King, Jonathon – Schwarze Witwen

Er hält sich für unsichtbar. Und über die Jahre fällt er in seinem Viertel tatsächlich kaum jemandem mehr auf. Das ist eine optimale Voraussetzung, um den eigenen mörderischen Geschäften und Vorlieben nachzugehen. Wenn man sich dann im ‚richtigen‘ Viertel bewegt, einem Drogenumschlagplatz, um den herum ausschließlich Afroamerikaner leben, und man sich ‚unsichtbar‘ und geschickt verhält, wird eine Häufung von Verbrechen und Todesfällen kaum bemerkt. Zudem sind weder die Behörden noch die Polizei an Ermittlungen interessiert. Vor allem dann nicht, wenn es sich bei den Verstorbenen um über achtzig Jahre alte afroamerikanische Witwen handelt, die offensichtlich nach langer Krankheit eines natürlichen Todes gestorben sind. Erst bei genauerer Betrachtung der Hintergründe fällt eine weitere Überschneidung der Lebenssituationen der Verstorbenen auf: Alle Frauen hatten hohe Lebensversicherungen für ihre Familien abgeschlossen und sie vor nicht allzu langer Zeit überraschend an eine Investmentgesellschaft verkauft. Zwar ist diese Art von Geschäft völlig legal, allerdings ist ein baldiges Ableben der Versicherten für die Investoren wünschenswert, da sie die Policen bis zum Tode der Versicherten bezahlen müssen und erst danach ihre hohen Gewinne kassieren können.

Allein Rechtsanwalt Billy Manchester befürchtet, ausgehend von seinen Recherchen, dass ein Mörder im Auftrag der Investoren dem ’natürlichen Tod‘ der Versicherten ordentlich nachhilft. Mit dieser brisanten Theorie stößt er jedoch bei den Versicherungen wie auch bei der Polizei auf Gleichgültigkeit und Desinteresse. Daher wendet er sich an seinen besten Freund, den Ex-Cop Max Freeman. Doch selbst dieser ist mangels Indizien anfangs skeptisch. Da er sich aber Billy gegenüber verpflichtet fühlt, verlässt er notgedrungen seinen einsamen Unterschlupf in den Everglades, vorwiegend um Billy einen Gefallen zu tun. Als er in der Stadt auf die ersten Ungereimtheiten stößt und von seiner alten Bekannten Detective Sherry Richards erfährt, dass in dem besagten Viertel seit einiger Zeit brutale Vergewaltigungen, manche mit anschließendem Mord gemeldet werden, ist sein Spürsinn geweckt. Freeman, der nie mehr ermitteln wollte, steckt plötzlich mitten in einem höchst brisanten und vielschichtigen Fall.

Dass man ihn auch noch von ’seinem‘ geliebten Fluss in den Everglades vertreiben will, bereitet ihm zusätzlich Sorgen. Aber immerhin kommt er im Laufe der Zeit der ihm mehr als sympathischen Richards wesentlich näher …

Im Original lautet der exzellent gewählte, da für den englischsprachigen Leser mit vielen Assoziationen verbundene Titel „A Visible Darkness“. Das, was sich mit „Eine sichtbare Finsternis“ übersetzen ließe, klingt im Deutschen nicht ganz so elegant und verliert wohl auch seine implizierten Anspielungen. Warum sich jedoch der Verlag für den Titel „Schwarze Witwen“ entschieden hat, ist mir vollkommen schleierhaft, da die somit nahe gelegten Assoziationen von männermordenden Frauen völlig in die Irre führen.

