Fred Saberhagen – Die Geständnisse des Grafen Dracula

Das geschieht:

Er lebt zwar nicht mehr, aber das ist für ihn kein Grund, sich mit übler Nachrede abzufinden: Graf Dracula, stolzer Kriegerfürst aus Transsylvanien und im 15. Jahrhundert zum Vampir mutiert, ärgert sich hoch im 20. Jahrhundert noch immer über ein altes Buch, das als Titel seinen Namen trägt und schildert, wie er im Jahre 1891 angeblich sein düsteres Schloss verließ, um England zu terrorisieren und dort unschuldigen Bürgern meist weiblichen Geschlechts das Blut auszusaugen.

Was ein gewisser Bram Stoker einst an Aussagen von Zeitzeugen wie Abraham Van Helsing, Jonathan Harker, Mina Murray, Lucy Westenra oder John Seward zusammentrug, ist nach Draculas Ansicht eine Sammlung schamloser Verdrehungen, Missverständnisse und Fehlinterpretationen. Eines Nachts im Jahre 1975 entführt er Arthur Harker, einen Nachfahren Jonathans, und seine Gattin: Endlich will Dracula die wahre Geschichte erzählen.

Wir lernen ein Wesen kennen, das seine Vergangenheit als grausamer Herrscher eines von Kriegen verheerten Landes hinter sich gelassen hat und friedlich auf seinem Schloss residiert. Ende des 19. Jahrhunderts wird Dracula sich der Veränderungen bewusst, die in Europa und den USA eine völlig neue, moderne Welt entstehen lässt. Neugierig geworden beschließt er sein langweilig gewordenes Exil zu verlassen und in London ein neues ‚Leben‘ zu beginnen. Er holt den Rechtsanwalt Jonathan Harker ins Schloss Dracula, wo er sich von seinem Gast in die Gepflogenheiten des Inselreiches einweisen lassen möchte.

Doch sobald Harker erscheint, läuft alles schrecklich schief. Dracula hat wenig Erfahrung im Umgang mit atmenden Menschen. Ihm unterlaufen Fehler, deren Korrektur die Folgen höchstens verschlimmern. Harker ist zudem ein tumber Tropf, der Draculas Andeutungen über seine außergewöhnliche Lebensart nicht begreift. Also nimmt der Graf die Sache selbst in die Hand – und verstrickt sich in einen Albtraum menschlicher Unzulänglichkeiten, vampirischen Pechs und tückischer Zufälle, die ihn ungewollt zurück in das Zentrum turbulenter Ereignisse zwingen …

Die wundersame Vampir-Vermehrung

„Dracula“, der Roman von 1897, brachte seinem Verfasser Bram Stoker (1847-1912) zu Lebzeiten nicht den ersehnten Erfolg. Der im Leben vom Pech ziemlich verfolgte Mann durfte nicht mehr erleben, wie der von ihm geschaffene Vampirgraf erst auf der Bühne und dann im Kino eine Kultfigur wurde. Der Roman erreicht Rekordauflagen, wurde in fast jede Sprache dieser Erde übersetzt und wird überall stets neu aufgelegt.

Dieser Erfolg inspirierte ein Heer mehr oder (meist) weniger begabter Autoren, sich des Dracula-Themas anzunehmen und neue Abenteuer um den zwar untoten aber höchst aktiven Blutsauger zu kreieren. „Dracula“ erfuhr im Laufe von mehr als 100 Jahren unzählige Fortsetzungen, die sich in der Regel vor allem durch ihre obskuren Handlungen und Figurenzeichnungen auszeichnen.

Nur selten gelang es, den Mythos aufzugreifen und zu bereichern. Fred Saberhagen gehört zu den Autoren, die dieses Kunststück meisterten. 1975 griff er die Dracula-Figur zum ersten Mal auf. Er näherte sich ihr nicht, indem er ihr neue Abenteuer auf den vielgestaltigen Leib schneiderte, sondern wählte einen schwierigen Weg: „Die Geständnisse des Grafen Dracula“ spielen quasi zwischen den Zeilen des Romans von 1897.

Roman im Roman

Eine kluge Idee, denn „Dracula“ ist kein typischer Roman, sondern ein Konglomerat aus (fiktiven) Tagebucheinträgen, Briefen, Buch- und Zeitungsartikeln sowie Tonbandberichten. Stoker, der bereits eine Reihe beachtlicher Kurzgeschichten verfasst hatte, als er sich an die Niederschrift seines Lebenswerkes machte, tat sich schwer mit der langen Form. „Dracula“ lässt sich durchaus als notdürftig geklitterter Roman bezeichnen.

