Philip Pullman – Der Goldene Kompass, Der (His Dark Materials 1)

Magier und Elfen sucht man in Philip Pullmans Trilogie |His Dark Materials|, die mit „Der Goldene Kompass“ ihren Anfang nimmt, vergebens. Trotzdem, oder gerade deswegen gehört das Buch zu den populärsten fantastischen Kinderbüchern der letzten Jahre, die durch den Erfolg von „Harry Potter“ ins Rampenlicht gerückt sind. Obwohl oft mit diesem verglichen, haben die Romane kaum etwas gemeinsam, davon einmal abgesehen, dass sie beide in England spielen und einen jugendlichen Hauptcharakter aufweisen. Während Rowlings Zauberlehrling nämlich an einer Magierschule aufwächst, die in die normale Welt der Gegenwart integriert ist, beginnt Pullmans Geschichte an einem Internat in Oxford – einem gewöhnlichen Handlungsschauplatz in einer alternativen Realität. Dies wird dem Leser aber erst allmählich klar, denn die Welt funktioniert nach ähnlichen, allerdings im Detail doch anderen Regeln. Und der vielleicht größte Unterscheid: Diese noch stark an die Wirklichkeit angelehnte Welt ist nicht die einzige, sondern eine von vielen, die Lyra, die Hauptfigur in diesem Buch, nach und nach erkundet.

Inhalt

Lyra ist ein junges, eigenwilliges Mädchen, das an einem Internat in Oxford aufwächst. Einzig ihr Onkel Asriel kommt ab und an für einen kurzen Besuch vorbei, jedoch weniger, weil er Lyra sehen möchte, sondern vielmehr aus Eigeninteresse und der Hoffnung heraus, dass das Internat seine Expeditionen in den hohen Norden weiterhin finanziert. Was ihr Onkel dort treibt, weiß Lyra nicht und interessiert sie auch nicht besonders. Ganz im Gegenteil, sie spielt lieber mit ihrem Freund Roger in den Gassen und Straßen der Stadt und liefert sich mit den Kindern anderer Internate und Schulen Schlachten in der Lehmgrube. Wenn sie nicht im Schlamm spielt, beschäftigt sie sich mit ihrem Daemon Pan, einem Vertrautentier, das jeder Mensch besitzt. In ihrem Alter kann sich ihr Daemon noch in alle Gestalten verwandeln; erst wenn sie erwachsen wird, sucht er sich eine feste Form.

Lyras Leben im College ändert sich schlagartig, als sie eines Tages durch die Gänge des Internats schleicht und per Zufall eine Versammlung mithört, der neben Wissenschaftlern, Bibliothekaren und dem Rektor des Internats auch ihr Onkel Asriel angehört. Er berichtet über Vorgänge im hohen Norden, auf die sich Lyra keinen Reim machen kann. Von mehren Welten, geheimnisvollem Staub und Tartarenangriffen ist da die Rede. Viel Politik, die Lyra noch nie sonderlich spannend fand, doch der Wunsch, ihrem Alltag zu entfliehen und mit ihrem Onkel reisen zu können, lässt sie nicht mehr los.

Dieser reist ohne sie wieder ab, doch auch Lyras Tage in Oxford sind gezählt. Es geht nämlich das Gerücht um, dass eine Bande dunkler Wesen, angeführt von einer schönen Frau, Kinder aus ganz Britannien stielt. Und tatsächlich, immer mehr Kinder verschwinden, schließlich auch Lyras Freund Roger. Nur wenig später taucht mit Mrs. Coulter eine geheimnisvolle Dame im Internat auf, die Lyra weit mehr, als ihr Onkel es je getan hat, von ihren Reisen und, sie kann es kaum glauben, Expeditionen in den Norden erzählt. Lyra ist Feuer und Flamme, und, dies kann sie noch weniger glauben, darf sogar Mrs. Coulter begleiten. Der Rektor hüllt sich über seinen plötzlichen Sinneswandel in Schweigen, doch er verrät Lyra, dass sie in Oxford nicht mehr sicher ist. Um ihr ein wenig Schutz zu bieten, schenkt er ihr ein Alethiometer, ein Gerät, das demjenigen, der es zu bedienen weiß, die Wahrheit mitteilt. Lyra solle es für sich selbst ausprobieren, nur so könne sie es sich zunutze machen, gibt ihr der Rektor mit auf dem Weg. Das Gefühl, dass sie dies noch brauchen wird, ist kein falsches, nur wissen weder der Rektor noch Lyra, dass ausgerechnet die feine und höfliche Mrs. Coulter hinter den Kindesentführungen steckt.

Es geht zunächst per Zeppelin nach London. Mrs. Coulter ist liebenswürdig, nimmt Lyra überallhin mit und erzählt ihr ausführlich alles, was das junge Mädchen wissen möchte. Doch als Lyra nach dem Staub fragt, zuckt sie kurz zusammen. Hat die Frau doch etwas zu verbergen? Es bleibt nicht bei diesem einen merkwürdigen Verhalten, und Lyra hat immer öfter den Eindruck, in einem goldenen Käfig eingesperrt zu sein. Als das Mädchen auf einer Cocktailparty, die Mrs. Coulter gibt, ein Gespräch belauscht, in dem es um die Gefangennahme ihres Onkels Asriels geht, der in Svalbard von gepanzerten Bären festgehalten wird, entschließt sie sich zur Flucht. Sie will auf eigene Faust herausfinden, in was für ein Spiel ihr Onklel, Mrs. Coulter und die verschwundenen Kinder verwickelt sind und welche Rolle das Alethiometer, der Staub und die Oblations-Behörde spielen.

