11. bis 25. September 1683: zwei Wochen im heißen römischen Spätsommer, welche die Weltgeschichte verändern könnten. In der Locanda del Donzello, einer der zahllosen kleinen Herbergen der Ewigen Stadt, stirbt ein Gast, der alte französische Edelmann de Mourai. Die Umstände weisen auf einen Pestfall hin, was die Stadtverwaltung umgehend und rigoros handeln lässt: Die Herberge wird mit Brettern vernagelt und bewacht, ihre Bewohner unter Quarantäne gestellt.
Diese sind empört und voller Furcht. Dabei schließt Cristofano, ein berühmter Arzt aus Siena, die Seuche als Todesursache aus. Er tippt vielmehr auf Gift. Dass sich ein Mörder unter ihnen befinden könnte, kann die Gruppe ganz und gar nicht beruhigen. Aber die Theorie scheint sich zu bewahrheiten, als Pellogrino des Grandis, der Wirt der Herberge, einen mysteriösen Unfall erleidet und schwer verletzt aufgefunden wird.
Der Abbé Atto Melani aus Pistoia beschließt, sich als Detektiv zu versuchen. Ihm zur Seite steht der Hausbursche der Locanda del Donzello. Der junge Mann, ein Waisenkind, das eine gute Ausbildung erfuhr, begrüßt begeistert die Möglichkeit, die Grenzen seiner engen Welt zu erweitern. Die Schar der Verdächtigen ist bunt. Roberto Devizé, Musiker aus Paris, gehört zu ihnen, dazu gesellen sich Pater Juan des Robleda, Jesuit aus dem spanischen Granada; Domenico Stilone Priàso, Dichter aus Neapel; Angélo Brenozzi, Glasbläser aus Venedig; Pompeo Dulcibeni aus Fermo, des Verstorbenen de Mourais Reisebegleiter; Eduardus Bedfordi, ein Engländer – und Clorida, die wunderschöne Kurtisane.
Sie alle, so erfahren die Detektive rasch, sind nicht jene, für die sie sich ausgeben. Alle hüten sie ein düsteres Geheimnis, scheinen verwickelt in ein mörderisches Intrigenspiel, das ganz Europa umspannt. Es geht um nichts weniger als die Verteidigung Europas gegen die Türken, deren offenbar unüberwindlichen Heere Wien, das letzte Bollwerk des Abendlandes, belagern. Der habsburgische Kaiser ist geflohen. Papst Innozenz XI. will sich statt seiner zum Haupt des Widerstands aufschwingen. Die Könige Europas hören auf ihn – mit einer Ausnahme: Louis XIV., Frankreichs „Sonnenkönig“, missgönnt Innozenz den politischen Machtzuwachs. Wie es scheint, ist der machtgierige Souverän sogar bereit, sich mit den Türken zu verbünden.
Alle Parteien setzen Geheimagenten ein. Ausgerechnet in der Locanda del Donzello scheinen sich einige der berühmtesten Vertreter ihrer geheimnisvollen Zunft versammelt zu haben. Ihre Aktivititäten setzen sie trotz der Quarantäne fort. Dabei gehen sie durch düstere Geheimgänge – und über Leichen. Der Größte unter diesen Spionen ist – der Hausbursche erkennt es mit Schrecken – Atto Melani, der „Ratgeber“ des Sonnenkönigs. Den übrigen „Gästen“ traut er noch weniger. Wohl oder übel hält er sich deshalb an Melani. Der hat aber noch eine private Rechnung offen, die zu tilgen ihn und alle, die sich in seinem Umfeld bewegen, in Lebensgefahr bringen wird …
Die Welt des Jahres 1683, eine für den Menschen der Moderne fremdartige, exotische Ära, projiziert in die kleine, überschaubare Locanda del Donzello, die gleichzeitig Schauplatz eines „locked room“-Mysteriums des klassischen Kriminalromans wird. Grundsätzlich lassen beide Aspekte kaum Wünsche offen. Zehn Jahre haben die beiden Autoren (laut Klappentext) an ihrem Opus gearbeitet; man glaubt es gern, denn die Fülle der Fakten, die vor dem Leser ausgebreitet werden, ist beeindruckend. Politik, Religion, Medizin, Handwerk, Architektur, Kochkunst, Alchemie, Musik – Das Große, Wichtige mischt sich mit dem Alltäglichen. Dies entfaltet durchaus seine Wirkung, wirkt über weite Passagen freilich wie angelesenes Wissen, das um jeden Preis Eingang in die Handlung finden musste.