Aus der Not wurde freilich ein Tugend: Das ‚unfertig‘ wirkende Konzept lässt „Dracula“ heute erstaunlich modern wirken. Die gewaltigen Lücken im Handlungsgerüst spornen den Leser an, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Stoker kann sich aus heutiger Sicht glücklich schätzen, nicht jedes Detail bedacht und beschrieben zu haben, zumal er dort, wo er es versuchte, keineswegs immer überzeugte.

In die genannten Lücken platziert nun Fred Saberhagen seine Version der Dracula-Sage. Er geht von der Existenz von Vampiren auf der Basis nüchterner biologischer Fakten aus. Dracula ist für ihn eine zwar ungewöhnliche Kreatur, die sich indes nicht annähernd so weit vom normalen Menschen entfernt hat wie Stoker es postulierte.

Untoter Anachronismus im Strom der Zeit

Die daraus resultierende Charakterisierung ist für die Handlung von entscheidender Bedeutung. Saberhagens Dracula ist ein uraltes, durch Erfahrung gereiftes Wesen, das nach einem Platz für sich in der Welt sucht – einer Welt, die sich Ende des 19. Jahrhunderts so verändert hat, dass selbst ein Vampir, dessen Existenz mehr als 400 Jahre währt, in Aufbruchsstimmung versetzt wird.

Dracula ist ein Überlebender, der die wilden Tage seiner lebendigen Vergangenheit als Fürst der Walachei hinter sich gelassen hat. Der Mensch Vlad Dracul war der Schrecken der ständig über die Grenze drängenden Türken, die er durch bizarre Gräueltaten zu terrorisieren suchte. Dracula, der Vampir, ist er zum friedfertigen Einzelgänger geworden, dem seine Blutmahlzeiten im Tausch gegen diverse Dienste von seinen Untertanen geliefert werden.

Der Vampir saugt Ferkel und anderes Viehzeug aus – ein erster Schlag gegen den Mythos, der ihn zu einer Geißel der Menschheit ernennt. Dracula benötigt kein Menschenblut. Die wenigen Male, die ihn angesichts hübscher Frauen schwach werden ließen, bereut er längst, denn seine ‚Opfer‘ sitzen ihn im Nacken und piesacken ihn als zänkische Vampir-Quälgeister, von denen er längst die Nase voll hat.

Generell leidet Dracula stark unter der Tücke des Objekts, was angesichts seiner überlangen Existenz kaum verwundert: „Shit happens“, und das Risiko steigt mit den Jahren. Der Graf ‚lebte‘ in seinem Heimatland auch als Untoter gut integriert. In der Fremde ist er allerdings ratlos. „Die Geständnisse …“ lesen sich anfänglich als Kette gut gemeinter doch drastisch gescheiterter Pläne eines Neuanfangs. Dracula hat genug von der Abgeschiedenheit, aber er unterschätzt, wie weit sich die Welt inzwischen tatsächlich gedreht hat.

Was daraus resultiert, liest sich überwiegend heiter. „Die Geständnisse …“ sind eher Horror-Parodie als Horror-Roman. Durch die erschöpfende Erläuterung genau jener Ereignisse, auf die Stoker kaum oder gar nicht einging, verliert Dracula seinen Nimbus als geheimnisvolle Verkörperung des Bösen. Bei Saberhagen ist er ein Zeitgenosse, der bei dem Versuch, sich zu verändern, von einer Katastrophe in die nächste gerät. Diesen Dracula fürchten oder bewundern wir nicht – wir bemitleiden ihn!

Dracula im Reich der Dummheit

Er ‚funktioniert‘ auch als verboten anziehender Liebhaber nur bedingt. Dracula liebt die Frauen, und er macht sie sich gewogen, indem er ignoriert, was ihnen im Falle Lucy Westenras und Mina Murrays vor allem zu schaffen macht: die bedrückende, männlich orientierte Gesellschaftsordnung einer Epoche, die der Frau eine rein passive Rolle aufzwang. Dracula kann Van Helsing und seine Mannen nicht nur deshalb düpieren, weil sie sich ausgesprochen dämlich als Vampirjäger anstellen.

Er nutzt auch die Schauklappen, die sich der Gentleman in Queen Victorias Ära selbst anlegt. Van Helsing & Co. sind außerstande, den Grafen zu fassen, weil sie sich ihn nur als Ausgeburt des Teufels vorstellen können, wie es ihnen die zeitgenössische Wissenschaft gebietet. Der Gedanken, dass Dracula real ist und mit beiden Beinen auf dem Boden der Naturgesetze existiert, übersteigt ihren engen Horizont.

