Robert J. Sawyer – Flash. Zukunftsroman

Fatales Experiment: Blick in die Zukunft der Menschheit

Am Genfer CERN wird anno 2009 der neue Teilchenbeschleuniger in Betrieb genommen. Der unerwartete Effekt: Alle Menschen auf der Erde verlieren für zwei Minuten das Bewusstsein. Und sehen in diesen zwei Minuten in die Zukunft – auf ihr Leben in 21 Jahren, am 23. Oktober 2030. Entsetzen und Panik machen sich breit. Wie konnte es zu diesem kollektiven Phänomen, diesem „Flashforward“, kommen? Und ist diese Zukunft in 21 Jahren unabänderlich? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden: durch eine Wiederholung …

„Ein Wissenschaftsthriller für alle Leser von Michael Crichton und Andreas Eschbach“ verspricht der Verlag. Mal sehen, ob der Roman das halten kann.

Der Autor

Robert J. Sawyer, geboren 1960 in der kanadischen Hauptstadt Ottawa, gehört zu den führenden Autoren seines Genres. Nach dem Studium im Fachbereich „Funk und Fernsehen“ an der York-Universität, Toronto, begann er 1983 eine Laufbahn als populärwissenschaftlicher Drehbuchautor. 1990 erschien sein erster Science-Fiction-Roman, dem bislang sechzehn weitere gefolgt sind. Sie wurden bisher in elf Sprachen übersetzt und haben mehr als 30 Preise gewonnen. Neben Greg Bear und Robert Charles Wilson gilt er heute als einer der ideenreichsten wissenschaftlich orientierten Autoren der Gegenwart. Sawyer lebt mit seiner Ehefrau Carolyn Clink in Thornhill in der Nähe von Toronto.

Andere Romane in Asimovs Tradition sind „The Terminal Experiment“ (1995, dt. als „Die dritte Simulation“ bei |Goldmann|), „Calculating God“ (2000) und „Factoring Humanity“ (1998). Bei |Festa| erschien der erste Band der Hominiden-Trilogie: „Die Neanderthal-Parallaxe“. Dafür erhielt er 2003 den |Hugo Award|, den wichtigsten SF-Preis, der von den Science-Fiction-Lesern verliehen wird. „Die dritte Simulation“ erhielt den renommierten |Nebula Award|. Im März 2008 ist sein Roman „Flash“ (orig. „Flash Forward“) bei Heyne erschienen.

Werke

The Quintaglio Ascension-Serie

1992 Far-Seer
1993 Fossil Hunter
1994 Foreigner

The Neanderthal Parallax-Serie

2002 Hominids – in Fortsetzungen in Analog Science Fiction
Die Neanderthal-Parallaxe. Festa, 2005, ISBN 3-86552-006-5
2003 Humans
2003 Hybrids

WWW-Serie

2009 Wake
2010 Watch
2011 Wonder

Einzelromane

1990 Golden Fleece
1994 End of an Era
1995 The Terminal Experiment – in Fortsetzungen als Hobson’s Choice in Analog Science Fiction
Die dritte Simulation. Übers. Cecilia Palinkas. Goldmann, 1997 ISBN 3-442-24758-6
1996 Starplex – in Fortsetzungen in Analog Science Fiction (1996)
1997 Frameshift
1997 Illegal Alien
1998 Factoring Humanity
1999 Flashforward
Flash. Übers. Hendrik P. Linckens, Marianne Linckens. Heyne, 2008 ISBN 978-3-453-52370-8
2000 Calculating God
2005 Mindscan
2007 Rollback
2012 Triggers
2013 Red Planet Blues
2016 Quantum Night
2020 The Oppenheimer Alternative

Robert J. Sawyer auf |Buchwurm.info|:

Die Neanderthal-Parallaxe
Die dritte Simulation

Handlung

Im Hochenergieforschungszentrum des CERN in Genf führt der Kernphysiker Lloyd Simcoe zusammen mit seinem Kollegen Theo Prokopides ein Experiment durch, in dem erstmals eine enorm hohe Energiemenge freigesetzt wird. Ziel ist es, ein Elementarteilchen zu finden, das schon seit 50 Jahren gesucht wird, sozusagen der heilige Gral der Kernphysik. Lloyd und Theo erhoffen sich dafür den Nobelpreis. Stattdessen passiert etwas völlig Unerwartetes: Im Verlauf des Experiments wird das Bewusstsein der gesamten Menschheit für knapp zwei Minuten in das Jahr 2030 transportiert: genauer zum 23. Oktober.

