Edwardson, Åke/Ake – Segel aus Stein (Hörbuch)

_Im Macbeth-Land: Seestück für Geduldige_

Anonyme Briefe aus Schottland, ein verschwundener Mann und die Schatten der Vergangenheit: Als Kommissar Erik Winter sich auf die Suche nach dem Vater seiner Jugendliebe Johanna Osvald macht, ahnt er noch nicht, worauf er sich einlässt. Axel Osvald ist nach Schottland gereist, um das Rätsel um das Verschwinden seines Vaters John zu lösen. John, ein einfacher Fischer, gilt seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen. Doch auch Axel kehrt nicht zurück. Winter reist in die schottischen Highlands, und es wird eine Reise in die Abgründe der menschlichen Seele …

_Der Autor_

Åke Edwardson, Jahrgang 1953, lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Göteborg. Bevor er sich dem Schreiben von Romanen widmete, arbeitete er als erfolgreicher Journalist u. a. im Auftrag der UNO im Nahen Osten, schrieb Sachbücher und unterrichtete an der Uni Göteborg „Creative Writing“. Er schrieb bislang zwölf Kriminalromane; zuletzt erschienen auf Deutsch „Segel aus Stein“ und [„Zimmer Nr. 10“ 2792 sowie „Rotes Meer“.

_Der Sprecher_

Boris Aljinovic, geboren 1967 in Berlin, war nach dem Schauspielstudium an der Hochschule „Ernst Busch“ am Berliner Renaissance-Theater und am Staatstheater Schwerin engagiert. Es folgten zahlreiche Rollen in Film und Fernsehen, so etwa 1999 in „Drei Chinesen mit dem Kontrabaß“ und 2004 in Otto Waalkes‘ Filmerfolg „Sieben Zwerge – Männer allein im Wald“. Seit 2001 spielt er den Kommissar Felix Stark an der Seiten von Dominic Raacke im Berliner „Tatort“. Der Schauspieler lebt in Berlin. Er liest eine gekürzte Fassung.

Regie führte Gabriele Kreis im |studio-wort|, Berlin Juni 2008.

_Handlung_

Ein alter Mann, den wir als schließlich als John Osvald kennenlernen, verbringt seine Tage in einem kleinen Fischerort an der schottischen Ostküste. Er lebt in einem abgelegenen Haus, geht täglich ins Pub, schaut sich die Gegend an, als warte er auf etwas. Doch in seiner Jackentasche steckt eine Pistole. Unentwegt fleht er bei sich: „Jesus, save my soul.“ Er ahnt, dass das Ende nah ist.

|Göteborg|

Der schreckliche G8-Gipfel in Göteborg ist vorüber, und so hat Kommissar Winter endlich wieder Zeit für seine Familie. Er fährt mit seiner Frau Angela und der vierjährigen Tochter Elsa an die Küste, wo sie sich ein Baugrundstück kaufen wollen. Aber im Polizeipräsidium wartet wieder Arbeit auf ihn. Johanna Osvald, um die vierzig wie er selbst, hat ein Anliegen. Sie war mal seine Jugendliebe in einem sehr schönen Sommer. Er kann ihr ihren Wunsch also nicht abschlagen.

Sie berichtet, dass ihr Großvater John Osvald im II. Weltkrieg als Fischer sein Auskommen in Schottland suchte, doch auf einer Fahrt anno 1940 sank sein Schiff. Man hielt ihn für tot. Aber vor zwei Wochen hat sie einen Brief aus Inverness in Schottland erhalten. Winter liest: „Things are not what they look like. John Osvald is not what he seems to be.“ Ein Absender fehlt. Vor zehn Tagen sei ihr Vater Axel Osvald nach Inverness gereist, um Nachforschungen anzustellen, doch seit vier Tagen habe sie keine Nachricht mehr von ihm. Sie befürchtet, dass ihrem Vater ein Unglück geschehen ist.

Winter ruft seinen Kollegen Steve MacDonald in London an. Der ist Schotte, ausgerechnet aus Inverness. MacDonald ruft seinen Kollegen Craig in Inverness an. Winter hat noch keinen Plan, aber er könnte sich vorstellen, zusammen mit MacDonald in Inverness nach den Osvalds zu suchen. Als Stützpunkt könnten sie Steves Schwester Eilidh, eine Juristin, nutzen. Doch zunächst besucht er Johanna und ihren fischenden Bruder Erik auf der Insel Donsö. Dort erfährt er einiges über das, woran Fischer und Seeleute glauben, wenn sie auf dem Meer sind. Wichtiger ist jedoch, was er über John Osvald und dessen Mannschaft im II. Weltkrieg erfährt. Möglicherweise umgibt den Untergang von Johns Schiff ein größeres Geheimnis, als man bislang dachte.

