Jordan, Sherryl – Avala – Die Zeit des Adlers

Seit Avala denken kann, ist ihr Stamm auf der Flucht vor den Soldaten des Kaiserreichs Navora. Das Einzige, was die Menschen der Shinali aufrechthält, ist ihr unerschütterliches Vertrauen in eine alte Prophezeiung, die die Zeit des Adlers vorhersagt. Eine Zeit, in der sich die bisher verfeindeten Stämme der Igaal und der Hena mit den Shinali versöhnen werden, um gemeinsam das verlorene Land für die Shinali zurückzugewinnen. Als Avala an ihrem sechzehnten Geburtstag ihr Erwachsenwerden feiert, eröffnet ihr der Stammespriester, dass sie dazu bestimmt ist, die prophezeite Einheit zwischen den Stämmen der Steppe herbeizuführen!

Avala scheut vor diesem Gedanken zurück. Denn die Einigung der Stämme und die Forderung nach der Rückgabe ihrer alten Weidegründe bedeutet Krieg gegen Navora. Avala aber ist Heilerin, und der Gedanke, Schmerzen zuzufügen anstatt zu lindern, ist ihr ein Gräuel. Sollte sie sich jedoch der Prophezeiung verweigern, bedeutet das den Untergang für ihr eigenes Volk und auch für das der Hena und Igaal … Avala muss sich entscheiden!

Sherryl Jordan hat ihre Geschichte in der Ich-Form erzählt und in vier Teile gegliedert, von denen der letzte im Vergleich recht kurz ausgefallen ist und deshalb eher einem langen Epilog gleicht als einem eigenständigen Erzählteil. Der erste Abschnitt berichtet von Avalas Herkunft und ihren ersten Bemühungen bei den Igaal, der zweite von ihrem Aufenthalt in Ravinath, der dritte von ihrer Rückkehr zu den Igaal und dem Aufstand.

Avala steht – schon aufgrund der gewählten Erzählform unvermeidlich – im Zentrum der Ereignisse. Sie ist bereits mit einem gewissen Erwartungsdruck aufgewachsen, das liegt an ihrer ungewöhnlichen Herkunft. Ihr Vater war ein navoranischer Heiler, der sich um der Shinali – und einiger anderer Missstände – willen mit seinem Kaiser überworfen und dafür mit dem Leben bezahlt hat. Von ihm hat Avala nicht nur ihre Gabe des Heilens, sondern auch gewisse seherische Fähigkeiten geerbt. Allerdings sind ihre Gaben zunächst nur grob geschult. Sie ist noch jung und trotz ihres guten Willens und ihrer Begabung nicht gegen Rückschläge und Enttäuschungen gefeit. Größere Sicherheit gewinnt sie erst, als ihre Fähigkeiten in Ravinath gezielt ausgebildet werden. Rhetorik gehört allerdings nicht dazu; Avala beeindruckt ihre Umgebung vor allem durch ihre schonungslose Ehrlichkeit.

Mudiwar, der Häuptling der Igaal, ist trotz allem ein harter Brocken, an dem Avala sich beinahe die Zähne ausbeißt. Er glaubt, wenn er sich dem Kampf gemäß der Prophezeiung anschließt, wird er sein Volk unnötig in Gefahr bringen. Vor der Tatsache, dass sein Volk längst massiv unter den Angriffen und Sklavenjagden der kaiserlichen Soldaten zu leiden hat, verschließt er die Augen. Diesem Dickschädel hat die junge, unerfahrene Avala nicht viel entgegenzusetzen, erst der gereiften und selbstbewussten Avala gelingt es, mit ihm fertigzuwerden.

Der eigentliche Bösewicht der Geschichte, Kaiser Jaganath, gehörte einst zu den weisen Männern, die Avala ausgebildet haben. Er kann ungeheuer echte Illusionen erschaffen, so echt, dass die Menschen, die in diese Illusionen hineingeraten, sogar daran sterben können, allein weil sie glauben, die Trugbilder seien echt. Das scheint aber seine einzige Fähigkeit zu sein, denn außer ihr und einer lügnerischen Zunge setzt er keinerlei Waffen gegen Avala ein. Letztlich besiegt Avala ihn quasi mit einem Fingerschnippen, einem einfachen, aber in seiner Wirkung brillanten medizinischen Kniff.

Die Methode war in der Tat so hervorragend einfach, dass ich mich fragte, warum Avala sich zuvor überhaupt Jaganaths Sermon angehört hat! Selbst der Dramaturgie hat dieses Zögern nicht gedient, denn die Zeit, die Jaganath dadurch gewinnt, vertut er wie gesagt mit wirkungslosen Tricks und Lügen. Das Duell zwischen den beiden, das der Höhepunkt der gesamten Handlung hätte sein können und sollen, ragt in keiner Weise aus dem übrigen Geschehen heraus.

Spannung ist ohnehin etwas, das dem Buch fehlt. Zwar sind Avalas erste Bemühungen erfolglos, da sie aber nicht unter Zeitdruck steht, wirkt sich dieser Aspekt nicht auf den Spannungsbogen aus. Dasselbe gilt für die Ausbildung in Ravinath, die sich um ein halbes Jahr verzögert. Erst, als Avala Mudiwar überzeugt hat, sich dem Aufstand anzuschließen, kommt die Sache in Fahrt. Dann aber läuft alles so reibungslos und glatt, dass der Leser, anstatt mitzufiebern, sich mit einem trägen Lächeln zurücklehnt und gelangweilt zuschaut, wie alles unausweichlich ins Happy-End mündet.