Durch den weltweiten Bewusstseinsausfall ereignen sich unzählige Unglücke, vor allem unter Autofahrern oder bei Landevorgängen von Fliegern. Auch in Häusern kommen viele Menschen zu Schaden. Als Lloyd mit seiner Verlobten Michiko Kumaro nach Genf fährt, um ihre Tochter Tamiko zu suchen, sehen sie einen Hubschrauber in der Fassade eines Bürogebäudes stecken. Überall gellen Sirenen, die Gehwege sind mit Glasscherben übersät.

Sie kommen zu spät. Tamiko ist ums Leben gekommen. Ein ungesteuertes Auto fuhr über den Gehweg direkt auf den Hof ihrer Schule und erwischte sie. Michiko ist untröstlich, und Lloyd, der Tamiko ebenfalls geliebt hat, weint Tage später, behält aber vorerst die Nerven.

Ein weiteres merkwürdiges Phänomen sind die „Visionen“ beim |Flashforward|, wie die amerikanischen Medien den Vorfall nennen. Noch ahnt niemand etwas von einer möglichen Beteiligung des CERN, und Direktor Gaston Béranger tut alles dafür, dass dies so bleibt. Die Entschädigungsforderungen würden sonst in die Milliarden gehen. Alle Menschen haben Visionen, sogar die Schläfer: Sie glauben, einen lebhaften Traum in Farbe zu erleben. Lloyd erwacht neben einer alten Frau, mit der er intim ist – doch es ist nicht Michiko. Als er dies schließlich Michiko erzählt, ist ihre Ehe in Frage gestellt. Denn auch Michiko hat eine Vision gehabt: Nur ein Mädchen war an ihrer Seite, doch keine Spur von Lloyd.

Doch Theo hat als einer der wenigen keine Vision gehabt. Michiko erklärt es ihm eindeutig: Der Grund dafür ist der, dass er im Jahr 2030 bereits tot sein wird. Wenige Tage später erhält er Hinweise über Medienberichte vom 22. Oktober 2030, dass er durch drei Schüsse in einem Boxstadion tödlich verletzt werden würde bzw. worden sei. Theo wundert sich: Er hält überhaupt nichts vom Boxen. Und wieso sollte ihn jemand mit einer amerikanischen Pistole der Marke Glock erschießen? Persönliche Gespräche bringen nicht viel mehr. Aber Theo gibt nicht auf. Die Zukunft ist nicht festgelegt – kann er seine Ermordung verhindern?

Lloyd wird von Schuldgefühlen zerfressen. Michiko sagt es nicht, aber sie gibt ihm die Schuld am Tod ihrer Tochter. Und als er mitbekommt, welche Furcht vor dem Fliegen und Autofahren, vor jeder Art von Risiko in der Welt herrscht – vor dem Damoklesschwert eines weiteren Flashforwards -, überredet er den Direktor, die Experimente des CERN publik zu machen. Doch schon bald wird klar, dass es nur einen Weg gibt, alle Ängste und Schuldgefühle auszuräumen: durch eine Wiederholung des Experiments …

Mein Eindruck

„Flash“ ist ein ziemlich spannender Roman, der in drei Teile aufgeteilt ist. Die ersten beiden spielen im Jahr 2009, der dritte natürlich im Jahr 2030, der Zielzeit der Visionen. Der Autor ergänzt die wissenschaftlichen Szenen mit zwischenmenschlichen Begegnungen, gleicht aber das Manko an Spannung durch die Kriminalhandlung um Theo Prokopides aus. Dieser Krimi findet erst 30 Seiten vor Schluss seine Auflösung, man sollte das Buch daher vorher keinesfalls zur Seite legen.

