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Indridason, Arnaldur – Kältezone (Lesung)

_Opfer des Kalten Kriegs: Der tote Spion im See_

Ein Toter wird im Kleifarsee bei der isländischen Hauptstadt Reykjavik entdeckt. Nach einem Erdbeben hatte sich der Wasserspiegel gesenkt und ein menschliches Skelett sichtbar werden lassen. Es ist an ein russisches Sendegerät aus dem Jahr 1961 angekettet. Dass es Mord war, belegt ein Loch in der Schläfe des Schädels. Wer ist der Mann?

Kommissar Erlendur Sveinssons Ermittlungen führen ihn in längst vergangene Zeiten von vor 30 und 40 Jahren. Isländer, die von einer gerechteren und besseren, sprich: sozialistischen Welt träumten, gingen in den fünfziger Jahren oft zum Studium in die ehemalige DDR. Einer von ihnen gerät unter Verdacht.

_Der Autor_

Arnaldur Indriðason, Jahrgang 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung. Heute lebt er als freier Autor bei Reykjavik und veröffentlicht mit großem Erfolg seine Romane. Sein Kriminalroman „Nordermoor“ hat den „Nordic Crime Novel’s Award 2002“ erhalten, wurde also zum besten nordeuropäischen Kriminalroman gewählt, und das bei Konkurrenz durch Håkan Nesser und Henning Mankell!

_Der Sprecher_

Frank Glaubrecht ist einer der erfolgreichsten Synchronsprecher Deutschlands. Er leiht beispielsweise so bekannten Filmstars wie Al Pacino, Pierce Brosnan, Jeremy Irons und Richard Gere seine markante Stimme. Er hat u.a. Indriðasons Hörbücher „Nordermoor“ und „Engelsstimme“ gelesen.

Der Romantext wurde von Sabine Bode gekürzt. Für Regie und Produktion zeichnete Marc Sieper verantwortlich. Die akustischen Motive an Anfang und Schluss des Hörbuchs stammen von Michael Marianetti.

_Handlung_

Es ist Mai, als nach einem Erdbeben der Kleifarvatn-See trockenfällt und eine Spaziergängerin darin ein Skelett findet. Die Knochen sind an ein altes russisches Sendegerät aus dem Kalten Krieg gekettet. Ein klarer Hinweis auf Mord. Kommissar Erlendur Sveinsson und sein Assistent Sigurdur Oli werden eingeschaltet. Erlendur lässt Vermisste aus dem Zeitraum zwischen 1965 und 1975 suchen. Bei den Eltern eines der Vermissten aus dem Jahr 1970 liest Oli Briefe: Ist ihr Sohn Jakob der Tote aus dem See?

Oli findet heraus, dass in jenem See mehrmals Abhörsender aus Russland gefunden worden waren. Sie hatten eine Reichweite, mit der Spione den Funkverkehr des amerikanischen Luftwaffenstützpunktes in Keflavik nahe der Hauptstadt Reykjavik belauschen konnten. Da meldet eine siebzigjährige Frau, dass ihr Verlobter vor 30 Jahren verschwand. Er war Vertreter für Baumaschinen und kam daher ganz schön was rum. Die Maschinen stammten allesamt aus der DDR und der Sowjetunion. Eines Tages erschien er nicht mehr bei einem Kunden und verschwand spurlos.

Dieser Hinweis führt zu den Russen. Der Sekretär der Botschaft jedoch gibt sich freundlich, aber völlig ahnungslos. Dabei war Island ein lohnendes Ziel für sowjetische Agenten: Überall auf der Insel hielten sich Amerikaner auf. Erlendur folgt der Spur des Ford Falcon, den der verschwundene Baumaschinenvertreter unter falschem Namen gefahren hatte. Er besucht den letzten Kunden dieses „Leopolds“, bei dem er angeblich nie auftauchte: den mittlerweile 84-jährigen Bauern Haraldur. Der redet unwirsch und abweisend, gibt aber zu, „Leopold“ vor 30 Jahren in der Hauptstadt getroffen zu haben.