Solche gelehrten Vorträge und Diskussionen blähen die Geschichte auf, bis man sie nur mehr in ein backsteindickes Buch pressen kann, das sich fabelhaft als „Bestseller“ auch für „anspruchsvolle Leserschichten“ vermarkten lässt. Dabei ist das Schielen nach dem großem Vorbild mehr als offensichtlich: Umberto Eco verzwirbelte 1980 in „Der Name der Rose“ kongenial Historie und Thriller. Dieses Werk brachte eine quasi industrielle Fertigung von Romanen in Gang, die in und mit der Vergangenheit spielen. Um die meisten schlage man besser einen weiten Bogen. „Imprimatur“ spielt in einer höheren Liga. Die unnachahmliche Leichtigkeit, mit der Eco zwischen Wissenschaft und Unterhaltung wandelte, geht Monaldi & Sorti allerdings ab.
Sie streben wie gesagt allzu deutlich – wenn nicht nach dem „Meisterwerk“, so sicherlich nach dem „Bestseller“. Letzteres mag gelingen, zu Ersterem fehlt eine Menge. So ist es keine gute Idee, die Protagonisten über viele hundert Seiten in der abgeriegelten Locanda festzuhalten. Die Mär von der Europa überspannenden Verschwörung lässt sich partout nicht mit dem klassischen „Mord im verschlossenen Raum“ kombinieren. Folgerichtig kommt erst dann Schwung in die Handlung, als sie durch unzählige Geheimgänge die Herberge verlässt. In den Straßen und Gassen Roms gewinnt die Geschichte sogleich Dynamik, es wird weniger geredet als gehandelt.
Es wurde auch Zeit, denn die Story verdient die Aufmerksamkeit, die ihr endlich zuteil wird. Das Autorenduo hat sich viel Mühe gegeben, ein zentrales Kapitel der europäischen Geschichte auf ungewöhnliche Weise zu „rekonstruieren“. Nie sollte sich der Leser sicher sein, hinter das „Imprimatur“-Mysterium zu blicken – es verwandelt sich ständig, enthüllt neue Seltsamkeiten, mündet in deduktiven Sackgassen, ändert die logische Richtung, schließt Irrtümer und Fehlinterpretationen der Handelnden niemals aus. Die Autoren haben zu jedem Zeitpunkt die Nasen vorn. Noch besser: Die unzähligen Rätsel, die bis dato aufgeworfen wurden, finden im wahrlich großen Finale nicht nur ihre Auflösung. Diese kann ihrer gewaltigen Vorgeschichte standhalten, ohne durch allzu läppische, womöglich aus dem Hut gezogene „Lösungen“ zu verärgern. Die Autoren haben unzählige historische Puzzleteile famos zusammengesetzt. So muss es auch sein am Ende eines Romans, in den man immerhin die Zeit für die Lektüre von mehr als 700 Seiten investiert hat!
Zehn Jahre Arbeit haben Monaldi & Sorti in ihr Werk investiert. Sie möchten offenbaren, welche Mühe sie sich gegeben haben. Viel Staub haben sie in zahlreichen Archiven geschluckt, sich durch meterdicke Stapel staubiger Uralt-Quellen gewühlt, obskure Hinweise kreuz und quer durch Europa verfolgt. Was sie teilweise herausgefunden, teilweise neu entdeckt haben, fließt beeindruckend in „Imprimatur“ ein. Dem eigentlichen Roman folgt indes eine fünfzigseitige wissenschaftliche Abhandlung, die das gerade Geschriebene noch einmal aufgreift und vertieft: Dem Autorenduo gönnt man seinen Triumph, aber es ist zu fürchten, dass die meisten historischen Laien diesen Abschnitt großzügig überspringen. Der skeptische Fachmann wiederum wird sich – die Autoren erwarten nichts anderes – wohl kaum dem Schluss anschließen, das letzte Wort zum Reizthema „Innozenz XI. – Held der Geschichte oder infamer Intrigant“ sei nunmehr gesprochen.
Was die Handlung lange an Wünschen offen lässt, kann die Figurenzeichnung jederzeit ausgleichen. Natürlich gehen die Autoren auch hier an sich schematisch vor: Cristofano ist nicht e i n Arzt, sondern d e r Arzt, d. h. der Modellmediziner für seine Epoche, der immer eine Gelegenheit findet, seine Zuhörer und damit uns, die Leser, über den Stand seiner Wissenschaft (die arg an mittelalterliche Magie erinnert) in Kenntnis zu setzen. Ähnliches gilt für die anderen Protagonisten; sie stellen Repräsentanten weiterer Schichten des ausgehenden 17. Jahrhunderts: Kleriker, Adliger, Künstler, Handwerker, Kurtisane etc. Was sie zu sagen haben, ist wie bereits erwähnt oftmals interessant, nicht selten jedoch abschweifend und langweilig. Vor allem trägt es kaum zur Handlung bei.