In den ersten beiden Teilen passiert eigentlich nicht viel an Action. Zwei Minuten geht’s in die Zukunft, und schon ist alles vorbei – vorerst jedenfalls. Und doch hat die Achterbahnfahrt der Menschheit erst angefangen. Denn nun will niemand mehr fliegen oder Auto fahren, alle wollen plötzlich auf Nummer sicher gehen. Die Zukunftsangst geht um. Erst das Mosaik-Projekt Michikos und Theos beruhigt die Menschen, denn dadurch erhalten sie ein Bild dessen, was sie im Jahr 2030 erwartet: eine Summe aller Blicke in die Zielzeit.

Wie Lloyd Simcoes moralisches Dilemma zeigt, tun sich Abgründe an Schuld auf. Die Schuld würde den Wissenschaftler umbringen, wenn er nicht fordern würde, dass die Zukunft unveränderlich sei. Recht hat er. Doch was wird dann aus dem freien Willen? Kann man vergessen, sagt Lloyd. Die Folgerungen sind schwindelerregend, die Auseinandersetzungen mit Michiko, die das Gegenteil verteidigt, nervenaufreibend.

Doch dann wird durch das zweite Experiment und den Tod von Theos Bruder der freie Wille quasi wieder in sein angestammtes Recht eingesetzt. Heißt das, dass Lloyd nun Sühne für Tamikos Unfalltod leisten muss? Die Hypothesen wie auch die Fragestellung erinnern an Kurt Vonneguts wundervoll skurrilen Roman „Zeitbeben“.

Das grundsätzliche Problem der Autoren und Verlage mit dieser Art von wissenschaftlichen Spekulationsromanen besteht darin, sie einem Leserkreis verständlich zu machen, der wissenschaftlich nur begrenzt vorgebildet ist. Der sprachliche und erzählerische Stil sollte also möglichst einfach und anspruchslos gehalten sein. Dieses Problem haben Michael Crichton und Andreas Eschbach („Ausgebrannt“, „Das Jesus-Video“) bekanntlich relativ gut gemeistert. Sawyer versucht in dieser Hinsicht sein Bestes, doch das Beste setzt dennoch den Sachverstand eines Kernphysikers voraus. Hätte Sawyer die Leichtigkeit des Anfangs durchgehalten, könnte jeder Crichton-Leser den Roman verstehen. Die Fußnoten helfen nur begrenzt.

Andererseits sollte das Thema nicht so banal behandelt werden, dass es wissenschaftlich gebildete, mitdenkende Leser nicht mehr interessiert. Deshalb baut Sawyer noch eine Reihe von philosophischen Fragestellungen und mythologischen Anklängen ein. Wie lässt sich das Vorherwissen mit freiem Willen und dem Begriff von Schuld und Sühne vereinbaren? Das dürfte auch für Gesetzgeber und Richter eine knifflige Frage sein. Theo stellt sich vor, er sei eine Art Ödipus, der versucht, dem Schicksal zu entrinnen, indem er seinen Mörder findet und so seine Ermordung verhindert. Klappt leider nicht, Theo. Deshalb bleibt’s bis zum Schluss spannend.

Auf der menschlichen Ebene wirkt sich das Vorherwissen des eigenen Todes geradezu lähmend auf den eigenen freien Willen aus. Wozu noch planen und wollen, wenn schon bald alles aus und vorbei ist? Die wirtschaftlichen Folgen sind also ebenso verheerend wie die menschlichen. Wozu noch heiraten und in Liebe, Hoffnung und Kinder investieren, wenn es eh bald vorüber ist, fragen sich Michiko und Lloyd. Man sieht also, dass die Unbestimmtheit der Zukunft ebenso wichtig ist wie die Ausübung des freien Willens. In einer deterministischen Gesellschaft bzw. Welt ist nur der Tod gewiss. Auch aus diesem Grund ist die Wiederholung des Experiments zwingend notwendig.

