Kit Whitfield – Wolfsspur

Man weiß nicht so recht, in welche Schublade man Kit Whitfield mit ihrem Debütroman „Wolfsspur“ stecken soll, so viele verschiedene Genres verschmilzt sie zu einer einzigen Geschichte. Grob trifft es wohl der Begriff „Urban Fantasy“, auch wenn eine solche Kategorisierung gleichermaßen etwas ganz anders verspricht, als man bei Kit Whitfield erwarten sollte.

Ganz der reißerischen Titelgrafik entsprechend, geht es um Werwölfe. Doch wer deswegen nun spannende, actiongeladene Fantasy mit Gruselfaktor erwartet, der ist falsch gepolt. „Wolfsspur“ weist eine immense Tiefe auf, die man hinter einem so billig aufgemachten Buchdeckel niemals erwarten würde. Fantasy, Thriller, Liebesgeschichte, düstere Utopie und Sozialdrama – all diese Elemente verwebt Whitfield zu einer eigenwilligen und faszinierenden Geschichte.

Whitfields Welt gleicht unserer Gegenwart, mit einem winzigen, aber nicht unerheblichen Unterschied: Neunzig Prozent der Bevölkerung verwandeln sich bei Vollmond in Werwölfe. Ganz normale Menschen durchlaufen in dieser einen Nacht eine Verwandlung, die dazu in der Lage ist, eine ganze ansonsten friedliche Gesellschaft ins Chaos zu stürzen. Dies zu verhindern, ist Aufgabe der restlichen verbliebenen „echten“ Menschen. Sie arbeiten für das Amt zur Ständigen Überwachung Lykanthropischer Aktivitäten, kurz ASÜLA genannt. Eine Aufgabe, für die sie zwangsverpflichtet werden.

In Vollmondnächten gehen sie auf „Hundefang“, d. h. sie suchen die Stadt nach streunenden Luneuren ab, die die Straßen unsicher machen. Niemand darf in solchen Nächten einfach so auf der Straße herumspazieren. Die Lykos, wie die Werwolfmenschen genannt werden, bleiben in solchen Nächten entweder gleich zu Hause oder suchen vor Mondaufgang einen Schutzraum auf. Die Non-Lykos von ASÜLA sorgen dafür, dass diese Bestimmungen eingehalten werden.

Auch Lola Galley arbeitet für ASÜLA und geht in den Vollmondnächten auf Streife. Sie untersucht Vorfälle, bei denen Luneure festgenommen werden, und muss aufklären, warum sie sich im Freien aufhielten bzw. ob ihr Aufenthalt im Freien bei Vollmond selbstverschuldet ist und sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden müssen.

Lolas Leben gerät aus den Fugen, als ihr Kollege Johnny Marcos tot aufgefunden wird. Lola will diesen Mord um jeden Preis aufklären und den Täter zu Strecke bringen. Etwa zur gleichen Zeit lernt sie den Sozialbetreuer Paul Kelsey kennt. Zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt sich Lola, die stets wie ein Einsiedler gelebt hat, in einen Lyko. Doch je weiter Lolas Ermittlungen fortschreiten, desto mehr gerät auch sie selbst in Gefahr und sieht sich am Ende mit einem unfassbaren Geheimnis konfrontiert …

Es ist schon eine faszinierende Welt, die Kit Whitfield in „Wolfsspur“ entwirft. Die Tatsache, dass sich neunzig Prozent der Bevölkerung bei Vollmond in Werwölfe verwandeln, bringt Probleme mit sich, die für eine zivilisierte Gesellschaft wie die unsere eine knallharte Herausforderung darstellen. Bei jedem Vollmond drohen Chaos und Anarchie und es liegt an den „Hundefängern“ von ASÜLA, genau dies zu verhindern. Die Tatsache, bewaffnet durch die Straßen zu patrouillieren, während der Rest der Bevölkerung die Kontrolle über sich selbst verliert, mag im ersten Moment Macht verheißen, trotzdem behandelt die Gesellschaft Lola und ihre Kollegen wie Aussätzige.

Als Non-Lyko auf die Welt zu kommen, zeichnet den Lebensweg von der Geburt an vor. Man kann nichts anderes erwarten als sein Leben lang für ASÜLA zu arbeiten, und das ist ein extrem gefährlicher und gleichermaßen wenig geschätzter Beruf. Invalidität und Todesfälle in Vollmondnächten sind nichts Ungewöhnliches, und dass man als „Glatthaut“ vom Rest der Gesellschaft ausgegrenzt und offen diskriminiert wird, gehört ebenso zur Tagesordnung.

