Stephen King/Stewart O‘Nan – Ein Gesicht in der Menge

Das geschieht:

Da er mit seiner Firma erfolgreich war, kann sich Dean Evers im Alter komfortabel im US-Sonnenstaat Florida einrichten. Den Ruhestand wollte er eigentlich gemeinsam mit Gattin Ellie verbringen, doch diese erlag überraschend einem Schlaganfall. Nun ist Evers allein und einsam. Der Sohn ist ihm entfremdet, die meisten Freunde sind tot. Deshalb trinkt Evers viel und schaut fern, wobei er gern die Spiele der hiesigen Baseball-Mannschaft „Devil Rays“ verfolgt.

Im Stadion ist nie besonders viel los, weshalb Evers eines Abends einen der Zuschauer erkennt, als die Kamera müßig ins Publikum schwenkt: Dr. Young war vor vielen Jahren sein Zahnarzt. Evers hatte ihn längst vergessen und eigentlich für tot gehalten. Auf seinen ehemaligen Geschäftspartner Leonard Wheeler trifft dies ganz sicher zu, denn Evers hat an der Beerdigung teilgenommen. Trotzdem sitzt auch Wheeler im Stadion.

So geht es in den nächsten Tagen weiter mit einer Galerie längst verstorbener Freunde und Bekannter. Sie alle eint, dass Evers sie zu Lebzeiten schlecht behandelt oder betrogen hat. Schließlich entdeckt er auch Ellie, die ihn sogar über das Handy anruft und ihm heftige Vorwürfe macht.

Evers tritt die Flucht nach vorn an. Als das nächste bekannte Gesicht in der Menge erscheint, macht er sich auf den Weg zum Stadion. Das Spiel läuft noch, als er dort mit dem festen Willen eintrifft, das Phantom persönlich dingfest zu machen …

Kassensturz der Seele

Wie man sich denken kann, ist dies keine gute Idee. Darum geht es ohnehin nicht, denn zu diesem Zeitpunkt hat Dean Evers unterbewusst längst erkannt sowie akzeptiert, dass er gerade dabei ist, die Zeche für ein Leben zu bezahlen, das er zum großen Teil auf Kosten anderer geführt hat.

Solche Geschichten von Erkenntnis und Reue zwischen Leben und Tod gibt es viele. Diese gehört zu den elegischen ihrer Art: Obwohl auch eine übel zugerichtete Wasserleiche Evers aus dem Fernseher zuwinkt, bleibt das Grauen außen vor. Falls der Story überhaupt ein echter Schrecken innewohnt, so liegt er in der Unausweichlichkeit einer Entwicklung, die der Leser früher erkennt als Pechvogel Evers. Das erstaunt, denn wer so ausgiebig US-fernsieht wie Titelfigur Evers, müsste eigentlich vertraut sein mit der Holzhammer-Moral, die hier durchexerziert wird. Den Nicht-Nordamerikaner schaudert es möglicherweise stärker ob eines Fegefeuers, das sich als ewiges Baseball-Spiel präsentiert: Kann eine Strafe schlimmer sein?

Da ist es hilfreich, dass einem dieser Dean Evers herzlich gleichgültig ist. Offenbar verdient er, was ihm geschieht. Begriffsstutzig ist er ebenfalls, denn gleich mehrfach müssen ihm Gesichter in der Menge erscheinen, bis er wenigstens zu ahnen beginnt, was gerade vorgeht. Solche Schicksale hat Autor King schon oft geschildert, und das außerdem besser. „Ein Gesicht in der Menge“ wird nicht in den Kanon seiner guten Geschichten eingehen. Herausreden könnte er sich höchstens mit dem Verweis auf den Mitverfasser: Hat Stewart O’Nan ausgeführt, was King als flüchtige Idee durch das Hirn schoss?

Das Papierbuch: ein Auslaufmodell?

Die Handlung ist simpel, und man fragt sich, wieso es zweier kapitaler Schriftsteller bedurfte, um sie zu Papier zu bringen. Die Antwort ist simpel: „Das Gesicht in der Menge“ war ursprünglich ein Gimmick, mit dessen Unterstützung der eBook-Markt gepusht werden sollte. Stephen King und Stewart O’Nan haben bekannte Namen, weshalb es doppelte Aufmerksamkeit erregt, wenn sie als Duo auftreten. In den USA dürfte zusätzlich hilfreich sein, dass beide bereits 2004 ein Sachbuch zum Thema Baseball („Faithful“) veröffentlicht haben.

„Das Gesicht …“ ist eine Kurzgeschichte, die als eBook veröffentlicht wurde. Dies konnte der Leser für eine recht bescheidene Summe erwerben – und mehr war die Story auch nicht wert. Der auf Papier beharrende Leser musste sich nicht grämen: Stephen King würde „Das Gesicht …“ garantiert in seine nächste Story-Kollektion aufnehmen.

