Thorne, Tony – Kinder der Nacht

Vampirliteratur wird ja gern in die Schublade der „Unterhaltungsliteratur“ gesteckt und ruft hierzulande bei seriösen Wissenschaftlern nur ein Naserümpfen hervor. Im Land von Goethe und Schiller will man mit dem großen „U“ nichts zu tun haben. Dabei wird dann die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem uralten und weltumspannenden Mythos des Vampirs gleich mit wegrationalisiert, will man doch die mögliche Stigmatisierung vermeiden. Der angloamerikanische Raum ist da nicht so pingelig. Dort widmet man sich nicht nur mit Hingabe der Untersuchung von Kriminalliteratur, sondern eben auch dem Horror. Deswegen wird es auch nicht verwundern, dass der Autor des vorliegenden Bandes, Tony Thorne, Professor am Londoner King’s College ist. Sein Buch mit dem recht populärwissenschaftlichen Titel „Kinder der Nacht. Die Vampire sind unter uns“ erschien erstmals 1999 und wagt einen fundierten, wenn auch unterhaltsamen Rundumschlag in das Land der Vampire.

Dabei ist Thornes Ansatz ganz klar ein kulturhistorischer. Er widmet sich nur am Rande den literarischen oder filmischen Inszenierungen des Vampirs. Natürlich werden Meilensteine wie Polidoris „Der Vampyr“ oder Stokers [„Dracula“]http://www.power-metal.de/book/anzeigen.php?id_book=210 vorgestellt. Auch filmische Highlights finden neben der humoristischen Betrachtung absoluter Tiefpunkte der Filmkunst Eingang in das Buch. Doch Thornes eigenliche Prämisse ist es, den sich wandelnden Mythos des Blutsaugers in verschiedenen Kulturen und über die Zeiten hinweg zu verfolgen.

So stellt er zunächst fest, dass der (mythische) Urvampir weiblich gewesen ist. Ausgehend von weiblichen Blutsaugern wie den lamia oder styx kommt er zur Königin der frühen weiblichen Vampire: Lilith, die nach dem jüdischen Glauben die erste Frau Adams war. Allerdings war sie nicht gefügig, wollte sie doch beim Geschlechtsverkehr nicht unter Adam liegen, mit der Begründung, sie seien beide ebenbürtig. Die beiden kommen zu keiner Einigung und Lilith flieht. Von da an wird sie zu einer Ausgestoßenen, die kleinen Kindern die Lebensenergie aussaugt.

Von diesen mythischen Ursprüngen kommt Thorne dann bald zu „realen“ Vampiren und Vampirplagen. Personen, die immer wieder in die Nähe des Vampirismus gestellt wurden, sind zum Beispiel Vlad Tepes (ein grausamer mittelalterlicher Feldherr), die Blutgräfin Elisabeth Bathory (die im Blut von Jungfrauen badete, um ihre Jugend zu erhalten) oder der Serienmörder Peter Kürten (der im Köln der 1930er Jahre unzählige Morde beging). Natürlich sind all diese Personen in diesem Buch vertreten. Doch auch die Vampirplagen des 18. Jahrhunderts werden näher untersucht. So wurden in südosteuropäischen Gegenden Leichen ohne zu fackeln exhumiert, wenn man annahm, sie wären Wiedergänger. Da zu diesem Zeitpunkt kaum Kenntnisse darüber bestanden, was mit einer Leiche geschieht, nachdem sie beerdigt ist, wurden Merkmale (z.B. rosige Haut, das vermeintliche Weiterwachsen von Haaren und Nägeln, die spitzer gewordenen Zähne) falsch interpretiert. Doch auch in der Neuen Welt gab es „Vampirplagen“. In Neuengland schien man die Tuberkulose mit Vampirismus zu verwechseln und exhumierte ganze Familien, um sie zu pfählen und zu köpfen.