Im letzten Teil gibt es ein drittes Experiment, denn aller guten Dinge sind drei. Diesmal sind die Grundvoraussetzungen genau wie beim ersten Mal. Und jetzt hat offenbar nur Lloyd die große Vision. Ihm ist ein Blick in die ferne Zukunft der Sonne, der Galaxis und des Universums gewährt – bis er einem anderen Unsterblichen begegnet …

Dieser große Trip wirkte auf mich ein wenig aufgesetzt, aber er wertet das Buch definitiv auf. Hier reiht sich der Autor in die Tradition der großen Menschheitsvisionen in der utopischen Literatur ein: von H. G. Wells angefangen über Freeman Dyson und Olaf Stapledon bis zu Larry Niven. Manche dieser Burschen werden namentlich erwähnt, so dass dem eingeweihten SF-Leser klar wird, dass sich Sawyer durch dieses Name-dropping bestens in seinem Metier auskennt. Das gilt auch für die philosophische Diskussion in der Teilchenphysik. Das darzulegen, würde aber hier zu weit führen.

Die Übersetzung

Ich bin in der glücklichen Lage, das kanadische Original „Flashforward“ vor einigen Jahren gelesen zu haben. Deshalb kann ich die deutsche Übersetzung besser würdigen. Offensichtlich wurden einige Details wie etwa der gegenwärtige Papst auf den neuesten Stand gebracht. Erklärungen von Abkürzungen und Begriffen – meist aus der Teilchenphysik – sind als Fußnoten umgesetzt, so dass der Leser nicht extra in einem Glossar nachschlagen muss. Es sind zum Glück nicht viele, aber alle sind notwendig. Ich habe Erklärungen zu Begriffen wie „Telomere“ (Endstücke von DNS-Strängen in Zellen) vermisst.

Neben ein paar seltenen Druckfehlern finden sich auch stilistische und sachliche Fragwürdigkeiten. Auf Seite 71 steht beispielsweise statt „jemanden überspringen“ „überschlagen“. Das würde ich nur auf eine Buchseite anwenden. Aber Seite 336 redet der Autor auf einmal von knapp DREI Minuten, die der Zeitversetzungseffekt, der Flashforward, gedauert habe. Am Anfang waren es aber nur 1:43 Minuten. Offenbar eine kleine Schlampigkeit. Ob das auch auf Seite 408 zutrifft, ist ein Rätsel: „Er (Lloyd auf seinem Trip) bewegte sich mit der Geschwindigkeit von einer Sekunde pro Sekunde fort.“ Will heißen, in Echtzeit. Je nachdem, wie man den Absatz auffasst, ist diese Beschreibung korrekt oder falsch. Oder es ist eine Lichtsekunde gemeint, was dann Lichtgeschwindigkeit entspräche, aber auch fragwürdig wäre.

Sehr hübsche Flüchtigkeitsfehler finden sich auf Seite 377: das „Orakel von Delphie“ und Seite 391: „Er bickte (sic!) über die Schulter.“

Unterm Strich

Der Kanadier Robert J. Sawyer versteht es elegant, philosophische Vorstellungen in konkrete Handlung umzusetzen. Allmählich bangt dem Leser bei seiner Lektüre davor, wohin all dies mit größter Konsequenz weitergesponnene Garn ihn noch führen wird.

Die Krimihandlung um Theo gleicht das wissenschaftliche Entdecken und die zwischenmenschliche Bewältigung der Neuerungen aus, so dass doch noch ein passabel gut lesbarer SF-Roman daraus wird. Aber der mittlere Teil ist hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Konzepte sehr anspruchsvoll. Es ist, als hätte der Autor zwei flotte Kurzgeschichten geschrieben und dann noch einen relativ theoretischen Mittelteil eingefügt.

Dies ist ideengetriebene Sciencefiction von hoher Qualität, wie sie sich Isaac Asimov nicht besser hätte wünschen können. Nur dass Asimov stets viel anspruchsloser und anschaulicher geschrieben hat. Die Romane „Calculating God“ und „Factoring Humanity“ fallen ebenso in die gleiche Kategorie wie „Flashforward“ und werden hoffentlich noch ihren Weg zu uns finden. Im |Heyne|-Programm bis Oktober 2008 tauchen sie leider nicht auf.

Taschenbuch: 432 Seiten
Originaltitel: Flashforward, 1999
Aus dem kanadischen Englisch von Hendrik P. und Marianne Linckens.
ISBN-13: 978-3453523708

www.heyne.de

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