Alastair Reynolds – Unendlichkeit (Revelation Space 01)

Endlose Enthüllungen

Vor Millionen von Jahren ereignete sich in den Tiefen des Alls eine Katastrophe, die das Volk der Amarantin auslöschte, kurz bevor es die Fähigkeit zur Raumfahrt entwickelte. War es ein kosmischer Zufall? Oder sollten die Amarantin daran gehindert werden, zu den Sternen aufzubrechen? Bei Ausgrabungen stoßen Wissenschaftler auf die uralten Artefakte dieses außerirdischen Volkes. Nun wollen sie die Wahrheit über den Untergang der Amarantin erfahren – doch sie ahnen nicht, welch übermächtigem Gegner sie sich in den Weg stellen. (Verlagsinfo)

„Unendlichkeit“ – Space-Opera vom Feinsten, dachte ich gleich. Und es geht auch richtig gut und flott los: auf fremden Welten, mit Alien-Artefakten. Aber dann wurde die Welt, in der Handlung spielt, immer komplexer, je mehr Personal hinzukam und je mehr Details ich mir merken musste. Ich dachte, das könne nur besser werden. Aber als schließlich alle Hauptpersonen aufeinander trafen, wurde es richtig schwierig …

Drei Handlungsstränge führen aufeinander zu und bilden einen Knoten. Diese Stränge liegen zunächst jeweils mehrere Jahre auseinander, denn interstellare Reisen erfordern eine Menge Zeit. Bei der Inbezugsetzung der Stränge ist mithin Zeit ein wichtiger Faktor. Glücklicherweise sind alle Kapitel mit Jahreszahlen versehen: Wir schreiben die Mitte des 26. Jahrhunderts.

Handlung

Der Archäologe

Dan Sylveste ist ein besessener Archäologe und stößt auf dem kolonisierten Planeten Resurgam (lateinisch für „ich werde wieder auferstehen“) im System Delta Pavonis auf die Hinterlassenschaft einer außerirdischen Zivilisation: zunächst auf einen beschrifteten Obelisken, Jahre später dann auf eine verschüttete Stadt und die Statue eines geflügelten Amarantin. Das ist insofern ungewöhnlich, da die Überreste der Amarantin allesamt flügellos waren.

Sylveste will die Wahrheit über das Schicksal der Amarantin herausfinden und koste es sein Leben oder das anderer. Mit einer Gruppe Kyborgs und leistungsfähigen Waffen macht er sich an die Arbeit, wird allerdings bald von einem politischen Umschwung auf Resurgam gestoppt. Er verbringt rund zehn Jahre im Gefängnis, als eine Art Internierter.

Auch sein Vater Calvin, der ein Dasein als Software und Holoprojektion fristet, kann ihm ein paar Hinweise geben, wer Dan am Weitermachen hindert: entweder eine alte menschliche Intelligenz oder eine außerirdische Macht. Hat diese verborgene Macht die blühende Astronomen-Kultur der Amarantin vor einer Million Jahren vernichtet? Gibt es vielleicht doch noch Amarantin?

Die Assassine

Ana Khouri ist eine Auftragskillerin in Chasm City im System Epsilon Eridani (Planet: Yellowstone). Ihr Agent K. C. Ng verschafft ihr Aufträge, um reiche Bürger aus dieser Stadt am Abgrund zu töten. Die Opfer haben die Morde selbst in Auftrag gegeben; danach werden sie wiederbelebt – es ist eben ein besonderer Kick, ermordet zu werden.

Doch bei ihrem neuesten Auftrag gerät Ana in eine Art Hinterhalt: Eine hochgestellte Persönlichkeit namens ‚Mademoiselle‘ eröffnet Ana, dass sie hierhergelotst worden war, um in Mademoiselles Dienste zu treten. Aber warum sollte Ana das tun? Weil sonst Anas Mann, der sich in Mademoiselles Obhut im Kälteschlaf befindet, ein abruptes Ende fände – sehr überzeugend. Anas nächstes Opfer befindet sich im System Episilon Eridani und weiß nichts von ihrem Auftrag: ein Mann namens Dan Sylveste. Mademoiselle wird als Implantat in Anas Gehirn mitreisen.