Endlich meldet sich auch die amerikanische Botschaft: Etwa 1967 kam ein DDR-Vertreter nach Island, verließ es aber nicht wieder, sondern verschwand im Herbst 1968 spurlos. Der Mann nannte sich Lothar Weiser, geboren in Bonn, lange Zeit wohnhaft in Leipzig, DDR. Bei der deutschen Botschaft erfahren Erlendur und Oli, dass Weiser ein Stasi-Mann war, der 1953 bis 1958 in Leipzig zwecks Observierung der Ausländer arbeitete. Dazu gehörten auch Isländer. Und „Leopolds“ Chef Benedikt Jonsson erklärt, die Baumaschinenhersteller aus der DDR hätten ihn praktisch erpresst, den Mann schwarz einzustellen. Dieser „Leopold“ rekrutierte Leute für die Stasi auf Island, damit sie die Amis abhörten. War Lothar Weiser also „Leopold“? Das ist nicht sicher.

Jetzt sieht Erlendur einigermaßen klar. Aber wer ist der Mörder Lothar Weisers – falls dieser das Skelett im See ist? War es ein Mann aus seiner Vergangenheit oder jemand aus Island? Wird der Täter erneut zuschlagen?

Höchste Zeit, dem alten Haraldur noch mal einen Besuch abzustatten …

_Mein Eindruck_

Meine Inhaltsangabe enthält nur die eine Hälfte des Romans, sozusagen den Krimi an sich. Die andere Hälfte besteht aus einem Handlungsstrang, der 45 Jahre vorher einsetzt, im Jahr 1953. Damals geht der isländische Jungsozialist Thomas nach Leipzig, um dort Ingenieurswissenschaften in einem aufstrebenden sozialistischen Staat zu studieren. Aber als er 1956 zurückkehrt, ist er total verändert und verkriecht sich als gebrochener Mann ohne Hoffnung in seinem Haus. Erst 1998, als der Tote im See gefunden worden ist, beginnt er mit der Niederschrift seiner Erlebnisse in Leipzig. Und dieses Manuskript bildet die andere Hälfte des Romans.

In der Schilderung dieser Erlebnisse legt der Autor eine große Detailkenntnis an den Tag. In der Porträtierung der einzelnen Vertreter der verschiedenen Interessensgruppen an der Universität Leipzig lässt sich die sorgfältige Recherche und der Realitätssinn des Autors ablesen. Thomas, der Ausländer, verliebt sich in eine andere Ausländerin, Ilona aus Ungarn. Obwohl sich das Misstrauen gegen die aufmüpfigen Ungarn, deren Aufstand ja 1956 blutig niedergewalzt wurde, auch in Leipzig bemerkbar macht, verschließt der verliebte Thomas die Augen vor der Realität. Er vertraut den falschen Leuten. Und selbst dann noch, als die Stasi zuschlägt und Ilona spurlos verschwinden lässt, kann er nicht glauben, dass ein „sozialistisches Bruderland“ zu so etwas fähig sein könnte.

Man sollte meinen, dass 1990 nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Öffnung der Stasi-Archive Ilonas Spur verfolgbar sein müsste. Dem ist nicht so, wie Thomas bitter feststellen muss. Die Geheimdienste haben 1956 zu gründliche Arbeit geleistet. Wahrscheinlich wurde sie, gebrochen von Folter und Misshandlung, irgendwo in einem Internierungslager zwischen der DDR und der Sowjetunion verscharrt.

Aber wer waren die Verräter? Thomas muss es unbedingt wissen, bevor seine Seele Ruhe finden kann. Und er folgt dem Weg bis zum bitteren Ende. Dort erkennt er, dass er nie einen Freund in Leipzig hatte. Als die Kripo 1998 in sein Haus eindringt, ist er froh, sich erlösen zu können. Denn das Manuskript seiner Geschichte ist nun fertig. Ein trauriges Kapitel in der Geschichte von Isländern, die ihr Glück im Ostblock suchten.

Man sieht also, dass der reinen Krimihandlung eine ergreifende Geschichte zugrunde liegt, ja, dass der Krimi im Grunde nur eine Fußnote darstellt, in der die losen Fäden zusammengeführt werden. Deshalb hat der Autor noch einmal die persönliche Seite seines Kommissars hervorgehoben. Erlendur ist schon lange geschieden, doch seine Tochter hat wieder Kontakt zu ihm, und nun taucht auch noch sein Sohn Sindri bei ihm auf. Wieder werden alte Geschichten aufgewärmt und neu eingeordnet. Das bringt aber dramaturgisch gesehen nichts Neues.

