Boyd, William – Ruhelos

William Boyd wird vielfach als einer der überragenden Erzähler der europäischen Gegenwartsliteratur betrachtet. Seine Werke wurden mehrfach prämiert, so auch sein aktuelles Werk „Ruhelos“. „Ruhelos“ steht in der Tradition des Spionageromans, geht aber dabei auch ganz klar über die Grenzen des Genres hinaus.

Die Handlung spielt sich auf zwei zeitversetzten Ebenen ab. Ausgangspunkt ist Oxford im Jahr 1976. Im Sommer dieses Jahres erfährt Ruth Gilmartin Details aus dem Leben ihrer Mutter Sally, die alles auf den Kopf stellen. Sally Gilmartin heißt in Wirklichkeit Eva Delektorskaja, ist eine russische Emigrantin und wurde 1939 von Lucas Romer für den britischen Geheimdienst angeworben. Eva soll die Arbeit fortführen, die ihr von den Nazis ermordeter Bruder Kolja angefangen hat.

Eva willigt ein, wird unter Lucas‘ Anleitung zu einer hochkarätigen Spionin ausgebildet und arbeitet fortan für die British Security Coordination. Ziel dieser kleinen Geheimdiensteinheit ist es, durch geschickte Nachrichtenmanipulation den Weg für den Kriegseintritt der Amerikaner zu ebnen. Eva macht ihre Sache gut und arbeitet stets zur vollen Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten, bis es bei einem Einsatz in New Mexico zu einem heiklen Zwischenfall kommt, der für Evas gesamtes weiteres Leben von Bedeutung ist …

Im Jahr 1976 fühlt Eva sich immer noch von den damaligen Ereignissen verfolgt und vertraut sich ihrer Tochter Ruth an, die daraufhin eigene Recherchen beginnt. Ehe Ruth sich versieht, steckt sie auch schon selbst mitten in der Geschichte drin und wird vom Sog der Ereignisse mitgerissen …

William Boyd greift in seinem Roman einen Aspekt der britischen Geheimdienstgeschichte auf, der in der Öffentlichkeit eher wenig bekannt ist: die Geschichte der British Security Coordination. Diese Einheit operierte von New York aus und versuchte dort direkten Einfluss auf die Medien zu nehmen. Man manipulierte die Nachrichten so, dass der in Europa tobende Krieg den Amerikanern als größere Bedrohung der eigenen Sicherheit erscheinen musste, als er es bis zum Angriff auf Pearl Harbour wirklich war. Die Briten wussten, dass die Amerikaner wohl nur dann in das Kriegsgeschehen eingreifen würden, wenn auch Amerika einer unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt war, und genau diesen Eindruck versuchte die British Security Coordination mit ihrer Arbeit zu erwecken.

Auch Eva Delektorskaja arbeitet in „Ruhelos“ für diese Einheit, und ihre Geschichte sorgt für einige Spannung. Es ist eine typische Agentengeschichte, die stets dem Leitsatz „Traue niemandem“ folgt. Trauen und Misstrauen spielen eine zentrale Rolle. Eva vertraut wirklich niemandem, denn auch unter den Kollegen durchwühlt man sich gerne mal gegenseitig die Manteltaschen, während der andere gerade auf dem Klo sitzt. Und dennoch ist es gerade das Vertrauen, das Eva am Ende in Gefahr bringt. So gesehen ist der Handlungsverlauf zwar nicht wirklich überraschend, aber dennoch ist es aufregend zu beobachten wie die Agentin Eva mit der Situation umgeht.

Ein wenig erinnert „Ruhelos“ an die Romane, die Ken Follett rund um das Thema zweiter Weltkrieg und Spionage geschrieben hat. Die Spannung ist eine ganz ähnliche, wenngleich sie bei Follett noch wesentlich greifbarer ist. Auch Follett rückt die Protagonisten in den Mittelpunkt der Betrachtung und inszeniert ein spannendes Geflecht aus Spionagethriller und Liebesgeschichte. Boyd arrangiert seine Geschichte in einem ganz ähnlichen Spannungsfeld.

So gesehen ist das, was er mit „Ruhelos“ abliefert, nicht unbedingt neu, aber Boyd geht das Ganze mit einer sehr dichten Erzählweise und einer hohen Intensität an, und das macht dann eben doch den Reiz der Geschichte aus. Die zeitversetzte Erzählweise baut eine gewisse Spannung auf. Der Leser ist gespannt zu erfahren, wie Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft sind, welche Auswirkungen die eine Erzählebene auf die andere hat.

In der Gegenwart ist es vor allem das Leben von Ruth, das im Mittelpunkt steht. Boyd erzählt von Ruths Erlebnissen als Englischlehrerin, die Sprachunterricht für ausländische Berufstätige anbietet. Er erzählt von ihrem Privatleben, ihrem Sohn, der aus einem kurzen Verhältnis zu einem deutschen Professor hervorgegangen ist, von Ludger, dessen Bruder, der mit der RAF in Verbindung steht und sich bei Ruth eingenistet hat. Boyd baut einige Nebenstränge auf, die aber allesamt von eher marginaler Bedeutung für die eigentliche Handlung sind.

Teilweise kann man sicherlich den Kritikpunkt äußern, dass die Nebenhandlungen eher wie schmückendes Beiwerk erscheinen. Sie mögen zwar von Bedeutung für Ruth sein, aber für die Handlung spielen sie im Grunde eine so untergeordnete Rolle, dass man auf sie auch hätte verzichten können, zugunsten eines etwas gradlinigeren Plots – zumal sie tendenziell dann auch im Nichts verschwinden.

Dennoch stören diese Randerscheinungen der Handlung zumindest im Hörbuch nicht wesentlich. Martina Gedeck liest die Geschichte so gekonnt, dass die Handlung mit der Zeit zu einem faszinierenden Sog wird. Man verliert sich in der Geschichte, vergisst dabei die Zeit und stört sich daher auch kaum an Teilen der Handlung, die im Grunde keine Bedeutung haben. Ich könnte mir gut vorstellen, dass mich diese Dinge mehr gestört hätten, wenn ich den Roman selbst gelesen hätte und das reicht in meinen Augen auch schon aus, um leise Zweifel daran zu hegen, ob „Ruhelos“ wirklich das große literarische Meisterwerk ist, als das der Verlag es anpreist.

Doch das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Ruhelos“ eine sehr intensive und atmosphärisch dichte Geschichte erzählt, die den Leser in seinen Bann schlägt. Die Figur der Eva Delektorskaja ist faszinierend und ein spannendes Objekt der Beobachtung, ihre Geschichte eine wirklich fesselnde. Auch die Art und Weise, wie ihre Erlebnisse sich in die Gegenwart fortsetzen, ist absolut interessant.

So bleibt unterm Strich trotz kleinerer Schönheitsfehler ein positiver Eindruck zurück, der sicherlich gerade auch in der absolut gelungenen Hörbuchproduktion und der tollen Vortragsweise von Martina Gedeck begründet liegt. „Ruhelos“ ist spannend und dicht erzählt, eine intensive Geschichte, welche die Bandbreite der menschlichen Gefühle auslotet und sehr schön mit den Begriffen Vertrauen und Misstrauen umgeht. Und so ist „Ruhelos“ dann auch mehr als einfach nur ein Spionagethriller. Obendrein beleuchtet Boyd mit der Medienmanipulation der British Security Coordination ein interessantes und wenig bekanntes Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Alles in allem also durchaus empfehlenswerte Kost, die gerade auch als Hörbuch für ein paar kurzweilige Stunden sorgt.

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