durchgeschlagen, wobei sie einige Jahre im asiatischen Ausland verbrachte. Zwischendurch hat sie an der American University in Washington DC Film und Kreatives Schreiben an der englischen Bath Spa University studiert.

Sie hat offensichtlich gut aufgepasst, denn schon mit ihrem Romandebüt („Birdman“, dt. „Der Vogelmann“) schaffte sie den Durchbruch. Diverse Buchpreise folgten, der Ekelfaktor stieg und erreichte 2004 in „Tokio“ seinen Höhepunkt. 2006 folgte mit „Pig Island“ (dt. „Die Sekte“) ein von der Kritik und den Lesern nicht mehr so enthusiastisch begrüßtes aber ungeachtet seiner Qualitäten von der Werbung gepushtes Werk.

Privat lebt Mo Hayder mit ihrem Lebensgefährten und einer gemeinsamen Tochter im englischen Bath. Über ihr Werk informiert diese Website.

Taschenbuch: 511 Seiten
Originaltitel: The Treatment (London : Bantam Press/Transworld Publishers 2001)
Übersetzung: Christian Quatmann
www.randomhouse.de/goldmann

eBook: 1840 KB
ISBN-13: 978-3-89480-580-7
www.randomhouse.de/goldmann

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