_Der Sprecher_

Frank Glaubrechts sonore Stimme – man stelle sich den Klang von Al Pacino in „The Insider“ vor – trägt die Geschichte, die Indriðason spinnt, ausgezeichnet und ohne je die für die Geschichte und den Ermittler notwendige Autorität und Ruhe zu verlieren. Dennoch entwickelt sein Vortrag zusammen mit der Handlung eine tiefere psychologische Dimension, die sich in der zunehmenden Emotionalität in Glaubrechts Stimme äußert – ein gewisses zusätzliches Vibrato, das ich vernommen zu haben glaube. Das wird besonders dann hörbar, als Thomas verzweifelt nach der verschwundenen Ilona sucht und zum ersten Mal auch die Leipziger Stasi-Zentrale von innen sieht: die Stahltüren, die abgewrackten Beamten, das penetrante Misstrauen und die Arroganz der Macht. Da läuft es einem kalt den Rücken runter.

_Unterm Strich_

Dass Island ein Brennpunkt des Kalten Krieges war, hätte ich nicht erwartet, obwohl es doch die Logik nahe legt: Hier eine Luftwaffenstützpunkt der Amis, dort, nur wenige Kilometer entfernt, die Russen in Murmansk in der Arktis. Es war eine Atmosphäre der gegenseitigen Bespitzelung und des Misstrauens. Dies ist die negative Seite des Sozialismus, den die Isländer kennen lernten.

Dabei gab es offenbar 1953 allen Anlass, den Sozialismus von seiner positiven Seite kennen zu lernen: offene Universitäten, preisgünstige Agrarmaschinen, Knowhow-Transfer. Diese Seite wollte Thomas, die Hauptfigur des zweiten Erzählstrangs, kennen lernen und nutzen. Doch der Traum wurde zum Albtraum, der nie zu enden schien. Dann aber bekam er Hinweise auf DDR-Spione auf Island – eine neue Chance, mit den alten Geschichten reinen Tisch zu machen. Hier findet die Handlung zu einem abschließenden Finale voller Spannung und unerwarteter Enthüllungen.

Kommissar Sveinsson wird quasi zum Nachlassverwalter dieses Dramas, das aus dem Kalten Krieg erwuchs und etliche Opfer forderte. Aber als praktisch denkender Gemütsmensch sieht er auch die positive Seite des abgeschlossenen Kapitels: Er kauft den Ford Falcon, den jener verschwundene „Leopold“ zurückgelassen hatte.

|Originaltitel: Kleifarvatn, 2004
251 Minuten auf 4 CDs
Aus dem Isländischen übersetzt von Coletta Bürling|

Arnaldur Indriðason – Engelsstimme. Kommissar Erlendur Sveinssons 5. Fall (Lesung)

In einem angesehenen Hotel in Reykjavík wird der Portier tot aufgefunden, als Weihnachtsmann verkleidet, die Hosen heruntergelassen. Erlendur stellt bald fest: Diskretion ist das oberste Gebot, der Tourismus ist heilig. Um den Tod des alten Mannes schert sich eigentlich niemand. Wer aber hat Interesse einen zurückgezogen lebenden Portier aus dem Weg zu räumen? Erlendur quartiert sich kurzerhand im Hotel ein und stößt auf ein Geheimnis aus der Vergangenheit des Toten, auf eine „Engelsstimme“… Kommissar Erlendur Sveinsson ermittelt in seinem fünften Fall. (Verlagsinfo)

Der Autor
Arnaldur Indriðason – Engelsstimme. Kommissar Erlendur Sveinssons 5. Fall (Lesung) weiterlesen

Indriðason, Arnaldur – Menschensöhne (Lesung)

_Erlendurs erster Fall: „Alien 4“ lässt grüßen_

Island, eine friedliche Insel im Nordatlantik? Mitnichten. Ein pensionierter Lehrer wird in der Innenstadt der Hauptstadt Reykjavik brutal ermordet. Zur gleichen Zeit begeht einer seiner ehemaligen Schüler in der psychiatrischen Klinik Selbstmord. Dass ein Zusammenhang zwischen den beiden Fällen besteht, findet als Erster der jüngere Bruder des Selbstmörders heraus. Erlendur Sveinsson und seine Kollegen von der Kripo Reykjavik schalten sich in den Fall ein. Das Ermittlungsergebnis ist haarsträubend: Von der Klasse des Selbstmörders leben nur noch zwei Schüler.