Es geht Schlag auf Schlag. Lyra trifft auf die Gypter, ein von der Gesellschaft eher gemiedenes Völkchen, und erhält dort Unterschlupf. Mittlerweile von Mrs. Coulters Anhängern gesucht, findet sie bei den Gyptern mit John Faa und Farder Coram zwei wichtige Verbündete, die sie mit auf eine Schiffsreise in den hohen Norden nehmen. Mittlerweile lernt Lyra ihr Alethiometer zu gebrauchen und verschafft sich damit einen enormen Wissensvorsprung, den sie zunehemnd sinnvoll zu nutzen weiß. So gelingt es ihr, mit Serafina Pekkala einen Hexenstamm und mit Iorek Byrnison einen gepanzerten Bären auf ihre Seite ziehen. Gemeinsam mit Lee Scoresby, einem Aeronauten, der einen riesigen Ballon zu steuern weiß, macht sich die ungleiche Truppe auf, die Geheimnisse zu lüften, die im Norden ihrer Entdeckung harren. Denn mittlerweile haben sie herausgefunden, wohin die entführten Kinder gebracht und welche Experimente mit ihnen, mit Wissen der Kirche und hochrangigen Regierungsmitgliedern, durchgeführt werden. Doch Lyra steht vor einer noch viel größeren Aufgabe, denn sie erfährt, dass Lord Asriel ihr Vater und Mrs. Coulter ihre Mutter ist …

Bewertung

Philip Pullman weiß den Leser zu fesseln. Dabei beginnt „Der Goldene Kompass“ regelrecht harmlos, nichts deutet darauf hin, wie sich die Handlung im Laufe des Romans entfaltet. Das Internat, Oxford und Lyras kleine Abenteuer mit ihren Freunden machen den Leser zunächst vertraut mit einer scheinbar bekannten Welt – vor etwa hundert Jahren in England. Dass es sich um ein alternatives Setting mit fantastischen Elementen handelt, wird dem Leser zunächst nur durch die Daemonen bewusst, die jeden Menschen begleiten und eine Art Vertrautentier symbolisieren, aber zugleich auch eine Art Seele darstellen. Spärlich kommen weitere fantastische Motive hinzu, zum Teil werden auch geschichtliche Fakten leicht verändert, wie etwa die Andeutungen auf den Papst und die Kirche, die bereits früh in einem zweifelhaften Ruf dargestellt werden.

Obwohl man sich in einer alternativen Welt weiß, nutzt Pullman die Möglichkeit eines einfachen Zugangs und schafft so eine Brücke in seine Romanwelt, um die Identifikation so einfach wie möglich zu halten. Spätestens dann, wenn Lyra ihre Reise in den Norden antritt und mit Iorek auf den gepanzerten Bären und mit Serafina auf eine Hexe trifft, ist der Leser bereits dermaßen gefangen, dass er die der Welt zugrunde liegenden Regeln nicht mehr in Frage stellt und sich mitten in ihr befindet.

Die Glaubwürdigkeit ist es, welche die Geschichte so faszinierend macht, obwohl immer stärkere Geschütze aufgefahren werden und Pullman am Ende dieses ersten Buches andeutet, wohin die weitere Reise geht. Pullman ergeht sich dabei nicht in seitenlangen Beschreibungen über Zeppelinfahrten, kämpfende Bären und fliegende Hexen, sondern widmet ihnen genauso viel Gewicht wie allen anderen Szenerien und Dialogen, so dass sie nicht als Besonderes hervorgehoben, sondern integriert werden. Die Bilder entstehen im Kopf und werden nicht aufgezwungen, wie es viele Autoren durch mittelprächtige Landschaftsbeschreibungen oder ausgeschmückte Kampfszenen versuchen und dabei ihre eigentliche Geschichte aus den Augen verlieren. Der Autor zeigt Mut zur Lücke, fasst Passagen zusammen, die er zweifellos ausschmücken könnte, und steigt wieder dort ein, wo sich die Spannung aus dem Plot ergibt.

Bei Pullman stehen die Charaktere im Vordergrund, allen voran Lyra, durch die wir diese vertraute und zugleich fremde Welt erkunden. Auch wenn einige der Nebenfiguren nicht ganz so plastisch dargestellt werden – etwa ab der Mitte des Romans werden viele neue Figuren gleichzeitig eingeführt, ohne ihnen großartig Hintergrund zu geben –, sind es Gestalten mit Ecken und Kanten, die weit davon entfernt stehen, schlicht in Schwarz und Weiß eingeteilt werden zu können, in Gut und Böse.

Obwohl die Sprache kindgerecht und einfach zu verstehen ist, ist sie doch vielschichtig und voller liebevoller Details, die wohl erst ein erwachsener Leser erkennen und würdigen kann. Die vielen gesellschaftskritischen Verweise heben das Buch eindeutig aus der Masse der Kinderliteratur hervor. Ohne Probleme lässt es sich als fantastischer Roman lesen, doch erst die Interpretationen auf Gegenwartsbezüge machen es interessant. Die Gattungseinordnung sollte also niemanden davor abschrecken, den Roman zu lesen, denn „Der Goldene Kompass“ ist Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbuch in einem, mal düster und mal witzig, stets spannend und vor allem eines: originell.

Band 2: „Das Magische Messer“
Band 3: „Das Bernstein-Teleskop“

Taschenbuch: 416 Seiten
Auflage: 1. Oktober 2007
www.heyne.de
www.philip-pullman.com
www.goldencompassmovie.com