Die Ultra-Händlerin

Ilia Volyova ist Mitglied eines Triumvirats von interstellaren Händlern, „Ultras“, die das gigantische Lichtschiff „Sehnsucht nach Unendlichkeit“ kommandieren. Die „Sehnsucht“, die beinahe Lichtgeschwindigkeit erreichen kann, befindet sich auf dem Flug zum Planeten Yellowstone. Kapitän Brannigan liegt als Opfer einer bioelektronischen Seuche im Tiefkühlschlaf und kann Volyova leider nur wenig Auskunft darüber geben, was an Bord schief läuft. Doch der Name „Sylveste“ fällt.

Ilias Problem: Soeben musste sie ihren Waffenoffizier Boris Nagorny in eine lebensgefährliche Lage bringen, in der er auch prompt umkam. Er war durchgedreht, denn er sah sich von einem kybernetischen Virus namens „Sonnendieb“ verfolgt, der Nagornys Implantate infiziert hatte.

Kann Sylveste ihr verraten, was |Sonnendieb| wirklich ist? Nun braucht Volyova einen neuen Waffenoffizier und der ist, wie sich zeigt, Ana Khouri. Die Frage ist: In wessen Auftrag fliegt das offenbar schwer bewaffnete Lichtschiff nach Resurgam? Und was ist der wirkliche Zweck des Flugs?

Querverbindungen

Aus drei Strängen werden schnell zwei (Khouri + Ultras), und sobald die Ultras Dan Sylveste auf Resurgam geschnappt haben, wird daraus einer.

Um das sich nun daraus entfaltende Drama ein wenig zu verstehen, muss man noch ein paar ‚Querverbindungen‘ beachten. Keine Angst: Ich werde keine genauen Details verraten, wie es weitergeht. Der Autor lässt auf seine kunstvolle Art nur so viele Informationen heraus, dass die Spannung bis zur letzten Seite erhalten bleibt. Doch in der Personalliste zu Beginn des Buchs macht er paar wichtige Andeutungen.

Hinter ‚Mademoiselle‘ verbirgt sich die Astronautin Carine Lefevre. Sie ist eine alte Bekannte Dan Sylvestes: Zusammen erkundeten die beiden 200 Jahre zuvor den lebensgefährlichen Lascaille-Schleier, in dem sich eine Alien-Intelligenz (Amarantin, Sonnendieb – wer weiß?) verbirgt, die allgemein als „die Schleierweber“ bekannt ist. Doch Carine kam in den Schleiern um, jedenfalls nach Angaben des von Ultras geretteten Dan.

Mit Hilfe von Ana Khouri versucht ‚Mademoiselle‘ Carine, Dan am Betreten des Hades-Systems im Jahr 2566 zu hindern. Hades, ein dunkler Neutronenstern, ist die erloschene Nachbarsonne von Resurgams Sonne Delta Pavonis. Hades wird umkreist von einem Planeten namens Cerberus, der sich jedoch als hohle Welt mit Eigenschaften einer gigantischen Maschine herausstellt. (Zerberus war der Sage nach der dreiköpfige Hund, der das Tor zum Hades, der Unterwelt, bewachte.) Doch der Computervirus |Sonnendieb|, von den Amarantin-Schleierwebern geschickt, lockt Dan genau dorthin.

Hades und Cerberus sind Orte, die auf dem Obelisken der Amarantin eine besondere Bedeutung haben. In welchem Zusammenhang steht Cerberus mit dem Ereignis, das die Amarantin vor rund einer Million Jahren auslöschte?

