Keillor, Garrison – Lake Wobegon

Irgendwo im US-Staat Michigan liegt der Städtchen Lake Wobegon. Man wird es auf Karten nicht finden, denn aufgrund der Unfähigkeit einiger Landvermesser wurde es dort niemals eingezeichnet. Eigentlich gibt es Lake Wobegon also nicht, was den meisten Einwohnern sogar recht ist, denn hier lebt ein eigenwilliger Menschenschlag. Die Nachfahren norwegischer und deutscher Einwanderer haben sich an dieser Stelle im 19. Jahrhundert niedergelassen. Zwar fühlen sie sich als Amerikaner, aber die Namen und gewisse Gewohnheiten ihrer europäischen Ahnen haben überlebt. Tatsächlich scheint in Lake Wobegon sogar die Zeit stehen geblieben zu sein, Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen, die Überlieferung lebt, während die Zukunft bestenfalls als bedrohlich gilt.

Die Tugenden der Alten werden in Lake Wobegon in Ehren gehalten. Harte Arbeit, ein christlicher Glaube, Sparsamkeit und der gesundes Misstrauen jeglichem Vergnügen gegenüber bestimmen das Denken und Handeln. So ist es immer gewesen, so hat es zu bleiben – und basta! Außenstehenden gelten sie als kauzige Hinterwäldler, was absolut zutreffend ist. Die Bürger von Lake Wobegon sind eine verschworene Gemeinschaft. Dafür zahlen sie freilich einen hohen Preis: Geheimnisse gibt es nicht in dieser Stadt. Trotzdem ist der Schein für die Bürger wichtiger als das Sein – geradezu lebenswichtig. Sie selbst würden das allerdings entrüstet zurückweisen, denn Eitelkeit gilt als schwere Sünde, und Pastor Ingqvist (für die Lutheraner) und Pater Emil (für die Katholiken) sind stets zur Stelle, die aus der Reihe getanzten Schäflein zur Herde zurückzutreiben.

Der Alltag von Lake Wobegon macht das Leben schwer für Außenseiter, zu denen sich unser Autor zählt. Fantasie und Freidenkertum sind ungern gesehen in einer Welt, die von zahlreichen geschriebenen und unzähligen ungeschriebenen Regeln bestimmt wird, deren Sinn niemals hinterfragt werden darf. Doch egal ob andressiertes oder echtes Heimatgefühl: Lake Wobegon ist nicht nur ein Ort, sondern auch eine Geisteshaltung, die man niemals wieder aus dem Kopf bekommt, selbst wenn man bis ans Ende dieser Welt flieht!

Die Geschichten aus bzw. um Lake Wobegon sind keine (auto-)biografischen Reminiszenzen des Garrison Keillor – jedenfalls keine unmittelbaren, da es diese Kleinstadt (leider?) gar nicht gibt. Der Autor hat sie und ihre im buchstäblichen Sinn unglaublichen Bewohner erfunden. Ursprünglich erzählte er sie im Radio, denn Keillor ist ein unerschütterlicher Jünger und Wahrer einer im Schwinden begriffenen Kunst, die sich um das gesprochene Wort ohne Bilder rankt.

Wieso er so viele Hörer damit fesseln konnte, wird uns schon nach der Lektüre weniger Absätze klar: Auch wenn der Menschheit nachgesagt wird, sie verblöde allmählich im Zeitalter des Privatfernsehens (und überhaupt), so erkennen viele Männer und Frauen eben doch richtigen Humor, wenn er ihnen unter die Augen (bzw. vor die Ohren) kommt.

Lake-Wobegon-Geschichten basieren nicht auf billigen, schnellen Comedian-Kalauern. Der Witz ist echt und hart erarbeitet. Immer wieder fragt man sich bewundernd, wie lange Garrison an diesen (übrigens fabelhaft übersetzten) Perlen echten Witzes wohl gefeilt haben mag. Auf mehr als 400 eng bedruckten Seiten findet sich praktisch kein Absatz, der vor geistreichen Gags, scharfsinnigen Beobachtungen oder wunderbaren Wortspielen nicht überquillt.

Für sein fiktives Fleckchen fadenscheiniger Idylle entwirft Keillor nicht nur eine bis ins Detail stimmige Topografie. Es gibt auch eine Lake-Wobegon-Chronik, die mehr als anderthalb Jahrhundert zurückreicht und mit zwerchfellerschütternder Logik belegt, wieso die Einheimischen geworden sind, was sie nun so überzeugend darstellen: Hinterwäldler-Adel mit Leib & Seele. Sie werden vom Verfasser niemals bloßgestellt; man lacht mit den Menschen aus Lake Wobegan, nicht über sie.

