Woodworth, Stephen – Flüstern der Toten, Das (Violet Eyes 1)

_Mystery-Thriller: Der Tod ist erst der Anfang_

Die Polizei nennt sie die „Violetten“, denn sie haben eine besondere Gabe: Sie können Mörder mit ihren violetten Augen erkennen. Und sie können mit den Toten sprechen. Weltweit gibt es nur noch etwa zweihundert von ihnen. Doch jetzt hat sich ein maskierter Mörder, den sie nicht erkennen können, zum Ziel gesetzt, alle auszulöschen. Das Medium Natalie Lindstrom unterstützt die Ermittlungen. Das FBI hat die Aufgabe, die letzten Überlebenden Tag und Nacht zu schützen. Ob das gelingt? Natalie gerät in Lebensgefahr.

_Der Autor_

Stephen Woodworth lebt in Kalifornien und schreibt seit Jahren für Magazine und Zeitschriften. 1999 besuchte er die Schriftstellerwerkstatt des Clarion West, in dem gestandene Science-Fiction-Autoren Erfahrungen weitergeben und die Erzeugnisse ihrer Schüler kritisch bewerten. Der Autor bedankt sich ausführlich im Nachwort für diese Schützenhilfe. Woodworth kommt also ursprünglich aus der SF-Ecke, doch mit dieser Schublade würde man seinem Werk Unrecht tun.

„Das Flüstern der Toten / Through violet eyes“ ist sein erster Roman, mit dem er in USA auf Anhieb Erfolg hatte. Der zweite Roman ist bereits in den USA erschienen und soll ebenfalls bei |Heyne| veröffentlicht werden.

_Hintergrund_

Man stelle sich eine Welt vor, die der unseren bis aufs Haar gleicht, nur mit einem winzigen, aber folgenreichen Unterschied: Die Toten existieren nicht irgendwo über den Wolken oder in einem Reich unter der Erde, sondern weiterhin um uns herum, nur eben unsichtbar. Aber, und das ist wichtig, sie verfügen über diverse Fähigkeiten und Eigenschaften, mit denen sie sowohl aufgespürt und kontaktiert werden können, mit denen sie aber auch einen entsprechend vorbelasteten Menschen geistig übernehmen können. Letztere Menschen sind die Violetten.

Die Violetten, so genannt wegen ihrer ungewöhnlichen Augenfarbe, sind Mutanten, die an einer speziellen Schule ausgebildet werden und offiziell in der „Nordamerikanischen Gesellschaft für Jenseitskommunikation“ (NAGJK) organisiert sind. Diese verfügt über eine straffe Führung, die die Dienste ihrer Mitglieder der Gesellschaft anbietet. Einer dieser Dienste besteht in der Ermittlung der Täterschaft bei Todesopfern, z. B. bei Mord …

_Handlung_

FBI-Agent Dan Atwater hat die Aufgabe übernommen, die Violette Natalie Lindstrom zu unterstützen, zu beschützen, aber auch zu überwachen. Mit ihrem kahl geschorenen Kopf sieht die junge Frau fast wie ein Alien aus. Heute trägt sie keine Perücke, aber heute ist ja auch ein besonderer Tag: Sie tritt in einem Gerichtssaal mit einem Mordopfer in Kontakt. Der ganze Vorgang, so eingespielt er auch sein mag, ist Dan unheimlich. Natalie nimmt sozusagen im Zeugenstand Platz, und die Elektroden des „SeelenScanners“ werden an die bezeichneten Kontaktpunkte auf ihrem kahlen Schädel angebracht. Sollte bei der Kontaktaufnahme etwas schief laufen, braucht nur jemand den Panikknopf zu drücken und die Sitzung wird elektrisch abgebrochen.

Angeklagt ist ein mexikanischer Arbeiter. Er soll seine Frau umgebracht haben. Doch Dan hat den Verdacht, dass der Mann etwas anderes vorhat, denn die Beweislage alleine würde bereits für eine Verurteilung reichen. Dann gibt man Natalie das „Kontaktobjekt“. Es muss immer etwas sein, das der Tote, der gerufen werden soll, getragen und berührt hat. Manchmal reicht aber auch schon eine längere Bekanntschaft, besonders unter Violetten, um den Kontakt herzustellen.

Dann passiert es, und es ist am Seelenscanner genau abzulesen. Die Tote übernimmt Natalies Geist und spricht mit ihrem Mund, agiert mit ihrem Leib. Wütend klagt die Frau ihren Mann an und droht, sie werde ihm niemals verzeihen, was er getan hat. Der Mann springt unvermittelt auf und wirft sich „Natalie“ zu Füßen, um Vergebung zu erflehen. Er wird zurückgehalten, während „Natalie“ immer noch unversöhnliche Flüche ausstößt. Jemand drückt den Panikknopf. „Natalie“ bricht in ihrem Sessel zusammen und schlägt die Augen auf, wieder sie selbst. Es ist vorüber.

