Rachel Joyce – Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte

Die Handlung:

Großbritannien im Jahr 1972: Die Geschichte des elfjährigen Jungen Byron Hemmings, der mit seiner Mutter Diana und seiner jüngeren Schwester Lucy in Cranham House lebt, einem alten freistehenden Haus, welches von Hügelketten umgeben ist. Der Vater Seymour, der unter der Woche in London arbeitet, kommt nur an den Wochenenden zu seiner Familie. Es fällt auf, dass er besonders zu seinen Kindern ein von Distanz und Strenge geprägtes Verhältnis hat. Seine Frau, die sich und den Haushalt anlässlich seiner Besuche bestens zu präsentieren versucht, wird von ihm mit täglichen Anrufen kontrolliert. Ist er auf der einen Seite sehr großzügig und kauft ihr einen Jaguar für die Fahrten zur Schule und zum Einkaufen, so ist er auf der anderen Seite auch misstrauisch und überprüft regelmäßig die Ausgaben im Scheckheft. Das Wirken seiner Familie auf Andere ist ihm insgesamt jedoch wichtiger als ein Beisammensein mit seiner Familie. Die Kinder aber führen ein umsorgtes Leben, in dem ihre liebevolle Mutter die Hauptrolle spielt. Byron besucht eine renommierte Privatschule und sieht dort täglich seinen Freund James Lowe. Er ist ein intelligenter Junge, der sich für Vieles interessiert und aufmerksam durchs Leben geht. Im Grunde ein typisches Upper-Class-Leben, dass ewig so hätte dahinplätschern können. An einem Morgen auf dem Weg zur Schule passiert jedoch etwas Unvorhergesehenes: vom gewohnten Weg abweichend, hat Diana mit ihren Kindern einen Unfall mit dem Jaguar. Byron, der auf dem Beifahrersitz neben seiner Mutter sitzt, macht dabei eine Entdeckung, die sein oder sogar ihr aller Leben verändern soll!

Tief verunsichert von einer Geschichte, die ihm sein Freund James zuvor erzählt hat, glaubt er, dass in eben diesem Moment der Zeit zwei fehlende Sekunden hinzugefügt wurden und er versucht zunächst, das Gesehene für sich zu verarbeiten. Schließlich kehrt er gemeinsam mit Diana, die von ihm immer wieder damit konfrontiert wurde, an den Ort des Unfalls zurück. Es beginnt – nunmehr vier Wochen nach dem so einschneidenden Erlebnis – eine wahre Kette an Reaktionen. Menschen, denen sie bis dahin nie begegnet sind, treten in Erscheinung und nehmen plötzlich einen Platz in ihrem Leben ein. Während dem Vater bei seinen Wochenendbesuchen weiterhin glaubhaft vermittelt wird, es gehe alles im gewohnten Gang, verändert sich bei Diana und ihren Kindern Einiges. Byron und Lucy lernen ihre Mutter von einer anderen Seite kennen und erfahren nicht zuletzt bis dahin ungeahnte Details aus ihrer Vergangenheit. Dass sich alles in Richtung einer Tragödie zu entwickeln vermag, begreift Byron nur langsam. Immer öfter übernimmt er auch Aufgaben seiner Mutter und kümmert sich um seine Schwester. Eine Stütze ist ihm dabei aber sein Freund James, dem er sich anvertraut und mit dessen Hilfe er Pläne entwickelt, um die Situation aufzufangen.

Die Autorin wählt eine interessante Möglichkeit, um zwei Geschichten in diesem Roman zu erzählen: so gibt es in abwechselnden Kapiteln nebenbei noch die in der Gegenwart erzählte Geschichte des merkwürdigen Außenseiters Jim, der nach jahrelangen und wiederkehrenden Aufenthalten in einer Nervenheilanstalt nun einigermaßen Fuß gefasst hat und versucht, sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken und dort zu halten. Dem Leser erschließt sich dabei nicht auf Anhieb den Zusammenhang beider Erzählungen. Eher hat man eine diffuse Ahnung, was bzw. wer dahinter steckt, bis die erschütternden Wahrheiten schlussendlich klar werden.

Mein Einruck:

„Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte“ ist sicher kein Roman, der mit Irgendetwas ganz Neuem oder gar Spektakulärem aufwarten kann. Die Geschichte einer Familie, der Umgang mit Erlebtem bzw. das Verarbeiten von selbigem, interessante Facetten menschlichen Miteinanders, von Gutgläubigkeit bis hin zu tiefer Freundschaft, Verzweiflung, Vergessen, Liebe – allesamt Themen, die in der Literatur bereits behandelt wurden und noch vielfach werden. Dennoch ist dieses Werk auf sensible Weise auch zutiefst berührend, vielleicht gerade weil es mithilfe glasklarer Sprache direkt im Herzen des Lesers ankommt und dort etwas bewegt. Die Sprache wird auffallend blumig, wenn es um Selbige geht – übrigens ein Detail, das schon im vorherigen Werk der Autorin ins Auge fiel. Während der Leser die von der Autorin geschaffenen Protagonisten begleitet, entsteht doch ein ums andere Mal der Wunsch, in die Handlung eingreifen zu können. Was doch nahe legt, wie sehr hier ein Nerv getroffen wird und selbst Erfahrenes und Erlebtes hervorbringt und entsprechende Gefühle beim Leser auf den Plan bringt. Während hier Vergangenes erzählt wird, lässt Joyce die Gegenwart in Form einer entsprechenden Erzählung mit einfließen und beim Leser schlussendlich die Verbindung entstehen. Dadurch regt sie wiederum zum Nachdenken an und löst mit dieser Variante, die in einem kleinen Finale gipfelt, gleichzeitig die Frage nach dem „Was-wurde-aus…?“, ohne dem Roman unnötige Längen zu geben.

Mein Fazit:

Die Autorin hat nach „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Frey“ erneut einen bemerkenswerten Roman geschaffen, der es schafft, den Leser ein Stück mitzunehmen, nicht ohne ihn auf eine grandiose Weise zutiefst zu berühren. Themen wie Wahrheit, Freundschaft, Liebe und Zerbrechlichkeit sollten dabei genug Gedankenstoff mit einher bringen, dennoch finde ich es ungeheuer schwierig, den Leser tatsächlich auch dort „abzuholen“. Rachel Joyce aber ist dieses Phänomen wirklich gut gelungen und der klare Sprachstil macht es dazu noch leicht, Seite um Seite förmlich zu verschlingen.
Ein Buch, welches man gefühlt viel zu schnell fertig gelesen aus der Hand legt. Ein Buch, welches einen noch eine ganze Weile gedanklich beschäftigt.

Also ein Buch, das man auch gerne weiterempfehlen möchte!

Gebundene Ausgabe: 429 Seiten
ISBN-13: 978-38105-1081-5

www.fischerverlage,de

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