Saberhagen hat sich ohnehin entschlossen, die menschlichen Hauptfiguren des „Dracula“-Romans von Stoker als törichte, geistig unreife, notorisch verständnislose und in ihrer Ignoranz gefährliche Tröpfe darzustellen. Vor allem Van Helsing kommt schlecht in seinem Bericht weg. Er wird zum eigentlichen Schurken der Handlung – ein intelligenter aber beschränkter, fanatischer Mann mit sadistischen Zügen, die er mehrfach auslebt. Dracula stellt sehr richtig die Frage, wie es mit der Psyche dieses Menschen bestellt sein muss, der ausgerechnet Arthur Holmwood dazu zwingt, seiner im Leben geliebten, nun zur Vampirin gewordenen Lucy einen Holzpfahl ins Herz zu treiben. Van Helsing hätte das selbst übernehmen können. Solche grausamen Spielchen treibt er gern – und Saberhagen stellt gleichzeitig Stokers Intentionen auf den Prüfstand, indem er zentrale Passagen aus dem „Dracula“-Opus wörtlich zitiert – sie gewinnen plötzlich eine ganz neue Bedeutung!

Dracula legt Zeugnis ab

Dracula steht über den Zeitläufen. In seiner mehr als 500 Jahre währenden Existenz hat er gelernt, die Dinge objektiv zu betrachten. „Die Geständnisse …“ wirken modern, weil er sie noch einmal Jahrzehnte nach den geschilderten Ereignissen macht. Er hat dazugelernt. Den lebenden Menschen gelang dies nicht: Als der Graf seine Geschichte erzählt hat, flüchten seine Zuhörer panisch (aber grundlos) hinaus in die eisige Nacht. (Nebenbei: Der deutsche Titel ist ausgesprochen irreführend; Dracula „gesteht“ nicht, er berichtet – was sollte er auch gestehen, da er sich keiner Verbrechen schuldig gemacht hat?)

Letztlich findet Dracula seinen Platz in der modernen Welt. Was er 1891 durchmachen musste, hat ihn soviel gelehrt, dass er 1975 erneut friedlich sein ‚Leben‘ führen kann. Wie es weiterging, möchte der Leser gern erfahren. Autor Saberhagen spann Draculas Abenteuer in neuen Romanen weiter. Bereits in die „Geständnisse“ webt er verschiedene Andeutungen ein, raunt von Sherlock Holmes als realer Person, gewinnt überraschende Erkenntnisse über die Jack-the-Ripper-Morde und trifft Sigmund Freud.

Hierzulande musste der Leser leider auf weitere Episoden verzichten. Unsterbliche Blutsauger bestreiten zwar langlaufende Romanserien, doch dies sind primär „Chic-Lit“-Vampire zu, die relativ blutleer vor allem pubertäre Mädchenfantasien befriedigen müssen. Ein profilstarker und witziger Dracula bleibt in diesem schwammigen Umfeld chancenlos.

Autor

Frederick Thomas Saberhagen (geb. 1930 in Chicago, Illinois) zählte mehr als vier Jahrzehnte zu den fleißigsten und beliebtesten Autoren primär kommerzieller Phantastik, wobei er die Genres Science Fiction, Fantasy und Horror gleichermaßen abdeckte. Schon während er als ziviler Elektrotechniker für die US Air Force arbeitete, schrieb und editierte Saberhagen Artikel über wissenschaftliche und technische Themen für die „Encyclopedia Britannica“. Bald versuchte er sich als Erzähler. 1961 erschien seine erste Story, 1964 mit „The Golden People“ das Romandebüt.

1967 gelang Saberhagen der Durchbruch mit einem Buch, das diverse Kurzgeschichten unter dem Titel „Berserker“ sammelte: Ein gewaltiges, schier unbesiegbares Roboterheer streift durch die Galaxis, tilgt alles Lebendige aus und muss abgewehrt werden. Das dauerte seine Zeit, nachdem sich „Berserker“ als überaus erfolgreiches und gut verkauftes Buch herausstellte, dem Saberhagen, der bald mehrere Serien mit immer neuen Folgen bediente, selbstverständlich diverse Fortsetzungen anhängte.

In der Fantasy gewann der Autor ein großes Publikum mit seinen „Swords“- bzw. „Lost Swords“-Zyklen. Als Horror-Autor fand Saberhagen einen neuen Ansatz für den alten „Dracula“-Mythos, der unter seiner Feder wesentlich umfangreicher wurde als Bram Stokers ursprünglicher Roman.

Am 29. Juni 2007 starb Fred Saberhagen im Alter von 77 Jahren. Seine letzten Jahre verlebte der Autor in Albuquerque im US Staat New Mexico. Er zeigte sich als cleverer Vermarkter seines Werkes, das er nicht nur immer wieder auflegen ließ, sondern für das er gleichzeitig – z. B. im Bereich des Hörbuchs oder des eBooks – neue Interessenten fand.

Paperback: 253 Seiten
Originaltitel: The Dracula Tape (New York : Ace Books 1975)
Übersetzung: Malte S. Sembten
http://www.festa-verlag.de

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