Puh, stöhnt Dan innerlich. Ob das wohl jedes Mal so intensiv ist? Und ein kleiner Schauder läuft ihm über den Rücken, wenn er daran denkt, was wäre, wenn er selbst mit einem Toten in Kontakt geriete. Er hat nämlich quasi eine Leiche im Keller. Zusammen mit den Agenten Ross und Phillips hat er einmal einen unschuldigen Nachtwächter erschossen, weil sie seinen Schlüsselbund für eine Waffe hielten. Deshalb vermeidet Dan jeden Körperkontakt mit seinem Schützling Natalie, als er sie ins Hotel bringt. So wie man einen Blitzableiter möglichst nicht während eines Gewitters anfasst. Man ahnt bereits, dass Dan in engeren Kontakt mit Natalie treten wird, so oder so …

|Eine bedrohte Spezies|

Was die Öffentlichkeit noch nicht weiß: Violette wie Natalie sind eine bedrohte Spezies. Denn in den letzten Monaten sind bereits über ein halbes Dutzend von ihnen getötet worden. Das jüngste Opfer ist ein kleines Mädchen namens Laurie. Nach einer Warnung war Laurie von der NAGJK-Schule genommen worden, doch der Mörder hat sie trotzdem aufgespürt. Als Natalie Lauries toten Geist kontaktiert, erfährt sie, dass der Mann eine schwarze Maske trug und somit nicht zu identifizieren ist. Aber Laurie hat noch eine weitere Beobachtung gemacht: Da war ein junger Mann an ihrer Schule, der nicht zu den Schülern gehörte. Wer ist er?

Eines ist jedenfalls klar: Natalie und Dan müssen erstens die restlichen Violetten vor der drohenden Gefahr warnen und zweitens herausfinden, ob sich der Mann vielleicht unter ihnen befindet. Denn nicht jeder Violette ist ein Menschenfreund. Es gibt auch ein paar hochnäsige Leute darunter, die sich für etwas Besseres halten.

Als nacheinander zwei Freunde von Natalie trotz scharfer Bewachung bestialisch ermordet werden, ist Dan klar, dass Natalie, für die er immer mehr empfindet, in Lebensgefahr schwebt. Als er merkt, dass er und sie laufend beobachtet werden, schießt er den Fahrer des Wagens beinahe über den Haufen – so wie jenen Nachtwächter. Aber er kann sich beherrschen. Es ist nämlich ein Sensationsreporter. Am nächsten Tag kann Dan sein Konterfei und das von Natalie in dicken Schlagzeilen in der Zeitung lesen. Sein Chef zieht ihn von der Sache ab, bevor Dan noch mehr Schaden am Image des FBI anrichten kann.

Natalie muss sich in die Obhut des Sicherheitsdienstes der NAGJK begeben. Doch die Mordserie geht weiter, und so wird Dan wieder in den Mittelpunkt des Geschehens gerufen. Allmählich wird ihm das raffinierte Vorgehen des Mörders richtig unheimlich. Aber muss es sich nur um einen handeln? Als der Geist des letzten Opfers Natalie besucht, gelingt ihnen der Durchbruch. Aber es müssen noch viele Irrtümer beseitigt werden, bevor sie an den Richtigen geraten. Und der ist ganz und gar nicht das, was er zu sein scheint … Bloß gut, dass es einen Panikknopf gibt.

_Mein Eindruck_

Im Free-TV wird zur Zeit eine Serie namens „Ghost Whisperer“ gezeigt, in der Jennifer Love Hewitt eine medial begabte Frau spielt, die mit den Toten sprechen kann. Ihre Botschaften dienen häufig dazu, die Lebenden, die Hinterbliebenen zu trösten. Doch „Ghost Whisperer“ ist ein Kindergeburtstag im Vergleich zu „Das Flüstern der Toten“. (Wie viel die beiden Werke miteinander zu tun haben – falls überhaupt – hat sich mir noch nicht erschlossen.) Während es in der Mystery-Serie um sentimentalen Trost für die Lebenden geht, stellt das Buch einen immer härter werdenden Thriller erster Güte dar.

Der Thriller gehorcht den für das Genre üblichen Regeln, wie sie seit den Zeiten von Hammett und Chandler gelten. Überraschende Wendungen stellen die sich immer stärker entwickelnde Liebe zwischen dem FBI-Agenten und seinem ängstlichen Liebchen mit dem Psychoknacks gehörig auf die Probe. Doch anders als etwa Sam Spade ist Dan Atwater kein Mann, der über Leichen geht, ohne mit der Wimper zu zucken, sondern ein geschiedener Gatte, der einen unschuldigen Menschen erschossen hat: Er hat Vergangenheit, Tiefe und Verletzlichkeit. Es stellt sich heraus, dass die beiden sehr gut zueinander passen.

Die Schwierigkeiten, die sie immer von Neuem bewältigen, ergeben sich aus den seltsamen Bedingungen, unter denen die Violetten existieren. Das krasseste Erlebnis, das Natalie widerfahren kann, ist die widerwillige Übernahme durch einen fremden Geist. Dieser Tote hat meist keine sonderlich menschenfreundlichen Absichten, und so dürfte sich Natalie fühlen, als würde sie vergewaltigt.