Mein Eindruck

Der Originaltitel des Buches lautet „Revelation Space“. Das All ist der Schauplatz, und die „revelation“, die Offenbarung, ist das, was die Handlung vorantreibt – und was das Interesse des Lesers wachhält. Der Autor erzählt seine Geschichte beeindruckend geschickt. In praktisch jedem Abschnitt, in jeder Szene gibt er uns eine weitere Information, die uns die Vergangenheit enthüllt und die Motivationen der einzelnen Handelnden. Aber nie so viel, dass wir uns den Rest zusammenreimen könnten. Diese Offenbarung ist unendlich – das rechtfertigt auch den deutschen Titel.

Abgesehen von der Schwierigkeit, den Überblick über das vielfältige Personal zu behalten, so hat mich doch das Verhalten der Menschen und der Aliens fasziniert. Die meisten Leute verhalten sich recht nachvollziehbar, was ihre Motive und Reaktionen anbelangt. Allerdings werden ständig neue Lügen aufgedeckt, so dass man mit neuen Überraschungen zu rechnen hat.

Doch es gibt auch Zwitterwesen aus Mensch und Maschine, Kyborgs, zu denen vor allem die Ultras an Bord der „Sehnsucht“ zählen. Ob nun diese Kyborgs schneller reagieren oder bessere Entscheidungen treffen, ist gleichgültig, denn offensichtlich mangelt es ihnen an moralischen Grundsätzen: Sie folgen nur ihren wirtschaftlichen Interessen. Beruhigend zu wissen, dass auch diese Über-Menschen nicht allwissend sein können.

Und Maschinen, wie etwa die Raumanzüge, können durchaus menschliche Züge aufweisen; das gibt Anlass zu ironischen Aspekten. (Es fehlen nur noch philosophische Bomben, wie sie John Carpenter in „Dark Star“ zeigte.) Und dann gibt’s natürlich noch Aliens, aber leider bleiben sie die meisten Zeit obskur im Hintergrund, bis dann |Sonnendieb| auftritt. So bleibt bis zum überraschenden Schluss stets ein gewisses Geheimnis, das es zu lüften gilt.

Der Autor & sein Werk

Alastair Reynolds wird bereits mit Peter F. Hamilton und Stephen Baxter, Briten allesamt, in eine Reihe gestellt.

Zusammenhängende Romane des Revelation-Space-Zyklus:

Unendlichkeit, 2001, ISBN 3-453-18787-3, Revelation Space. 2000
Chasm City, 2003, ISBN 3-453-52221-4, Chasm City. 2001
Die Arche, 2004, ISBN 3-453-52288-5, Redemption Ark. 2002.
Offenbarung, 2004, ISBN 3-453-52362-8, Absolution Gap. 2003.
Aurora, 2008, ISBN 978-3-453-52502-3, The Prefect. 2007.
Elysium Fire, 2018, ISBN 978-0-316-55567-8 (keine deutsche Übersetzung).

Im Revelation-Space-Zyklus angesiedelte Kurzgeschichten

Träume von Unendlichkeit, 2005, ISBN 3-453-52021-1, Diamond Dogs, Turquoise Days. 2003.
Galactic North, 2006, ISBN 978-0-575-07910-6.

Die Handlung umspannt Jahrhunderte und Lichtjahre, so weit, so gut. Auch die Technik ist so weit fortgeschritten, dass ein gewisser „sense of wonder“ aufkommt. Und manchmal entsteht der Verdacht, dass einiges davon lediglich Gimmicks sind.

Doch leider kann Reynolds ebenso verwirrend wie Baxter in dessen „Manifold“-Romanen sein. Die letzten 250 Seiten von „Unendlichkeit“ spielen ja nur noch auf der „Sehnsucht“ und auf Cerberus. Da sollte man meinen, es wäre einfach, der Handlung zu folgen. Leider haben sich die Akteure schon wieder in drei Parteien aufgespalten – es bleibt also spannend, denn die Frauen – also Volyova, Khouri und Sylvestes Frau Pascale – wollen verhindern, dass Sylveste, sein Vater-Hologramm Calvin und Volyovas Ex-Kollege Sajaki in den Planeten eindringen.