Das Schema durchbricht der (stets anonym) bleibende Hausbursche. Die Autoren formen ihn zum Wanderer zwischen den Welten bzw. Ständen, deren Grenzen er als Diener vieler Gäste und nun in der Quarantäne überschreiten kann. Dumm ist er keineswegs, sondern naiv und unerfahren. Das muss er auch sein, denn er mimt nach dem Willen des Autorenduos den „reinen Toren“, der staunend und ohne eigenes Verschulden in ein Abenteuer oder eine Krise gerät. Der Hausbursche vertritt den Leser/die Leserin, die in der Regel wenig Ahnung haben von der Welt des Jahres 1683. Gemeinsam mit ihm werden wir vom Autorenduo durch die übrigen Figuren informiert. Das funktioniert gut, nur manchmal wird dieses Muster ein wenig zu offensichtlich.
Gleichzeitig ist der Hausbursche der „Watson“ in einer Kriminalgeschichte. Von der Kriminalistik bzw. der Unterwelt der zeitgenössischen Geheimdienste versteht er ebenfalls nichts. Deshalb stellt er die dummen Fragen, die auch uns Lesern ständig auf der Zunge liegen. Geduldig werden sie beantwortet vom „Holmes“, hier verkörpert durch den Abbé Melani, der wie alle genialen Schnüffler gern und ausgiebig über seine Arbeit spricht. Auch hier ist Monaldi/Sorti ein farbenfroher Charakter geglückt – Melani ist nicht nur ein mit allen Wassern gewaschener Agent, dem man besser nicht zu viel Vertrauen schenkt, sondern auch ein genialer Sänger, den man zur „Konservierung“ seiner Singstimme in jungen Jahren entmannt hat; auch so eine seltsame Sitte der Vergangenheit, die uns die Autoren nahe bringen …
Der ständigen Unsicherheit darüber, welchem Bewohner/Insasse der Locanda eigentlich zu trauen ist (keinem nämlich), verdankt „Imprimatur“ einen Gutteil seines Unterhaltungswerks. Hier haben die Verfasser wirklich gute Arbeit geleistet. Die Grenzen zwischen Schwarz und Weiß verschwimmen ständig. Die Bösen sind oft tragisch, ehrlich, witzig, die Guten berechnend, durchtrieben, undurchschaubar. Wie der arme Hausbursche bekommen wir einfach keinen festen Boden unter die Füße und reihen uns in die lange Reihe der „Besiegten“ ein, denen der Hausbursche seine Erinnerungen widmet.
Stets präsent, obwohl nur in wenigen Sätzen anwesend, ist Papst Innozenz, der letztlich alle seine Widersacher niederwirft oder schlicht überlebt. Er ist der wahre Bösewicht in diesem Spiel – ein hochintelligenter, aber skrupelloser Mann, der sein Amt um des eigenen Vorteils willen als Instrument seiner Macht- und Geldgier missbraucht und die Spuren seiner Schandtaten so perfekt zu verwischen weiß, dass spätere Generationen seine Heiligsprechung verlangen.
In diesem Zusammenhang stoßen Monaldi & Sorti selbstverständlich in das Horn der „Alles Böse kommt vom Vatikan“-Fraktion, das in den letzten Jahren von vielen anderen Unterhaltungsschriftstellern mehr oder weniger perfekt gespielt wird. Böse Päpste und uralte katholische Geheimbünde zur Unterdrückung biblischer „Wahrheiten“, die der Amtskirche missfallen, tummeln sich jederzeit in den Bestsellerlisten dieser Welt. Nie wird dieses Motiv freilich so perfekt mit historischen „Wahrheiten“ unterfüttert wie in „Imprimatur“. Diese Intrige ist wahrlich fast zu schön, um nicht wahr zu sein – eine bemerkenswerte Leistung, die den Verdruss über Längen in den ersten beiden Dritteln rasch und nachdrücklich vergessen macht!
Rita Monaldi und Francesco Sorti haben sich – thematisch angemessen ein wenig dramatisierend – in der Rahmenhandlung zu „Imprimatur“ selbst porträtiert: Ehemalige Studenten diverser Geisteswissenschaften sind sie, die sich irgendwann einen Brotjob gesucht haben und als Journalisten arbeiteten. Da die echte Liebe zur Geschichte freilich eine hartnäckige ist, haben sie ihre Forschungen in die Freizeit verlegt und schließlich mit dem Beruf verknüpft. Das Ergebnis angeblich zehnjähriger Aktivitäten in vielen Archiven und Bibliotheken (so der Klappentext) ist eben dieses „Imprimatur“ (sowie – eine so lange Zeit investiert man ungern für nur ein Buch – ein weiterer historischer Kriminalroman – „Secretum“, der sicherlich auch hierzulande bald erscheinen wird).