|Auf den Schären|

Es gab zwei Überlebende in Johns Mannschaft, die vom Untergang verschont wurden: Bertil Osvald ist schon tot, aber der alte Arne Algotson lebt noch, mit seiner Schwester Ella. Von ihm erfährt Winter, wo er am besten mit der Suche anfangen sollte: in Frazierburgh, nicht in Aberdeen oder Peterhead. Dort sei John Osvald oft an Land gegangen. Frans Karlsson, einer der Ertrunkenen, war Ellas Verlobter. Das Schiff wurde nie gefunden. Aber warum fuhren Arne und Bertil auf jener letzten Fahrt nicht mit? Diese Frage bleibt unbeantwortet, denn der alte Arne leidet unter Altersdemenz und singt statt einer Antwort nur „Bucky boys are back in town“. Er nennt leise einen Namen: Cullen. Winter findet den Ortsnamen im Atlas. Es ist morgens um vier Uhr dreißig.

Interpol ruft an. Es ist Kommissar Graig aus Inverness. Man hat Axel Osvald tot an einem See im Hochland gefunden. Er war nackt, seine Kleider waren über mehrere Meilen verstreut, wahrscheinlich starb er an einem Herzinfarkt durch Unterkühlung. Offenbar war er geistig verwirrt in Fort Augustus am Loch Ness aufgetaucht und habe Touristen angesprochen. Johanna fliegt sofort hin, um ihn zu identifizieren und nach Schweden zu bringen. Auch Graig sagte: „Things are not the way they look like.“ Wie in dem Brief des Unbekannten.

|Schottland|

Als Winter seine Frau fragt, ob sie sich eine Woche Urlaub in Schottland vorstellen könne, ist die ziemlich erstaunt. Winter schlägt vor, die kleine Elsa bei seiner Schwester Lotte unterzubringen, denn die lebe jetzt ganz allein. Angela kommt also mit nach Inverness. Dort treffen sie Steve MacDonald und dessen Frau Sarah. Während sich die Frauen die schönen Highlands und die Stadt Edinburgh ansehen, setzen sich die beiden Kriminaler auf die Fährte von Axel und John Osvald.

Der alte Mann geht wie immer täglich in den Pub, trinkt Bier und Whisky, schaut die Kellnerin an, die Touristen – Kontrollblicke. Dann fallen ihm die zwei Männer auf, die ebenfalls Kontrollblicke schweifen lassen. Er packt die Pistole in seiner Jackentasche fester …

_Mein Eindruck_

Wenn man Krimis mit Begriffen aus der Malerei bezeichnen dürfte, so würde ich diesem Buch das Etikett „Seestück“ aufkleben. Das Meer und seine Nutzer spielen eine zentrale Rolle: Es trennt und verbindet, es nährt und vernichtet. Die Geschichte besteht daher wie das marine Wetter fast nur aus Stimmungen, kaum aus Handlungen und Dialogen. Diese Stimmungen sind jedoch mit der Last der Vergangenheit aufgeladen, mit einer großen Schuld, die auf den Tätern und den Überlebenden lastet. Wer weiß, wie weit diese Schuld noch verteilt ist. Am Schluss müssen sich diese Spannungen jedoch entladen. Niemand ahnt, wen die gewaltsame Entladung treffen wird. (Und ich werde mich hüten, dies zu verraten.)

Kommissar Winter ahnt nicht, worauf er sich einlässt, als er seiner Jugendliebe hilft, ihren Vater und Großvater zu finden. Er muss sich auf das völlig Fremde einlassen, erst auf das Meer und seine Tücken und Bewohner, dann auf das fremde Land, das er nur von einer Studentenreise kennt. Noch unheimlicher ist jedoch die Vergangenheit, auf die er mit Steve stößt. Schmuggler trieben und treiben an der schottischen Küste ihr Unwesen, und im Krieg beförderten sie auch Waffen. Aber nicht etwa für die regulären Streitkräfte, sondern mitunter für schottische Widerstandsgruppen, die gegen die Engländer kämpften. Ein höchst riskantes Geschäft, auf das sich auch die Schweden um John Osvald einließen.

Während Winter und MacDonald in Schottland dem Krümelpfad der Hinweise folgen, machen sie sich – und nicht zuletzt uns – vertraut mit dem Land und seinen Bewohnern. Die Highlands – da gibt es guten Whisky, und an der See, da gibt es leckere Seafood-Gerichte, unter anderem Cullen Skink, eine Fischsuppe. Wie mit allen Dingen sind auch damit Schicksale verbunden. Winter denkt wiederholt an Shakespeares „Macbeth“, an Orten wie Cawdor und Macduff kommt er sogar vorbei. Ist John Osvald so etwas wie Banquos Geist, der seinem Sohn Axel nachging und das Leben aussaugte?