Je fremdartiger die Innenwelt von Cerberus wurde, desto anstrengender wurde das Lesen. Es kann also nicht so sehr an Reynolds Darstellung gelegen haben, sondern wohl eher an meiner mangelnden Vorstellungskraft. Ich musste mir jedenfalls öfters eine Pause gönnen. Mehr als 50 Seiten am Stück waren schon ziemlich heftig.

Vorstellungskraft alleine reicht nämlich für das Verständnis nicht aus. Reynolds ist ja Astrophysiker und setzt einiges an astronomischem und physikalischem Wissen voraus. Hinzu kommen aber auch noch Kenntnisse in Informatik und Biotechnik, die sich als nützlich erweisen, um die Kyborgwesen zu verstehen, seien sie nun mehr menschlich oder mehr maschinell.

Auch „Sonnendieb“ selbst ist ein fremdartiges Wesen, das sich aber mit Hilfe der Metapher des „Virus“ gut verstehen lässt. Dieses Virus greift allerdings über Gehirnimplantate auch das Bewusstsein des infizierten Menschen an. Das müssen unsere realen Computerviren erst noch zustande bekommen – oder lieber doch nicht.

Action

Action findet sich genug, um das Buch als Space-Opera zu qualifizieren. Nicht nur die Profi-Killerin Ana Khouri kann mit Ballermännern umgehen. Das Schiff der Ultras selbst ist bis zum Stehkragen mit Planetenzerstörern vollgestopft. Wenn sich so ein Teil dann unter „Sonnendiebs“ Einfluss selbständig macht, ist das zwar erst einmal witzig (siehe „Dark Star“), aber nicht ganz ungefährlich.

Der Humor ist von der trockenen britischen Art. Wer mit den entsprechenden Redewendungen vertraut ist, wird die Idee dahinter mühelos entdecken. besonders Vater und Sohn Sylveste kabbeln sich ständig miteinander, was beispielsweise ihren zweitausend Kilometer langen Abstieg ins Innere von Cerberus kurzweilig macht.

Spannung

Reynolds hat den Bogen in Sachen Dramaturgie raus: Tempo entsteht fast von selbst, sobald sich die Handlungsfäden verknüpfen und der Showdown nähert. Dabei verzichtet Reynolds meist auf überflüssigen Ballast an Astrophysik oder Historie. Zum Glück geht dies nicht auf Kosten der Charakterzeichnung – die Akteure stehen jederzeit im Mittelpunkt, anders als bei so manchem anderen Hardcore-Autor wie etwa Bear, Brin oder Benford (die so genannten „Killer-B’s“).

Iain Banks ist das Stichwort, um den Schotten Reynolds mit seinem Landsmann Banks zu vergleichen: Beide zeigen handelnde Wesen unterschiedlichster Couleur unter den Bedingungen künftiger Raumfahrt. Allerdings tauchen Regierungen kaum bei Reynolds auf, während bei Banks die „Kultur“ eine dominierende Rolle spielt. Aber beide Autoren verleihen ihren Raumschiffen wunderschöne Namen wie etwa „Abschiedsmelancholie“ oder „Sensucht nach Unendlichkeit“.

Unterm Strich

„Unendlichkeit“ ist ein Roman für eingefleischte Science-Fiction-Leser mit Interessen – und weitreichenden Kenntnissen – in Naturwissenschaften und Informatik. Die Story selbst ist ja bereits recht interessant; sie erinnert zunächst an Jack McDevitts Archäologenroman „Gottes Maschinen“. Doch schon bald zeigt sich, dass das Panorama wesentlich größer ist und zunehmend technischere Dimensionen annimmt.

Die Übersetzung…

…von Irene Holicki ist ausgezeichnet, wesentlich flüssiger zu lesen als etwa ihre Übertragung von Iain M. Banks Roman „Die Spur der toten Sonne“ („Excession“).

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 5,00 von 5)

Paperback & E-Book: 768 Seiten
Originaltitel: Revelation Space
Aus dem Englischen von Irene Holicki.
ISBN-13: 978-3453187870

www.heyne.de