Normalerweise schützen sich die Violetten gegen diese Übernahme durch ein persönliches Mantra, das sie ständig wiederholen, sei es nun das Einmaleins, ein Kinderreim oder der Psalm 23 („Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ etc). Und im Normalfall ist das Mantra nur dem Violetten selbst bekannt. Doch jemand aus der NAGJK-Schule kennt offenbar alle diese Schutzzauberformeln, setzt sie selbst ein und überwindet so den Widerstand des Geistes. Als Folge glaubt der Körper des Übernommenen, er sei noch vom korrekten Geist „besetzt“ – die Täuschung ist perfekt. Nun kann der Ursurpator mit dem Körper tun und lassen, was er willen. Auf diese Weise kann Natalie, die nie Autofahren gelernt hat, auf einmal einen Sportwagen steuern. Wie wehrt sich ihr noch vorhandener Geist gegen die Übernahme? Das ist einer der Momente, die die Geschichte so spannend machen.

Der arme Dan! Er kann nie hundertprozentig sicher sein, mit wem er es gerade zu tun hat. Einmal hat sich die sonst so verhuschte Natalie mit verführerische Pose auf ihn gestürzt – der Geist eines Toten, eines Mannes, hatte sie übernommen, um sich vor der Einsamkeit und Düsternis des Totenreichs mal eine Auszeit zu gönnen. Kann man ihm nicht verdenken, aber das Gefühl, von einer „männlichen“ Frau verführt zu werden, ist nicht unbedingt das, wonach Dan um Mitternacht der Sinn steht. Von da ab ist er sehr vorsichtig, was Natalies Identität angeht.

Der Autor hat sich die Aufgabe gestellt, ein relativ konventionelles Thrillergrundmodell in eine ziemlich originell erfundene Welt zu stellen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen durchzuspielen. Der Leser kann sich deshalb nicht auf seine Erfahrungen stützen, die er im Thrillerlesen erworben hat, sondern wird ständig mit überraschenden Wendungen konfrontiert. Aber so originell ist der Autor dann auch wieder nicht. Schließlich ist es ein fast übersehener Hinweis in einer völlig unwichtig erscheinenden Akte, die Dan den Heureka-Moment beschert. Das hätte ich auch so erwartet.

Wie dann die Auflösung des Falls vonstatten geht, ist dann doch wieder recht unkonventionell, denn der Held, unser braver Agent Dan, gibt unfreiwillig den Löffel ab. Doch in einer Welt der lebenden Toten ist auch sein Tod erst ein Anfang. Der „Anfang einer wunderbaren Freundschaft“, um noch einmal Bogart zu bemühen.

_Unterm Strich_

Mir hat das Lesen von „Das Flüstern der Toten“ viel Spaß und einige Aha-Momente bereitet. Trotz der Action-Einlage und des dramatischen Finales fehlen auch nicht der emotionale Tiefgang oder jene philosophischen Einblicke, für die der Autor lediglich das Stichwort liefert, die sich der Leser aber selbst erarbeiten muss. Der Autor hält sich weise zurück mit seinen Werturteilen, und nur in seltensten Fällen erlaubt er sich, durch seine Figuren eine Wertung abzugeben. Als einer der vielen Verdächtigen einmal den Wunsch äußert, die „völlige Kontrolle“ über das Violetten-Programm zu erhalten, kommt dieses Wort Dan Atwater vor wie ein „Pesthauch“.

Da das Buch hauptsächlich aus witzigen, intelligenten, mitunter dramatischen Dialogen besteht, lässt es sich sehr leicht lesen, ohne dabei an Tiefe zu verlieren. Anders als bei Bogarts Philip Marlowe wird dabei nicht auf One-liner abgestellt, die im Gedächtnis hängen bleiben, sondern es findet ein echter Austausch von Meinungen und Emotionen statt. In einem Drehbuch sähe dies sicherlich etwas anders aus.

Woodworth kombiniert das Thrillergenre, adaptiert es aber für seine Zwecke, wie es etwa sein Mentor Greg Bear (s. o.) in „Stimmen“ (Dead lines) und „Jäger“ (Vitals) getan hat, um damit sowohl eine spannende Handlung als auch interessante und anrührende Aussagen über die Natur des Todes und die Beziehung der Lebenden zu den Toten zu formulieren.

(Was ist zum Beispiel die verbrannte und zerbrochene E-Gitarre von Jimi Hendrix wert? Sieht erstmal nach Schrott aus, aber für ihre jetzige Besitzerin, eine Violette, ist sie ein Kontaktobjekt, über das sie theoretisch mit Hendrix kommunizieren könnte. Anders als mit Ludwig van oder Mozart lässt sich jedoch Jimi nicht herbei, die Welt der Lebenden noch einmal zu besuchen. Da kommt mir „Purple Haze“ in den Sinn: „Excuse me while I kiss the sky – is this tomorrow or just the end of time?“.)

Wer mit klassischem Thriller und moderner Mystery im Doppelpack etwas anfangen kann, ist bei Flüstern der Toten“ genau richtig.

|Originaltitel: Through violet eyes, 2004
384 Seiten
Aus dem US-Englischen von Helmut Gerstfelder|
http://www.heyne.de