Wie bereits im ersten Roman der Freeman-Serie, „Das Messer im Sumpf“, wird auch der Folgethriller „Schwarze Witwen“ aus der Ich-Perspektive des Max Freeman erzählt. Erweitert wird diese durch Kapitel und Abschnitte über den Mörder Eddie, der sich für unsichtbar hält (eine Anleihe bei Ellisons Klassiker „Invisible Man“). Dass der Mörder von der ersten Seite an bekannt ist, schmälert keinesfalls die Spannung. Ganz im Gegenteil hätte Jonathon King hier m. E. ruhig noch tiefer in die Seele des Mörders vordringen, seine Innenansicht ruhig als Spannungsmoment weiter ausbauen können. Persönlich gefallen mir dennoch diese Passagen über Eddie, ‚den Müllmann‘, mit am besten. Aber auch Natur- und Situationsbeschreibungen (hier setzt sich die professionelle Schreibe des Journalisten Jonathon King durch) gestaltet der Autor hervorragend. Vor allem, wenn er die Wildnis der Everglades einfängt. Im direkten Gegensatz hierzu sind auch die Darstellungen des Großstadtdschungels äußerst atmosphärisch gelungen. So wird u. a. das besagte afroamerikanische Viertel mit seinen kleinen gepflegten Häuschen, den dunklen Gassen und dem Drogenumschlagplatz derart realistisch geschildert, dass das kleinbürgerliche Milieu umgeben vom Drogensumpf überaus lebendig wird. Eine kleine Schwäche des Autors sehe ich in den Dialogen, von denen er selbst, einmal begonnen, gern wieder abschweift, um Hintergrundinformationen rein narrativ zu liefern. Interessant ist, wenn auch für den Fall relativ irrelevant, die eingeflochtene Historie des Sunshine-States. Insgesamt liegt die Stärke des Autors eindeutig in der beobachtenden Beschreibung und Darstellung, und daher halte ich die Wahl, Max Freeman als Ich-Erzähler durch die Handlung zu schicken, für nicht allzu glücklich gewählt. So sympathisch der koffeinsüchtige, traumatisierte Ex-Cop aus Philadelphia auch ist, bleibt er doch über dreihundert Seiten ziemlich durchschaubar und damit berechenbar. Er überrascht in keiner Szene und ist dazu noch gänzlich humorlos, was das Gesamtbild recht dröge werden lässt. Die nicht uninteressanten Figuren des Billy Manchesters und der Sherry Richards werden so zu Nebenfiguren mit großem, aber verschenktem Potenzial.

Dramaturgisch ist „Schwarze Witwen“ von der spekulativen These, ein Fall könne vorliegen, bis zu der Einsicht, dass neben den Morden in besagtem Viertel noch ganz andere Verbrechen geschehen, exzellent konstruiert. (Wenn auch die Täter ziemlich dusselig vorgehen, da die Spuren, die sie legen, recht simpel zurückverfolgt werden können. Doch das könnte, wenn man sich reale Verbrechen anschaut, ein überaus realistisches Moment der Handlung sein). Trotz der eigentlich feinen Dramaturgie stolpert der Rhythmus des Ganzen ein wenig vor sich hin, was m. E. daran liegt, dass Max Freeman zu oft durch Träume und Erläuterungen seiner traumatischen Erlebnisse seine Vergangenheit wie auch die Handlung des Erstlings „Das Messer im Sumpf“ rekapituliert. Rein inhaltlich ist an diesem traumatisierten, gebrochenen Helden nichts auszusetzen, obwohl nicht nur Max Freeman an diesem Zuviel an Vergangenheit leidet, sondern auch das Tempo des Thrillers arg gedrosselt wird.

Ähnlichkeiten übrigens zu James Lee Burkes Serie um den New Orleans Detective Dave Robicheaux sind nicht zufällig, sondern (als Hommage?) vom Autor King beabsichtigt. Insgesamt ist „Schwarze Witwen“ ein überaus passabler, nicht virtuoser, aber solider Thriller, der gut konstruiert mit toller Atmosphäre lediglich ein wenig an seinem Helden schwächelt, den ich mir (und das ist schließlich rein subjektiv) facettenreicher und mit einem Funken Humor, Sarkasmus etc. gewünscht hätte. Am Ende des Falles setzt der Rechtsanwalt Billy seinen Freund Max unter Zugzwang, so dass dieser sich um eine Lizenz als Privatdetektiv bemühen muss, wenn er seinen geliebten Unterschlupf in den Sümpfen behalten will. Somit sind zukünftige Fälle gesichert. Und schließlich steckt die Serie mit dem vorliegenden zweiten Roman ja immer noch in Baby-Schuhen (preisgekrönten übrigens!). Letztlich darf man gespannt sein, wie sich die Charaktere weiterentwickeln. Also lesen – und auf den nächsten Jonathon King warten! (Im März 2006 unter dem Titel „Nacht der Abrechnung“ bei Droemer/Knaur erschienen. Anm. d. Ed.)

© _Anna Veronica Wutschel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.X-Zine.de/ veröffentlicht.|

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