Satterthwait, Walter – Miss Lizzie

Boston, 1921: Die dreizehnjährige Amanda bekommt für den Sommer eine neue Nachbarin. Die alte Miss Lizzie, eine ruhige Dame Anfang sechzig, zieht ins Haus nebenan. Jeder in der Stadt weiß, dass Lizzie Borden vor über dreißig Jahren beschuldigt wurde, ihre Eltern mit einem Beil ermorden zu haben. Lizzie wurde vom Gericht freigesprochen, doch die Täterfrage nie geklärt, sodass der Fall zu einem der berühmtesten Fälle der Kriminalgeschichte wurde.

Obwohl Amanda die Geschichte kennt, schließt sie mit Miss Lizzie Freundschaft. Die intelligente, freundliche Dame bringt ihr Kartentricks bei und die zwei verleben in aller Heimlichkeit fröhliche Nachmittagsstunden. Eines Tages jedoch erfährt Amandas zänkische Stiefmutter davon und es kommt zu einem heftigen Streit, in dem sie gegenüber Amandas älterem Bruder William handgreiflich wird. Kurz darauf findet Amanda im Haus die Leiche ihrer Stiefmutter vor – zerstückelt mit einem Beil.

Für die meisten Einwohner und auch für die Polizei ist Miss Lizzie die Hauptverdächtige. Aber auch William ist verdächtig, denn seit diese, Tag ist er verschwunden. Amandas Vater hat ebenfalls etwas zu verbergen. Kurzerhand engagiert Miss Lizzie den cleveren Anwalt Darryl Slocum und einen Privatdetektiv, die die Wahrheit herausfinden sollen. Und auch Miss Lizzie hilft tatkräftig mit …

„Lizzie Borden mit dem Beile …“ beginnt ein alter Kindervers, in dem Lizbeth A. Borden unsterblich gemacht wurde. Historische Figuren in Romane einzubauen, besitzt immer einen Reiz, bei einer geheimnisumwitterten Persönlichkeit wie Lizzie Borden ist dieser allerdings noch einmal erhöht.

|Lizzie Borden als Romanfigur|

Auch wenn der Fall Borden bereits über hundert Jahre zurückliegt, hat er im Gedächtnis der Menschen nichts von seiner makaberen Faszination verloren. Bis heute ist nicht geklärt, ob Lizzie Borden tatsächlich ihren strengen Vater und ihre Stiefmutter ermordete oder nicht. Immer noch werden Bücher über das Verbrechen verfasst und alte Ermittlungen untersucht. Motiv und Möglichkeit waren vorhanden, scheinbar war es nur das zarte Äußere der jüngferlichen Sonntagsschullehrerin, das die Geschworenen davon abhielt, ihr einen solch brutalen Mord zuzutrauen. Trotz des Freispruchs galt Lizzie Borden zeitlebens und auch heute noch bei der Bevölkerung weitgehend als schuldig, allerdings tauchen auch immer wieder kritische und begründete Gegenstimmen auf. Ein Mysterium wie die Jack-the-Ripper-Morde, das hier in geradezu genialer Weise in einen vergnüglichen Krimi eingebaut wurde.

|Gelungene Charaktere|

Miss Lizzie wird als alte, leicht untersetzte Dame mit weißem Haarknoten und stets in Trauerkleidung dargestellt. Eine sanfte Person mit Sinn für leisen Humor, eine gewiefte Kartenspielerin, mutig und charismatisch und für die dreizehnjährige Amanda Burton die beste Freundin, die sie sich in jenem Sommer wünschen kann.

Amanda, die Ich-Erzählerin, berichtet viele Jahre später von dieser Zeit und dem schlimmsten Tages ihres Lebens. Abgesehen von dem Verbrechen ist sie ein ganz normaler, entzückender Backfisch: ein linkisches Ding, das sich ganz verrucht fühlt, wenn es eine Tasse Kaffee bestellt, den älteren Bruder verehrt, bei Komplimenten errötet und bei sexuellen Anspielungen zwar die Anstößigkeit erahnt, aber nicht wirklich versteht. Bei alldem ist Amanda ungemein sympathisch, zumal sie trotz gewisser Zweifel zu ihrer neuen Freundin hält und Miss Lizzie sogar gegen ihren einstigen Schwarm verteidigt, als der über die angebliche Mörderin lästert.

