Karen Haber (Hrsg.) – Tolkiens Zauber. Anthologie

Folgenreiche und amüsante Tolkien-Begegnungen

Tolkiens „Hobbit“ oder „Herr der Ringe“ zu lesen, verändert den Leser unwiderruflich. Das zumindest ist der Tenor der „Bekenntnisse“, die in diesem Buch zusammengefasst sind. Vielleicht kann der eine oder andere Leser – ich zum Beispiel – diesem Eindruck beipflichten.

Die Herausgeberin

Karen Haber ist die Frau eines der wichtigsten und bekanntesten Science-Fiction-Autoren, von Robert Silverberg. Sie selbst ist ebenfalls Autorin und hat schon mehrere Anthologien herausgegeben. Jeder Beiträger der Anthologie wird mit einem kurzen Überblick über sein Werk vorgestellt. Bei den „guten“ Autoren finden sich mitunter ellenlange Listen der Preise und Auszeichnungen, die ihnen verliehen wurden (meist amerikanische Nebulas und HUGOs). Man kann wohl mit Fug und Recht sagen, dass Ursula K. Le Guin die „höchstdekorierte“ Beiträgerin ist.

Inhalte

Das persönliche Erlebnis

Ausschließlich englische, amerikanische und kanadische Autorinnen und Autoren erzählen in den hier zusammengefassten Texten von ihrer ersten prägenden Erfahrung mit Tolkiens Werk und Welt. Kein Wunder, dass die Mehrzahl dieser Autoren heute Fantasy schreibt (auch wenn manche dieser Autoren bei uns kaum verlegt werden, wie etwa Charles de Lint).

Diese Erlebnisse (und ihre Berichte) lassen sich leicht in zwei Kategorien einteilen: erschütternd und erheiternd. Keinen Leser hat „Der Herr der Ringe“ unberührt gelassen – schon klar. Aber so mancher Autor weiß auch überaus bewegend davon zu erzählen. Dazu gehören die Beiträge von Michael Swanwick („Die Tochter des stählernen Drachen“) und Robin Hobb („Die Legende vom Weitseher“). Sie sind beide bereits Eltern und lesen ihren Kindern Tolkien vor. Das erinnert sie an ihre eigene „Begegnung der 3. Art“ mit Tolkien und wie sie sie veränderte.

Zu den lustigeren Bereichten gehört auch der von Harry Turtledove. Bei ihm führte der Tolkien-Encounter dazu, dass er a) vom College flog und b) dass er Alternativwelten erfand, so etwa über Byzanz (er ist Historiker) oder den Zweiten Weltkrieg.

Auch bei Esther Friesner, einer Spezialistin für humorvoll-parodistische Fantasy, hat der Tolkien-Encounter bleibende Spuren hinterlassen. Sie machte sich als Teenager schwere Sorgen, ob die Jungs sie noch mögen würden, wenn sie als „Brillenschlange“ ihre Nase in solche Bücher stecken würde. Natürlich interessierte sich danach kaum noch einer für sie …

Nicht fehlen darf in dieser Reihe natürlich Terry Pratchett. Sein Beitrag „Der Kultklassiker“ bringt die hämischen Anwürfe der Kritik an Tolkien und seinen Lesern auf den Punkt: HdR sei kein Klassiker, aber Kult, und deshalb nicht ernst zu nehmen. (Natürlich bringt das Pratchett viel ausführlicher zum Ausdruck.)

Die kritische Beschäftigung

In der Anthologie, die von Karen Haber sorgfältig ediert wurde und bereits vor dem 1. Teil des „Herr der Ringe“-Films erschien, sind aber auch mehrere Texte abgedruckt, die man eher im Umfeld der kritisch-wissenschaftlichen Beschäftigung mit Tolkien, dem Autor, und seinem einflussreichen Werk erwarten würde.