Und so bietet das Leben für Lola wenig Hoffnungsschimmer. Der Lebensrhythmus wird bestimmt durch die Vollmondnächte und die Aufräumarbeiten danach. Ein Privatleben gesteht Lola sich da kaum zu. Freundschaften sind rar, der Kontakt zur Familie (allesamt Lykos) seit jeher nicht ganz unproblematisch. Kein Wunder also, dass „Wolfsspur“ ein Roman ist, der an sich schon eine düstere Grundstimmung hat, weil er ein Leben nachzeichnet, das durch die Zwangsverpflichtung durch ASÜLA dominiert wird, und die bringt eben wenig Positives mit sich.

Es gibt nur zwei kleine Hoffnungsschimmer in Lolas Leben. Der eine ist der kleine Leo, Sohn ihrer Lyko-Schwester Becca, mit dem Lola gerne viel Zeit verbringt. Mit Leo ist das Zusammenleben für Lola unkompliziert. Er weiß noch nichts von Lykos und Non-Lykos. Er hat keine Ahnung, was in Vollmondnächten in den städtischen Parks vor sich geht. Er sieht seiner Welt vorurteilsfrei entgegen, und so projiziert Lola alle ihre Zukunftshoffnungen in Leo.

Lolas zweiter Hoffnungsschimmer ist Paul. Paul, gänzlich unbeeindruckt von Lolas stetigen Versuchen, ihn zurückzuweisen, und ihn nicht an sich heranzulassen, erobert schließlich ihr Herz. Für Lola wird Paul die erste, große und wahrhaftige Liebe in ihrem Leben. Die Seiten, auf denen Lola und Paul zusammen durch den Alltag gehen, wirken erfrischend normal. Man mag vergessen, wie die Welt um die beiden herum aussieht, bis die Realität sie einholt, und mit dem Moment, wo es so weit ist, kippt die Stimmung des Romans zusehends in dunkle Tiefen ab.

Mit Lola baut Whitfield eine äußerst zwiespältige Figur auf. Innerlich zerrissen, seelisch verhärtet durch den ASÜLA-Alltag, ist Lola einerseits eine Figur, mit der man leidet, andererseits wird sie aber auch zunehmend zu einer Figur, die einem entgleitet, die einem fremd und fast schon unheimlich wird. Das ist zwar gewissermaßen faszinierend, macht es einem aber auch schwer, das Buch wirklich zu mögen. „Wolfspur“ ist zweifelsohne ein sehr guter Roman, der eben auch auf charakterlicher Ebene sehr ambivalent angelegt ist, das macht es aber gleichermaßen schwer, ihn ins Herz zu schließen und sich wirklich dafür zu begeistern.

Lola hinterlässt eben ein bedrückendes Gefühl, das auch mit dem Ende der Geschichte nicht verschwinden mag. Sie bemüht sich redlich, alles richtig zu machen, nach den richtigen moralisch Grundsätzen zu handeln und Opfer dafür zu bringen, dennoch bleibt ein düsterer Schatten auf ihrem Antlitz, der sie als Figur so schwer greifbar macht.

Der Plot an sich ist stimmig und komplex aufgebaut. Die losen Enden werden schlüssig zusammengefügt. Die Spannung kommt nicht zu kurz, und dennoch nimmt Whitfield sich reichlich Zeit für eine ausgedehnte Liebesgeschichte. Der Nervenkitzel und die Anspannung der ASÜLA-Leute in den Vollmondnächten sorgt in gleichem Maße für Spannung, wie Lolas Gedanken über die Gesellschaft und ihre Erinnerungen an ihre Kindheit im ASÜLA-Hort für eine erstaunliche Tiefe sorgen.

Es ist dieser Tiefgang, der „Wolfsspur“ besonders auszeichnet. Whitfield bringt in ihrem Roman so viele verschiedene Aspekte unter einen Hut, dass man nur staunen kann. Spannungssteigernde Thrillerelemente, ein fein dosierter Schuss Fantasy und eine nicht zu knapp bemessene, gefühlvolle Liebesgeschichte, dazu eine saftige Prise düsteres Sozialdrama – heraus kommt ein überaus gelungener und vielschichtiger Genremix.

Kurzum, Kit Whitfield hat mit „Wolfsspur“ ein beachtenswertes Debüt abgeliefert. Hinter dem reißerisch aufgemachten Buchdeckel verbirgt sich ein Roman von erstaunlicher Tiefe, der so faszinierend und spannend erzählt ist, dass man kaum die Finger davon lassen kann. Die Stimmung des Romans ist zwar außerordentlich düster und hoffnungslos, weshalb man das Buch sicherlich nicht so eng ins Herz schließt wie manche andere Lektüre, dennoch ist es eine erstaunliche Leseerfahrung. Freunden der „Urban Fantasy“, die offen für einen facettenreichen und durchaus tiefschürfenden Roman mit zwiespältigen, ambivalenten Figuren sind, sei „Wolfsspur“ ausdrücklich ans Herz gelegt.

Taschenbuch: 640 Seiten
Originaltitel: Bareback
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