Vom nordamerikanischen Kontinent bewegt sich Thorne abwärts nach Lateinamerika, wo es noch in den 1990er Jahren einen kuriosen Fall von Vampirismus gab, der hier erstmals in Buchform dokumentiert ist. Der Fall des Chupacabras, einer Mischung aus Roswell-Alien und blutsaugendem Tier, zeigt deutlich, wie alte Mythen und Ängste (die Angst vorm Vampir) mithilfe von Massenmedien auch eine Massenhysterie auslösen können. Und wenn diese eigentlich lächerliche Geschichte eines beweist, dann ist es die Tatsache, dass das wohlige Gruseln vorm Vampir in unserer aufgeklärten Zeit keineswegs anachronistisch ist. Der Mythos des Vampirs ist so langlebig und wandelbar, weil er Urängste verkörpert, die uns auch in unserer modernen Zeit noch nicht in Ruhe lassen. Er verkörpert die Angst vor den Toten, die Ungewissheit dessen, was nach dem Sterben kommen mag und er verkörpert auch die Angst vor dem Verlust der eigenen Lebensenergie (des Blutes).

Ebenfalls hochaktuell ist Thornes Betrachtung der nordamerikanischen Real Vampires, die gerade durch neue Technologien wie das Internet einen Aufschwung erlebt haben. Dabei handelt es sich um Menschen, die sich selbst als Vampire bezeichnen. Entweder sie trinken tatsächlich Blut – was meist im Zusammenhang mit sadomasochistischen Sexpraktiken passiert. Oder sie bezeichnen sich als Psychovampire und ernähren sich von der Lebensenergie ihrer Mitmenschen. Katherine Ramsland hat sich in ihrem Buch „Vampire unter uns“ ebenfalls in die Szene der Real Vampires begeben, doch Thorne liefert die weniger blumige Betrachtung, die dadurch aber kaum weniger schauerlich ist. Er bietet einen Einblick in eine Subkultur, die von schwarzgekleideten Gothics bis zu gewaltbereiten Psychopathen reicht.

Man merkt Tony Thorne seinen wissenschaftlichen Hintergrund an. Er betrachtet sein Thema sachlich, führt souverän durch Geschichte und historische Quellen und gleitet kaum ins Triviale ab. Trotzdem ist sein Buch eine unterhaltsame Lektüre, die an einigen Stellen von beschreibenden Szenen aufgelockert wird, in denen Thorne eine Vampir-Convention besucht oder im heutigen Slowenien ein „Vampirgrab“ auszumachen versucht. Der Erkenntnisgewinn an diesen Stellen tendiert natürlich gegen Null, Thorne schafft es aber hier, eine Atmosphäre zu evozieren, die den Leser gleichsam in die Vampirszene mit hineinzieht und neugierig darauf macht, was dieser Mythos wohl für den Einzelnen parat hält.

Davon abgesehen ist Thorne aktuell und ausführlich. Das sieht man nicht nur an seiner Rekonstruktion der „Chupacabras“-Geschichte, sondern auch an seiner ausführlichen Anaylse des Lilith-Mythos, der bisher in der Vampirliteratur seinesgleichen an Genauigkeit sucht. Was seinem Anspruch an Wissenschaftlichkeit und Seriösität allerdings Abbruch tut, ist das totale Fehlen von Fußnoten, die der interessierte Leser an vielen Stellen schmerzlich vermisst. Auch ein Literaturverzeichnis, in dem zitierte und benutzte Werke zumindest aufgeführt wären, fehlt komplett. So passiert es dann, dass Zitate entweder nur einem Autor (nicht aber einem Werk) zugeordnet werden oder komplett ohne Angabe frei im Text stehen. Das wirft ein schlechtes Licht auf Thorne und macht das Buch ungeeignet für eine wissenschaftliche Weiterverwendung.

Wen das allerdings nicht stört, der hat mit „Kinder der Nacht“ einen hervorragenden Einstieg in den Vampirmythos, der umfassend über die verschiedenen Aspekte (Literatur, Geschichte, Film, Subkultur) des Vampirs informiert.