_Der Autor_

Arnaldur Indriðason, Jahrgang 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung |Morgunblaðið|. Heute lebt er als freier Autor bei Reykjavik und veröffentlicht mit großem Erfolg seine Romane. Sein Kriminalroman [„Nordermoor“ 402 hat den „Nordic Crime Novel’s Award 2002“ erhalten, wurde also zum besten nordeuropäischen Kriminalroman gewählt, und das bei Konkurrenz durch Håkan Nesser und Henning Mankell! Trotz seines Erfolgs sollte man nicht meinen, dass Island von einer Verbrechenswelle heimgesucht wird. Laut Verlag gibt es dort nur drei Morde pro Jahr.

Bisher ins Deutsche übersetzte Romane (alle bei |Lübbe|):

[Nordermoor 402
[Engelsstimme 721
Gletschergrab
[Todeshauch 856
Menschensöhne

_Der Sprecher_

Frank Glaubrecht ist einer der erfolgreichsten Synchronsprecher Deutschlands. Er leiht beispielsweise so bekannten Filmstars wie Al Pacino, Pierce Brosnan, Jeremy Irons und Richard Gere seine markante Stimme. Er hat u. a. Indriðasons Hörbücher „Nordermoor“ und „Engelsstimme“ gelesen.

Die Bearbeitung der gekürzten Textfassung erfolgte durch Sabine Bode, Regie führte Marc Sieper. Die akustischen Motive (= Musik etc.) steuerte Michael Marianetti bei.

_Handlung_

Als Palmi diesmal seinen älteren Bruder Daniel in der psychiatrischen Klinik, einem kalten grauen Gebäude an der Küste, besucht, stutzt er: keine Raucher auf dem Korridor, und Daniels Zimmer ist verwüstet. Ein Aufseher sagt ihm, dass Daniel sich oben im fünften Stock umbringen wolle. Palmi ist schockiert, aber nicht verwundert. Schon zweimal hat Daniel in seiner Jugend versucht, sich umzubringen, und zweimal hatte er Palmi und seine Mutter angegriffen. Aber das war vor 25 Jahren, und die Mutter starb vor sieben Jahren. Der Vater, ein Matrose, ist auf See geblieben, die Brüder haben ihn kaum gekannt.

Daniel steht auf dem Fenstersims im fünften Stock und droht, sich in die Tiefe zu stürzen. „Sie haben mir Gift eingetrichtert!“ schreit er. „Wo sind die Anderen?“ Als Palmi darauf keine Antwort weiß, stürzt sich Daniel, gerade erst 40 geworden, in die Tiefe. Er ist sofort tot. Wer war Daniels letzter Besucher, von dem die Krankenschwester Palmi berichtet? Was hat er Daniel erzählt?

Unterdessen in der Innenstadt von Reykjavik. In dem über hundert Jahre alten Holzhaus, das völlig verwahrlost ist, stinkt es nach Benzin, alles ist davon durchtränkt. Selbst die Kleidung des alten Mannes, der gefesselt auf einem Stuhl am Schreibtisch sitzt und sich nicht wehrt. Jemand zündet ein Streichholz an und steckt es dem Alten in die Finger. Als es herunterbrennt und das Benzin erreicht, steht sofort das ganze Haus in Flammen. An den Wänden hängen zahlreiche Fotos von Schülern und Lehrern, die aus mehreren Jahrzehnten stammen müssen, denn die Kleidung der Schüler hat sich ebenso verändert wie ihre Haltung gegenüber der Kamera. Der abgebildete Lehrer ist immer der gleiche: das Mordopfer.

Als Kommissar Erlendur Sveinsson mit seinem Kollegen Sigurdur Oli den Tatort in Augenschein nimmt, ist der Tote bereits anhand von Zahnarztunterlagen identifiziert: Halldór Svavarsson, ein ehemaliger Lehrer einer Volksschule. Als sie Halldórs Schwester befragen, erzählt sie, man habe sich einmal an ihrem Bruder vergangen, damals in seiner Kindheit. Doch er habe sie tags zuvor angerufen: Er sagte, es sei vollbracht. Was hat er bloß gemeint?