Die Publikation der Tolkien-Romane führte ab 1965 in den USA zu einer literarischen Revolution in jeder Hinsicht, deren Folgen wir heute kaum noch abschätzen können, so umfangreich ist sie. Nachdem die Ballantine-Taschenbuchausgabe erschien, verkaufte sich „Der Herr der Ringe“ über eine Million mal. Die Verleger hatten Mühe, die Nachfrage nach ähnlich süchtig machendem Lesestoff zu befriedigen. Ausgrabungen erfolgten ebenso wie Imitationen (Terry Brooks, Raymond Feist usw.). Plötzlich entstand der Begriff „Fantasy“ für ein Genre, das den erfolgreichen, etablierten Genres Krimi, Romanze und Science-Fiction den Rang ablief. Und es bis heute noch tut.

Diesen Urknall und seine Folgen für Leser wie Kritik beschreiben Karen haber, George R. R. Martin, Raymond Feist und schließlich, als kompetentester Vertreter, Douglas A. Anderson. Dieser Herausgeber und Texteditor von Tolkienausgaben macht uns mit den Hintergründen der Entstehung der Tolkienwerke selbst vertraut. Er geht auch auf die Kritik an Tolkien ein und äußert sich skeptisch gegenüber dem Rummel, der um die Filmtrilogie herum zu erwarten sei (und der auch eingetreten ist).

Ganz anders hingegen die graue Eminenz der Fantasyliteraturkritik, Ursula K. Le Guin. Die Professorin (selbst die Tochter eines Profs) beschäftigt sich intensiv mit „Rhythmischen Strukturen im ‚Herrn der Ringe'“. Was zunächst etwas trocken und höchst akademisch klingt, erweist sich als durchaus aufschlussreich, um Tolkien quasi über die Schulter zu schauen.

Sie hat polare Gegensatzpaare wie etwa Mut/Feigheit oder Vergessen/Erinnerung usw.) aufgespürt und herausgefunden, wie diese in der Erzählung selbst wirkungsvoll angewandt und abwechslungsreich kombiniert werden. Schlüsselszene ist für sie das Abenteuer an den Grabhügeln, bevor die vier Hobbits nach Bree gelangen (nicht im Jackson-Film). Frodo setzt den Einen Ring nicht ein, kann sich aber dennoch vor dem Grabwicht retten.

Ein weiterer wichtiger Beitrag – der letzte des Buches – beschäftigt sich mit der Rolle des Märchens, und zwar sowohl für Tolkien und sein Werk als auch für seine Leserin: Terri Windling rettete die Lektüre von Tolkiens Vortrag „Über Märchen“ praktisch das Leben. Sie fand den Mut, ihr gewalttätiges Proletarierzuhause zu verlassen und in die „große, weite Welt hinaus“ zu gehen. Heute ist sie zusammen mit Jane Yolen und Ellen Datlow eine der führenden Märchenexpertinnen der englischsprachigen Welt.

Die Illustrationen

Der (neben Alan Lee) maßgebliche Konzeptdesigner des Jackson-Films ist John Howe. Er entwarf das Erscheinungsbild Gandalfs im Film. Gandalf Mithrandir ziert auch das Titelbild des Buches (seltsam: sein Gewand hat vier Ärmel!). Das ganze Buch hindurch sind schwarzweiße Strichzeichnungen zu finden. Es dürften rund zwei Dutzend sein. Die Motive stammen aus dem „Hobbit“, mehr noch aber aus dem „Herr der Ringe“. Ich habe kaum eine davon irgendwo anders abgedruckt gesehen; es lohnt sich also, hier zugreifen. Alle Zeichnungen sind ihrer entsprechenden Textstelle zugewiesen. Das nenne ich solide Arbeit!