Sehr gelungene Charaktere sind außerdem der flotte, stets gelassen und gut gelaunte Anwalt Darryl Slocum, in den sich die verschämte Amanda sofort verliebt, und der raubeinige, aber gutherzige Privatschnüffler Harry Boyle. Auf der Gegnerseite steht vor allem Polizeichef Da Silva, der einst im Borden-Fall ermittelte und Miss Lizzie nie verziehen hat, dass sie trotz seiner Untersuchungsergebnisse nicht verurteilt wurde.

|Humor, Spannung und ein Hauch von Ernst|

Die teilweise sehr schrulligen Charaktere, der amüsante Blickwinkel des naiven jungen Mädchens samt der entsprechenden Kommentare und die Spießigkeit des Amerikas der Zwanziger verleihen dem Roman beinahe durchgehend einen humorvollen Unterton. Dabei vergisst man aber nie, dass es sich auch um einen Krimi handelt, der in doppelter Hinsicht Spannung verspricht. Es gilt nicht nur, den Mörder von Audrey Burton zu finden, sondern genau wie Amanda ist auch der Leser neugierig darauf, ob sich Licht ins Dunkel bringen lässt bezüglich der Frage nach dem Borden-Fall. Hat Lizzie damals oder hat sie nicht und ist sie vielleicht sogar in diese neue Sache verwickelt …? Mit blutigen Beschreibungen wird zudem nicht gespart und die Gefahr weiterer Morde schwebt als Bedrohung im Raum.

Auch ein paar ruhige, melancholische Momente fließen ein, die durch den Gegensatz zum ansonsten heiteren Ton umso stärker nachwirken. Nicht zuletzt ist es auch ein Werk über das Erwachsenwerden, über das Ende der unbeschwerten Kindheit und über familieninterne Schwierigkeiten. Trotz all der Ironie und der humorvollen Dialoge findet auch eine dichte Atmosphäre Einlass, die den Zauber eines heißen Sommers voller Verwirrungen, Verlockungen und Veränderungen wiedergibt.

|Kaum Schwächen|

Von einer wirklichen Schwäche kann man in diesem hervorragenden Roman nicht reden. Dennoch erfüllt das Finale, so dramatisch es auch gestaltet ist, nicht alle Erwartungen. Hier wird ein bisschen konstruiert, um die Spannung auf die Spitze zu treiben und offenbar einen möglichst eindrucksvollen Höhepunkt zu erzielen. Das Verhalten der Polizei ist in Hinblick auf das Ende ebenfalls nicht gerade glaubwürdig. Eher scheint es, als habe man hier den Schluss mit Rücksichtnahme auf den Nachfolgeband konzipiert, der bei einer realistischeren Darstellung so nicht möglich gewesen wäre.

_Als Fazit_ bleibt ein sehr humorvoller Kriminalroman um die berühmte Lizzie Borden, die sich hier im gesetzten Alter als Hobby-Detektivin betätigt, und ein sympathisches Mädchen als ironische Ich-Erzählerin. Originelle Grundidee, spannend aufbereitet, mit minimalen Mängeln.

_Der Autor_ Walter Satterthwait wurde 1946 in Philadelphia geboren und bereiste im Lauf der Jahre alle möglichen Länder. Die meiste Zeit über lebt und schreibt er in Santa Fe (New Mexico). Er schreibt vorwiegend Kriminalromane, die in den zwanziger Jahren spielen. Weitere Werke sind u. a.: „Miss Lizzie kehrt zurück“, [„Eskapaden“, 1843 „Oscar Wilde im Wilden Westen“ und „Wand aus Glas“.

http://www.dtv.de

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