Am Tag nach den beiden Toden erhält Palmi drei Microcassetten mit den Aufnahmen der Gespräche zwischen seinem Bruder Daniel und Halldór Svavarsson, seinem ehemaligen Lehrer an der Volksschule. Halldór bedauert zutiefst, was er Daniel und den anderen Jungs seiner Klasse im Winter 1967/68 angetan habe. Weil er erpresst wurde, hat er ihnen im Rahmen eines medizinischen Experiments „Lebertranpillen“ verabreicht, in denen sich offenbar kein Lebertran befand. Aber was war es dann?

Die Leistungsfähigkeit der Jungs steigerte sich in auffälligem Maße, und zwei Krankenschwestern nahmen ihnen Blutproben ab, um die Veränderungen zu protokollieren. Doch als Halldór die Pillen absetzen musste, traten sehr hässliche Entzugserscheinungen auf. Viele der Jungs wurden drogenabhängig (auch Daniel), manche begingen Selbstmord, andere fielen Unfällen zum Opfer, Daniel wurde schizophren.

Palmi erkennt verbittert, dass von all den Jungs jener Klasse nur noch ein einziger am Leben sein könnte, jener, den sie den Pechvogel „Kiddi Kolk“ nannten, Christian Einarssson. Er sieht keine Chance, Kiddi zu finden, denn die Hintermänner jenes teuflischen Experiments dürften immer noch hinter Kiddi her sein.

Er ahnt nicht, wie Recht er hat. In der Nacht hat Palmi schwere Albträume von Daniel und Halldór, und die Hand eines Unbekannten würgt ihn, der ihn anschreit: „Wo sind die Cassetten? Wo sind die Cassetten?“ Der Traum ist gar keiner, erkennt Palmi. Dies ist grausame Realität …

_Mein Eindruck_

In seinem ersten Roman über Kommissar Erlendur Sveinsson greift der Autor wie später in dem eindrucksvollen „Nordermoor“ einen alarmierenden Misstand in der isländischen Gesellschaft auf. Zunächst sieht es nach einem Einzelfall aus, was die Pharmaindustrie an unschuldigen Schülern verbrochen hat: ein skrupelloses medizinisches Experiment.

|Die Verstrickung der Politik|

Doch als Erlendur mit seinem Vorgesetzten spricht, erfährt er, dass sich der Premierminister über diesen Fall auf dem Laufenden halten lässt. Und so wundert es Erlendur nur wenig, dass es nach der Lösung des Falls die Behörden mühelos schaffen, alle Angaben über den Hauptverantwortlichen zu unterdrücken. Nur der Handlanger und eine jener Krankenschwestern werden belangt. Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Der Autor klagt keine Einzelschuld ein, sondern eine Gesamtschuld.

~ SPOILER! ~

Dieser Drahtzieher ist Chef des größten isländischen Pharmakonzerns, das zufällig auch das größte ansässige Unternehmen ist – und somit ein wichtiger und mächtiger Steuerzahler. Allerdings lebt der Drahtzieher mehr in Deutschland, woher seine Familie stammt. Und für die dortige Entwicklung von Amphetamin-Präparaten testete er einen Stoff an isländischen Schülern. Das Aufputschmittel wird auch ‚Speed‘ genannt, und es macht definitiv süchtig. Was die ahnungslosen Testpersonen schon bald nach Absetzen der Droge bitter zu spüren bekamen.

Doch dies war nicht das einzige Verbrechen des Pharmabesitzers. Das abgezapfte Blut diente als Grundlage für genetische Versuche, um den heiligen Gral der Genetik zu erlangen: das Klonen von Menschen. Als Palmi und sein Freund in das unterirdische Genlabor eindringen, stoßen sie auf Gespenster der Vergangenheit …

~ ENDE des SPOILERS ~

|Doppelt hält besser|

In klassischer Weise führen die Ermittlungsergebnisse der beiden Teams Erlendur/Sigurdur und Palmi/Freund X zu den Drahtziehern der Verbrechen an den Schülern und ihrem Lehrer. Dabei müssen beide Teams weit in die Vergangenheit zurück, bis zum Zweiten Weltkrieg und davor. Die Methoden sind natürlich völlig unterschiedlich, doch das Erfreuliche dabei ist, dass, trotz der Kooperation Palmis mit den Behörden, die Privatpersonen in ihrem Bemühen, das letzte und größte Geheimnis zu lüften, wesentlich weiter kommen als die beiden Polizisten. Die Teams lassen sich also als gleichberechtigt betrachten, und es ist spannend zu beobachten, wie sie sich allmählich vorarbeiten und dem Kern des Geheimnis immer näher kommen. Doch dies ist keine Ermittlung um ihrer selbst willen – sie wollen den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lassen, aber auch den Schuldigen.