Aber jetzt war ein Titel präsent und kursierte im kopfstark besiedelten Universum der King-Leserschaft. So etwas lässt findige Geschäftemacher niemals ruhen. In diesem Fall wurde einfach ein Buch zum Titel produziert. Die ‚Begründung‘ lautet selbstverständlich, dass auch der altmodisch mit Papier raschelnde Bücherfreund zeitnah zum eBook mit dem „neuen King“ versorgt werden soll.

Aus der Tube gedrückt

Das Ergebnis ist in der deutschen Übersetzung ein ‚Buch‘ mit 64 großzügig bedruckten Seiten, von denen trotzdem einige leer bleiben. 8 Euro sind für dieses kümmerliche Bändchen zu entrichten, das durch einen festen Pappeinband künstlich zum ‚richtigen‘ Buch aufgeblasen werden soll. Nicht der Preis allein ist der Auslöser, der des Lesers Blutdruck in die Höhe treibt: Die Herstellung eines Buches fordert für Papier, Einband, Satz und Druck seinen Preis. Für die genannte Summe bekommt man nichtsdestotrotz normalerweise Lesestoff, dessen Seitenzahl dreistellig ist.

Literatur sollte nicht nach Umfang oder Buchgewicht bewertet werden, mahnt der Kritiker. Dem ist auch in der Unterhaltungsliteratur zuzustimmen, wenn das Werk nur wenige Leser finden und deshalb in kleiner Auflagenzahl produziert wird: Es ist dann für eine kleine Schar von Interessenten immerhin greifbar. Auf „Das Gesicht …“ dürfte diese Begründung kaum zutreffen: Die Geschichte bietet Trivial-Unterhaltung, und die Auflage ist beträchtlich.

Einen ‚Sinn‘ erfüllt die deutsche Ausgabe höchstens als Verlegenheitsgeschenk, das man dem Arbeitskollegen – von dem man dunkel weiß, dass er gern liest – zwischen die Stängel des Blumenstraußes steckt, den man ihm zum Geburtstag verehrt. Er mag sich freuen. Toben wird dagegen der deutsche eBook-Käufer, denn ihm knöpft der Verlag ohne Scham ebenfalls 8 Euro ab! Damit genug der Klagen, sonst könnte dieser Text länger als das besprochene ‚Buch‘ werden …

Autoren

Normalerweise lasse ich an dieser Stelle ein Autorenporträt folgen. Wenn ich ein Werk von Stephen King vorstelle, pflege ich dies zu unterlassen, wie man auch keine Eulen nach Athen trägt. Der überaus beliebte Schriftsteller ist im Internet umfassend vertreten. Nur zwei Websites – die eine aus den USA, die andere aus Deutschland – seien stellvertretend genannt; sie bieten aktuelle Informationen, viel Background und zahlreiche Links.

Stewart O’Nan wurde am 4. Februar 1961 in Pittsburgh, US-Staat Pennsylvania, geboren. Nach einem Studium der Luft- und Raumfahrttechnik in Boston und einer frühen Heirat arbeitete er ab 1984 als Ingenieur für ein Luftfahrtunternehmen. 1988 begann O’Nan erneut zu studieren. An der Cornell University in Ithaca, New York, machte er 1992 seinen Abschluss in Literaturwissenschaft. Als Dozent lehrte er dieses Fach an den Universitäten von Central Oklahoma und New Mexico.

Ein erstes Buch – eine Sammlung von Kurzgeschichten – erschien 1993 („In The Walled City“; dt. „Die Armee der Superhelden“). Schon im folgenden Jahr erschien „Snow Angels“ (dt. „Engel im Schnee“). Für beide Werke erhielt O’Nan Literaturpreise. Ähnlich erfolgreich wurde 2000 sein Sachbuch über ein Großfeuer, das 1944 mehr als 160 Besucher einer Zirkusvorstellung das Leben kostete („The Circus Fire“; dt. „Der Zirkusbrand“).

Nachdem er drei Jahre am Trinity College of Hartford (Connecticut) gelehrt hatte, gab O’Nan 1998 die Universitätslaufbahn auf, um hauptberuflicher Schriftsteller zu werden. Mit seiner Familie lebt er in Avon, Connecticut.

stewart-onan.com
www.stewart-onan.de

Originaltitel: A Face in the Crowd (New York : Simon & Schuster Digital 2013)
Übersetzung: Thomas Gunkel
www.rowohlt.de

eBook: 309 KB
ISBN-13: 978-3-644-49221-9
www.rowohlt.de

Hörbuch-CD: Laufzeit: 70 min. (= 1 CD, ungekürzt, gelesen von David Nathan)
ISBN-13: 978-3-8398-1278-5
www.argon-verlag.de

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