Manche Schicksale sind auf Fotos aus der Vergangenheit dokumentiert, viele nicht. Eines dieser Fotos aus dem Jahr 1945 oder 46 zeigt John Osvald im Profil. Und zum Glück erinnert sich Winters Unterbewusstsein an dieses Foto, bevor sie das Land wieder verlassen. Dieses Tor zur Vergangenheit gewährt Zutritt zum Finale.

|Der Sprecher|

Dass Boris Aljinovic einen „Tatort“-Kommissar spielt, gereicht ihm in vielerlei Hinsicht zum Vorteil. Die Aufgabe, die verschiedenen Figuren stimmlich und sprachlich auf erkennbare Weise zu charakterisieren, bewältigt der Sprecher mit Bravour – ohne sich jedoch zu Karikaturen hinreißen zu lassen. Ich bewundere, wie es ihm gelingt, die einzelnen Figuren auseinanderzuhalten und stets die gleiche Ausdrucksweise für die jeweilige Figur zu finden.

Winter hat stets die gleiche tiefe, ruhige Stimme und langsame Ausdrucksweise, doch in der Ruhe liegt die Kraft. Steve MacDonald ist im Vergleich dazu etwas lebhafter. Man kann sich leicht vorstellen, dass Winter mit MacDonald und Graig englisch spricht. Der Sprecher hat mit Englisch überhaupt kein Problem. Er kann sogar Englisch mit schottischem Akzent sprechen.

Die Frauen haben stets die gleiche höhere Stimmlage, so dass man sie leicht von den männlichen Figuren unterscheiden kann. Und die Alten, von denen es natürlich im Rahmen der Vergangenheitsbewältigung eine Menge gibt, treten stets mit einem gewissen Krächzen auf – tief bei einem Mann, höher bei einer Frau.

Womit sich der Hörer als Erstes auseinandersetzen muss, ist jedoch die ruhige Sprechweise, die Aljinovic dem Erzähler gegeben hat. Auch der Erzähler ist so nordisch ruhig und langsam wie Erik Winter. Das zwingt den Hörer dazu, ebenfalls Geduld zu haben und sich in die Stimmung einzufühlen. Oder er lässt es frustriert bleiben und wählt ein anderes Hörbuch.

_Unterm Strich_

Dieses Buch unterscheidet sich deutlich von anderen Edwardson-Romanen wie etwa dem ausgezeichneten [„Rotes Meer“ 5192 oder „Zimmer Nr. 10“. Es ist sehr langsam, bietet keinerlei Action außer im Finale und verlässt sich stark auf Stimmungen. Wer nun neugierig darauf wartet, was sich denn an Bord der „Marino“, John Osvalds Schiff, vor ihrem Untergang zugetragen hat, der wird a) wenig erfahren und ist b) sowieso auf dem Holzweg.

Denn es geht ja nicht um Aufklärung des Untergangs, sondern um die des Todes von Axel Osvald und aller Rätsel, die damit zusammenhängen. Wer war beispielsweise der Absender jenes Briefes an Johanna, der Axels Reise ausgelöst hat? Wenigstens dies kann Winter herausfinden – mit einer faustdicken Überraschung. Nichts ist ja, wie es zu sein scheint. Und dieser Zustand muss beendet werden, um die Lebenslüge John Osvalds zu einem Ende zu bringen, auf welche Weise auch immer. Dies bedeutet auch die Bewältigung des Krieges und seiner Nachgeschichte. Deshalb endet die Geschichte auf einer heiteren Note, die hoffen lässt.

|Das Hörbuch|

Stimmungen sind in einem Hörbuch leider schwer herzustellen. Darüber sollte sich der Hörer im Klaren sein und nicht etwa auf signifikante Schritte einer Ermittlung hoffen, wie man sie von Arne Dahls A-Gruppe kennt. Vielmehr fühlt sich Erik Winter erst in die Familie Osvald ein und dann in die schottische Umgebung und Kultur. Das ist ein langsamer Prozess, der sich hinzieht. Vielleicht ist das Hörbuch deshalb weniger für ungeduldige Zuhörer geeignet als für Leute, die Zeit mitbringen. Ja, die es sich sogar zweimal anhören würden. Auch die „Entdeckung der Langsamkeit“ will geübt sein.

Sie ist mir leider nicht gelungen, sondern ich bin fast dabei eingeschlafen. Immerhin ist die letzte CD die ereignisreichste, und man sollte dabei genau hinhören, was vor sich geht.

|Originaltitel: Segel av sten, 2002
Aus dem Schwedischen übersetzt von Angelika Kutsch
403 Minuten auf 6 CDs
ISBN-13: 978-3-89903-418-9|
http://www.hoerbuch-hamburg.de
http://www.akeedwardson.se

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