|Die Rolle des Schurken|

Natürlich ist es von wesentlicher Bedeutung, die Figur des obersten Schurken richtig zu besetzen und zu zeichnen. Willkommen in der strahlend weißen Welt der global agierenden Genetikwirtschaft! Als Palmi und sein Freund – es dürfte klar sein, um wen es sich handelt – in die Villa des Pharmachefs eindringen, landen sie in einem Wunderland der Biomedizin, das gerade durch seinen klinisch reinen Charakter so bizarr wirkt (wie schön, dass es nicht von Isländern gebaut wurde!).

Der Herrschers dieses Wunderlands, ein Mann mit einem deutschen Namen, hält sich nur zu bedeutsamen Anlässen hier auf, beispielsweise für eine wichtige Transaktion. Er ist ein Mann mit ebenso viel Kunstverstand (hier hängt Islands einziger Cézanne) wie Geschäftssinn (er lässt einen der Top-50-Männer der Welt anreisen, um zu investieren), doch mit seiner Moral scheint etwas nicht zu stimmen. Was er herstellt und womit er handelt, das sind menschliche Wesen. Doch kann man diese titelgebenden „Menschensöhne“ wirklich so nennen? Palmi und Co. werden es herausfinden. Ein klassischer „Alien 4“-Moment wartet auf sie.

|Gefallene Engel?|

Eine Bedeutungsebene fehlt noch, die dem Unternehmen Kloning eine bittere ironische Note verleiht. Folgendes Bibelzitat ist dem Roman als Motto vorangestellt: „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren ist, sondern das ewige Leben hat.“ Der Klonhersteller nimmt diesen Spruch ein wenig zu wörtlich. Wenn er den reichen Koreaner klont, um ihm so das „ewige Leben“ zu verschaffen, so bezieht sich seine Errungenschaft auf den rein körperlichen Aspekt. Der Geist des Klons ist davon nicht betroffen – dieser wird sowieso nur als Produkt der Umwelt betrachtet.

Als wäre dieses Verbrechen nicht genug, missbraucht der Klonhersteller auch noch die auf natürliche Weise entstandenen Menschen-Söhne, um seine künstlichen Menschen zu erzeugen. Eine zynischere Haltung gegenüber dem menschlichen Leben ist kaum vorstellbar. Es ist die totale Umkehrung des Sinnes, der mit dem Bibelspruch ausgedrückt werden soll.

Und die Opfer selbst? Ganz konkret wird die Auswirkung dieses Verhaltens an Daniels geistigem Zustand. Nach dem Motto seines Lehrers Halldór wollte er „ad astra“, zu den Sternen streben. Und tatsächlich schien die Wunderdroge sozusagen eine Abkürzung dorthin bereitzustellen: einen geistigen Höhenflug sondergleichen. Doch der Absturz dieses Ikarus folgt unausweichlich, als die Droge entzogen wird: Daniel phantasiert von einer „Vertreibung aus dem Paradies“, vom Sturz eines Meteors, der auf die Erde fiel. Er fesselt in seiner Wut seinen Bruder Palmi ans Bett und zündet dieses an – ein deutlicher Vorgriff auf die Art und Weise, wie Halldór umkommt. Das Unglück der Opfer hat eine tragische Dimension. Das kann man für pathetisch halten oder auch nicht; hieran scheiden sich die Geister.

|Hello, Dolly!|

Natürlich nimmt der Autor den Kloning-Erfolg am Schaf „Dolly“ zum Aufhänger für seine horrible Kriminalstory, und mittlerweile weiß man, wie enorm schwierig dieses Unterfangen ist – von der Fragwürdigkeit mal ganz abgesehen. Doch auch ohne den Klonaspekt bleibt das Thema des verbotenen medizinischen Experiments an ahnungslosen Opfern brisant. Die einzelnen Mitglieder von Daniels Clique erwachen in der Rückblende zu erstaunlich deutlichem Leben, als der Autor eine blutige Szene schildert, die in einem Kellerversteck der Bande stattfindet. Die folgenden Ereignisse erklären, warum Kiddi Kolk nur noch ein Auge hat … Die Szene ist so anschaulich erzählt, dass man meinen könnte, der Autor hätte dies oder Ähnliches selbst erlebt. Er kennt sich in den „sozial unterprivilegierten“ Gegenden der Hauptstadt offensichtlich bestens aus. Und er scheut sich nicht, die Dinge beim Namen zu nennen.