Humor und Tragik sind enge Verwandte. Charles Chaplin hat das begriffen; seine Filme, die beides gekonnt mischen, sind deshalb ewige Klassiker. Auch Keillor strebt nicht „nur“ nach dem Gelächter seiner Leser. Lake Wobegon geht uns auch deshalb so ans Herz (und an die Nieren), weil der Verfasser unter den Schrullen und Eigenheiten seiner Bürger jederzeit den hässlichen Alltag in der Provinz durchschimmern lässt. Oder anders ausgedrückt: Über Lake Wobegon zu lesen, bereitet ein Heidenvergnügen, aber dort leben würde man wohl lieber nicht. Das scheinbar glückliche, weil einfache Landleben ist bei näherer Betrachtung auch eine Schlangengrube, eine Falle, eine Sackgasse. Wo jede/r jede/n kennt, gibt es kaum Geheimnisse. Doch wir alle benötigen unsere Privatsphäre, unsere Freiräume. Die existieren nicht in Lake Wobegon – nicht einmal hinter der eigenen Tür, denn dort regieren die unzähligen Vorschriften und Regeln, die sich die Bürger selbst auferlegen, ohne deren Sinn zu hinterfragen.

Wobei „Hinterfragen“ ohnehin als verdächtige Mode der Gegenwart und damit als potenzielle List des Teufels gilt. Die Kirche ist Keillor offenkundig ein besonderer Dorn im Auge, wobei er keine Konfession ausspart. In seinen zum Lachen und Weinen gleichzeitig reizenden Kapiteln über die Eskapaden der Lutheraner und Katholiken von Lake Wobegan läuft er zur Höchstform auf. Selten wurde der Unterschied zwischen dem Glauben und dem, was der Mensch daraus gemacht hat – die Kirche/n nämlich – auf so unterhaltsame wie unbarmherzige Weise bloßgestellt. In Lake Wobegon wollen die Kirchgänger Feuer und Schwefel schmecken, sonst sind sie mit der Predigt unzufrieden. Andere heilige Kühe, die gleich reihenweise geschlachtet werden, sind die Erziehung und Schule, Sexualität und Ehe, Arbeit und Freizeit … Es gibt praktisch keinen Aspekt des menschlichen Kleinstadtalltags, den Keillor nicht berücksichtigen würde.

Da hat sich anscheinend eine Menge aufgestaut in unserem Verfasser, der in einer kleinen Stadt namens Anoka, gelegen ebenfalls in Minnesota, geboren wurde und aufgewachsen ist. Lake Wobegon ist in vielem ein Spiegel, in dem auch Keillor selbst in verschiedenen Lebensaltern immer wieder sichtbar wird. Er muss ein Außenseiter gewesen sein, der sich dem Kodex der Provinz nicht unterwerfen wollte und dafür seinen Preis zahlen musste.

Dies wird wiederum in schreiend komischen Episoden verpackt. Was es ihn wirklich gekostet haben könnte, lässt ein weiteres Alter Ego in seinen „95 Thesen“ erkennen, die sich an Martin Luther orientieren. Hier wird die Kritik an der hinterwäldlerischen Verbohrtheit und ihren Folgen zwar wiederum in elegante Worte gekleidet, sie kommt aber auch in Gestalt echter Vorwürfe daher – und die haben es in sich! Da mag sich so mancher Leser sogar hierzulande erkennen, denn Lake Wobegon – da trifft der Klappentext ins Schwarze – ist überall.

Garrison Keillor wurde 1942 wie gesagt im Städtchen Anoka geboren. Es dauerte lange, bis er seinem geliebten und verhassten Heimatstaat entkam. Zunächst schaffte er es jedenfalls nur bis zur Universität von Minnesota, wo er auch seinen Abschluss im Fach Journalismus machte. Hier war es auch, wo er seine lebenslange Liebe zum Radio entdeckte und erste Features über den Äther schickte. 1969 wurde Keillor Journalist und arbeitete für den „New Yorker“. Fünf Jahre später schrieb er einen Artikel über die dortige Oper. Dies inspirierte ihn, zum Radio zu wechseln, wo er eine Liveshow ins Leben rief: „A Prairie Home Companion“ wurde vor Publikum aus einem Theatersaal ausgestrahlt. 13 Jahre lief die Show, dann wechselte Keillor nach New York und startete „The American Radio Company“. Nach vier höchst erfolgreichen Jahren nannte er das Programm wieder „A Prairie Home Companion“. Es läuft noch heute.

Als Schriftsteller hat Keillor bisher acht Bücher mit geistreichen und amüsanten Geschichten gefüllt, die längst nicht nur um Lake Wobegon, sondern um die generellen Höhen und Tiefen des Lebens kreisen. Dazu kommen drei Kinderbücher, Gedichte und Hörbücher. Garrison Keillor lebt in New York. Er ist verheiratet mit der Violinistin Jenny Lind Nilsson, mit der er eine Tochter hat.

Garrison Keillor findet man im Internet u. a. unter http://www.mindspring.com/~celestia/keillor.

Originaltitel: Lake Wobegon Days (New York : Viking, Penguin 1985)
Übersetzung: Christa Eigner u. Alexandra Auer

http://www.goldmann-verlag.de

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