Nun ist ein Happy-End ja nicht unbedingt etwas Schlechtes. In diesem Fall jedoch erfüllt es sämtliche Klischees, die Hollywood zu bieten hat.
Außer einem bisschen Neid dreier Gleichaltriger Avala gegenüber scheint es bei den Shinali keinerlei Konflikte zu geben, und selbst davon ist bei Avalas Rückkehr zu ihrem Volk nichts mehr zu spüren. Alle haben sich ach so lieb.

Ähnliches gilt für die Meister, die Avala in Ravinath unterrichteten. Alle sind sie unendlich gütig, weise und liebevoll. Im schlimmsten Fall sind sie traurig oder bekümmert. Keiner von ihnen zeigt jemals Regungen wie Zorn oder auch nur Bitterkeit angesichts der Tatsache, dass sie sich bereits seit siebzehn Jahren vor dem Kaiser verstecken müssen. Auch hier gibt es keinerlei Konflikte.

Das alles wird noch übertrumpft von dem, was nach der Rede eines Meisters auf dem großen Platz der navoranischen Hauptstadt geschieht. Tatsächlich fallen sich da – nicht einmal eine Woche nach den Kämpfen! – alle Angehörigen der vier bis dahin verfeindeten Völker in einem großen Akt der Vergebung gegenseitig um den Hals. Selbst wenn man berücksichtigt, dass der Kaiser bei seinem Volk höchst unbeliebt war und ein Teil seiner Anhänger nach der Niederlage geflohen ist, ist das unglaubwürdig. Immerhin wurden im Zuge des Umsturzes auch sämtliche Sklaven befreit. Irgendwo muss es einfach so etwas wie Unzufriedenheit oder Gemurre gegeben haben. Und in einem Heer von zwanzigtausend Steppenkriegern und vor allem unter den Sklaven muss es einfach ein paar gegeben haben, deren Hass auf die Navoraner zu groß war, um einfach so in der Versenkung zu verschwinden.

Dazu kommt, dass die Geschichte in einer ziemlich schmalzigen Art geschrieben ist. Das gilt vor allem für den Abschnitt über Ravinath. Ständig geht es darum, wie liebevoll und gütig ihre Familie, ihre Freunde, die Meister sind, wie behütet und geliebt Avala sich fühlt, wie sie ständig gesegnet, liebevoll berührt und umarmt wird. Selbst auf dem Weg durch die unterirdischen Tunnel des Kaiserpalastes fühlt Avala sich von einer liebevollen Gegenwart geführt, mit der wohl ihr verstorbener Vater gemeint ist. Selbst im Hinblick auf Avalas seherische Fähigkeiten war das doch etwas dick aufgetragen! Stellenweise ist es vor lauter klebrigem Zucker fast unmöglich, die Seiten umzublättern.

Logische Ungereimtheiten taten ein Übriges. Mudiwar ist Häuptling des Klans der Elche, eines recht kleinen Klans innerhalb des Volkes der Igaal. Wie kommt es, dass die Igaal sich dem Kampf nicht anschließen, solange er nein sagt, und es dann doch tun, sobald er ja sagt? Haben die anderen Klane der Igaal keine Häuptlinge, und haben die nichts mitzureden? Avalas Strategie sieht vor, durch ein Täuschungsmanöver vor den Stadttoren einen Teil der kaiserlichen Soldaten von der Stadt abzuziehen, damit sie nicht zur Stelle sind, um den geplanten Sklavenaufstand niederzuschlagen. Gleichzeitig aber wird der Zeitplan für den Umsturz so festgelegt, dass der Sklavenaufstand im Palast und der Hauptstadt losgehen soll, bevor die Feldtruppen vor den Stadttoren auftauchen, zu einem Zeitpunkt also, an dem sich das kaiserliche Militär noch in der Stadt befindet. Als der Sklavenaufstand dann losbricht, rennen die einzelnen Soldaten nach Hause zu ihren Familien, um diese zu verteidigen, anstatt unter dem Kommando ihrer Vorgesetzten geschlossen gegen die Aufständischen vorzugehen, wie man es von einer Armee erwarten würde.

Mit anderen Worten: Wenn es sich bei diesem Buch um einen Film gehandelt hätte, dann hätte ich es als Soap bezeichnet: inhaltlich eher seicht, spannungsarm und furchtbar kitschig. Logische Brüche sowie die rosaroten Brille, hinter der sich alles abspielt, bewirken, dass sowohl Handlung als auch Charaktere – selbst diejenigen, die nicht so enttäuschend ausgefallen sind wie Jaganath – völlig ins Unglaubwürdige abgleiten. Sherryl Jordan hat schon Besseres geschrieben.

_Sherryl Jordan_ lebt in Neuseeland und hat bereits eine ganze Anzahl Jugendbücher verfasst, von denen auch einige ausgezeichnet, aber nicht alle ins Deutsche übersetzt wurden. Erschienen sind bei uns außer „Avala – Die Zeit des Adlers“ und [„Jing-Wei und der letzte Drache“ 1464 unter anderem „Tanith, die Wolfsfrau“, „Flüsternde Hände“ und „Der Meister der Zitadelle“, wo die Vorgeschichte zu den Ereignissen in „Avala“ erzählt wird.

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