|Ein Erstling? Kaum zu glauben|

Es ist wenig davon zu spüren, dass dies Indriðasons erster Krimi war. Ein Hinweis darauf, dass wir es nicht mit der Urfassung zu tun haben, liefert eine winzig gedruckte Zeile im Impressum des Buches, das mir ebenfalls zur Besprechung vorlag. (Gut, dass wir verglichen haben, nicht?) „Die Übersetzung wurde von einer überarbeiteten Fassung des isländischen Originals vorgenommen.“

|Der Sprecher|

Thrillerkenner wissen, dass Frank Glaubrecht die deutsche Stimmbandvertretung von Al Pacino ist. Wer jemals Pacino in Michael Manns „Heat“ gesehen und vor allem gehört hat, ahnt schon, mit welcher Autorität Glaubrecht die Geschichte von Halldor, Palmi, Daniel und Erlendur vortragen kann. Dies habe ich schon bei den anderen Indriðason-Hörbüchern festgestellt: Die Geschichte, wenn Glaubrecht sie vorträgt, kann niemanden kalt lassen.

Das ist ganz besonders wichtig in jenen Szenen und Sätzen, die über die normale Alltagserfahrung und -ausdrucksweise hinausgehen. Wenn Erlendur und Palmi von Abscheu angesichts bestimmter Phänomene wie Kloning erfasst werden, so muss man ihnen das abnehmen. Ganz besonders kritisch wird es, wenn der Moment des Grauens so bizarr wird, dass die Vorstellungskraft kaum noch ausreicht, ihn zu visualisieren. Das ist im Zentrum des Genlabors, dem Herz der Finsternis, der Fall.

Die Hörbuchdramaturgie ist löblicherweise darauf ausgerichtet gewesen, Spannung zu erzeugen. Daher verwundert es nicht, dass viele Szenen mit einer neuen Erkenntnis enden, die zugleich wie ein Cliffhanger funktioniert. Der Zuhörer ist begierig darauf zu erfahren, wie es weitergeht. Natürlich wird die gleiche Szene selten fortgesetzt, sondern die Story wechselt zum parallelen Handlungsstrang B. Umso größer ist dann die Spannung, wenn die Sprache wieder auf Handlung A kommt.

Nach klassischem Krimimuster steigert sich die Spannung wie auch die Ebene, auf der Erkenntis und Täter zu finden sind, mit jedem weiteren Ermittlungsergebnis. Das Finale sieht dann den Showdown vor. Doch der verläuft bei Indriðason niemals in der Weise, wie ihn sich ein Drehbuchautor aus Hollywood vorstellen würde. Und doch, so viel lässt sich verraten, gibt es ein so genanntes Happyend.

Musikalische Motive bilden ein Intro für die Geschichte und begleiten quasi den Abspann. Sie beschwören eine Stimmung aus Spannung und Drama. Ich fand sie recht passend.

_Unterm Strich_

Man merkt zwar, dass Indriðasons Erstling noch stark an klassischen Mustern für Krimis orientiert ist, aber das Thema ist bereits ebenso brisant wie das seiner späteren Romane. Ich fand die Geschichte sowohl spannend erzählt als auch sehr bewegend in ihrer Aussage und Darstellung.

Und je mehr die Welt jene Visionen, die die Science-Fiction noch vor 30 Jahren zeichnete, in die Realität umsetzt, umso dringender müssen wir uns als Zeitgenossen fragen, ob der Mensch schon bereit ist, sein Ebenbild – ob als Klon, Roboter oder KI – zu erschaffen und wie eine Ware zu verschachern. Von den Opfern, die auf diesem Weg zu bringen sind, und ihrer moralischen Rechtfertigung ganz zu schweigen.

|Originaltitel: Synir Duftsins, 1997
265 Minuten auf 4 CDs|