Zu gerne hätte ich eine Illustration von den Gebrüdern Hildebrandt abgedruckt gesehen. Ein Interview mit ihnen ist hier wiedergegeben. Deren Tolkien-Illustrationen in Kalendern u. ä. führten Mitte der 70er Jahre zur zweiten Welle der Tolkien-Begeisterung, wie sie erzählen. Ihr vierter Tolkien-Kalender habe sich über eine Million mal verkauft, und viele Fans hätten ihnen geschrieben, erst durch diese Bilder hätten sie von Tolkiens Werk erfahren. Den Tolkien Calendar gibt es bis heute.

Mein Eindruck

Ich kenne keine andere Anthologie über Tolkiens Werk, die sich so lesernah und bewusst unakademisch mit so vielen Aspekten des Themas auseinandersetzt. Die meisten Beiträge sind recht persönlich und lebendig erzählt – das ist zuweilen richtig spannend und witzig zu verfolgen. Daher habe ich die Beiträge innerhalb von zwei Tagen verschlungen. Als Literaturwissenschaftler konnte ich auch den akademischeren Beiträgen etwas abgewinnen (wenn Prof. le Guin etwas über antike Versmaße erzählt, geht bei mir nicht die Klappe runter – im Gegenteil!).

Die Autorendarstellungen liefern noch interessante Details. Über George R. R. Martin etwa erfahren wir, dass er am vierten Band seines „Feuer und Eis“-Zyklus mit dem Titel „A Dance of Dragons“ arbeitet. (Stand 2002 natürlich)

Manche Illustrationen haben es mir besonders angetan, so etwa der Dunkle Turm oder der Púkelmensch. Das Porträt von Eowyn schließlich ist einfach umwerfend: die Walküre schlechthin!

Die Übersetzung

Es gibt zum Glück kaum irgendwelche Schreibfehler, dafür aber einen verblüffenden Gebrauch des Wortes „Plot“. Hier heißt es nicht „der Plot“, wie man hierzulande sagt, sondern „das Plot“. Vermutlich ist das sogar korrekt – das müsste man mal nachschlagen.

Etwas mehr hätte ich gegen den Gebrauch des deutschen Begriffs „Romanze“ einzuwenden, mit dem hier das englische Wort „romance“ eins-zu-eins übertragen wird. Das haut aber nicht hin: „romance“, im Gegensatz zur realistischen „novel“, ist eine Abenteuergeschichte. So nennt z. B. H. G. Wells seine Story „Die Zeitmaschine“ nicht etwa Roman (= novel), sondern „a scientific romance“: eine wissenschaftliche Abenteuergeschichte. Der „Herr der Ringe“ ist ebenfalls kein Roman, sondern, wie Tolkien selbst sagte, eine „heroic romance“ – ganz recht, Prof! „Romanzen“ heißen bei uns aber die Elaborate, die in Groschenromane à la Julia verbreitet werden.

Unterm Strich

Was trägt der Leser nach Hause? Die meisten Beiträge haben Tolkien in die vielgestaltige Welt der Fantasy einsortiert und ihn ordentlich unter die Lupe genommen. Natürlich gibt es tiefschürfendere Werke dazu, so etwa Tom Shippeys Buch „JRR Tolkien. Autor des Jahrhunderts“ (Klett-Cotta, 2002). Aber die können mitunter ermüdend und anstrengend sein und erfordern weiter gehende Kenntnisse.

Die vorliegenden Beiträge erfordern hingegen in der Mehrzahl praktisch kein Vorwissen. Man liest einfach drauflos, und nach 270 Seiten weiß man a) wesentlich mehr und hat b) einen gewaltigen Lesehunger auf die eigentlichen Erzählwerke entwickelt.

Die Illustrationen machen das Buch zu einem Sammlerstück, die Beiträge bilden einen lebendigen Kritikfundus, zu dem man als Tolkienfan gerne immer wieder zurückkehren mag. Und solche Bücher werden wohl an keiner Uni der Welt mehr hergestellt.

Taschenbuch: 272 Seiten
Originaltitel: Meditations on Middle-Earth, 2001
ISBN-13: 978-3492285889

hhttp://www.piper.de

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