Siegel, James – Getäuscht (Lesung)

_Gefährliche Adoption: Amerikaner auf Abwegen_

Als sie in Kolumbien eine Tochter adoptieren wollen, widerfahren den beiden Amerikanern Paul und Joanna Breitbart seltsame Dinge. Als sie der Kinderfrau Gallina kurz ihre Tochter Joelle anvertrauen, scheint das Kind wie ausgewechselt zu sein. In der Tat: Es wurde vertauscht. Doch bei Gallina, die sie fragen, warten nicht Antworten, sondern Guerilleros der FARC. Das Ehepaar wird verschleppt und Paul gezwungen, einen Auftrag auszuführen: Er soll Kokain im Wert von zwei Millionen Dollar nach Jersey City schmuggeln, oder er werde seine Frau und seine Tochter Joelle nie wieder sehen. Alles geht gut, bis er am Ziel anlangt. Doch von den Empfängern des Kokses ist weit und breit niemand zu sehen, und an der angegebenen Adresse klafft ein Loch: Das Haus wurde tags zuvor abgefackelt. Etwa von den Feinden der FARC?

_Der Autor_

James Siegel studierte an der Uni von New York, bevor er eine Karriere als Werbefachmann einschlug, dessen Kampagnen mehrfach ausgezeichnet wurden. Er arbeitete als Senior Creative Director für BBDO, eine große Werbeagentur in New York City. Sein Debütroman „Epitaph“ erhielt 2001 den ersten Preis als bester Kriminalroman, eine Auszeichnung der „Private Eye Writers of America“. Sein Roman „Entgleist“ wurde mit Clive Owen und Jennifer Aniston verfilmt. Der Autor lebt auf Long Island vor der Stadt New York.

_Der Sprecher_

Matthias Koeberlin, geboren 1974, absolvierte die Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam. Im Jahr 2000 erhielt er den Günter-Strack-Fernsehpreis. Er spielte den Stephen Foxx in der ProSieben-Verfilmung des Bestsellers „Das Jesus-Video“. Für seine Interpretation der [Hörbuchfassung 267 von Eschbachs Bestseller wurde er für den Deutschen Hörbuchpreis des WDR (2003) nominiert.

Koeberlin liest eine von Antje Seibel gekürzte Textfassung. Regie führte Katja Schiffmann, die Aufnahme im Dacapo-Studio, Breckerfeld, verantwortete Christian Päschk, die Musik lieferten Dennis Kassel und Horst-Günther Hank.

_Handlung_

Joanna und Paul Breitbart können keine eigenen Kinder bekommen und wenden sich an einen Anwalt, der Adoptionen vermittelt. Miles Goldstein sagt ihnen klipp und klar, dass Adoptionen in den meisten Ländern zwei Jahre brauchen, doch in Kolumbien nur zwei Wochen. Der Versicherungsmathematiker und seine Frau greifen zu und fliegen nach Medellín. Sie haben zwar von dem dortigen Drogenkartell gehört, ebenso von dem Bürgerkrieg zwischen Regierung, der FARC (marxistisch) und der USDF (ultrarechts), aber ihnen wird schon nicht passieren, denken sie. Falsch gedacht.

Nachdem sie den von bewaffneten Wachen beschützten Flughafen passiert haben, holt ihr künftiger Guide sie ab. Pablo bringt sie zunächst ins Hotel, dann zum Waisenheim, wo sie endlich ihr kleine Tochter in Empfang nehmen dürfen. Sie verlieben sich auf der Stelle in Joelle. Ein Kreis hat sich gebildet, und nur mit dem Baby ist er perfekt. Sie nehmen es mit ins Hotel. Weil sie auf das Baby nicht richtig vorbereitet sind, bringt Pablo die Amme Gallina mit, die etwa Mitte 50 ist. Endlich haben Paul und Joanna ein wenig Zeit, shoppen zu gehen. Klar, dass sie Spielsachen für ihre Tochter kaufen.

Als sie zurückkehren, sind weder Gallina noch Joelle im Hotelzimmer. Sie geraten ein wenig in Panik, und Paul besteht darauf, dass die Polizei gerufen wird. Seine unausgesprochene Anschuldigung, dass ein Verbrechen vorliege, kommt beim Hotelpersonal gar nicht gut an. Doch da kommt Gallina mit ihrem Kind zurück: Sie habe bloß ein Thermometer gekauft, sagt sie, von ihrem eigenen Geld übrigens. Die Kleine habe nämlich Fieber. Gallina ist etwas verletzt. Die Adoption wird zum Abschluss gebracht. Paul findet es ulkig, dass der amerikanische Vogelbeobachter, den er schon im Flugzeug bemerkt hatte, nun auch in der US-Botschaft auftaucht. Paul ahnt nicht, dass dieser Typ ein Drogenfahnder ist, mit einem speziellen Auftrag.

Als alles zur Abreise bereit ist, sagt Joanna, dass Joelle falsch rieche. Paul guckt ungläubig. Aber auch das Muttermal Joelles sei plötzlich verschwunden. Wie das denn? Weil Joanna ihn überzeugen kann, dass man ihr Kind vertauscht hat, fahren sie zu Gallina. Sie war ja schließlich mal kurz weg, angeblich in der Apotheke. Doch bei Gallina schreit ein zweites Baby, und es ist die echte Joelle! Aber weil Gallina ihnen beiden Betäubungsmittel in den Kaffee getan hat, können sie nichts mehr unternehmen. Man entführt sie an einen Ort, wo die FARC ein Lager hat.

Die Anweisungen des Kommandanten an Paul sind klar und deutlich: Wenn Paul Kokain, das in 36 Kondome verpackt und zwei Mio. Dollar wert ist, nach Jersey City schmuggelt und bei den richtigen FARC-Leuten abliefert, werden Joanna und die echte Joelle freigelassen und in die USA gebracht. Falls es ihm binnen 18 Stunden nicht gelingt, müssen sie sterben. Was bleibt Paul übrig? Er würgt die prall gefüllten Kondome hinunter, fliegt nach New York City, setzt sich in ein Taxi und fährt nach Jersey City. Selbstverständlich gehen die Kondome ihren natürlichen Weg und bevor es zum Schlimmsten kommt, findet Paul rechtzeitig eine Tankstelle, wo er sie loswerden, säubern und in einem kleinen Koffer verstauen kann.

Die Überraschung in Jersey City ist übel: Das Haus an der angegebenen Adresse ist tags zuvor abgefackelt worden, wie Paul herausbekommt. Unter der angegebenen Telefonnummer meldet sich niemand. Paul wendet sich an Miles Goldstein, den Adoptionsanwalt. Wegen Drogenschmuggels könne sich Paul nicht an die Behörden (Polizei, Außenministerium, FBI, was auch immer) wenden, deshalb müsse er, Paul, privat mit den Entführern verhandeln. Der Kontakt kann nur Pablo sein. Pablo wiederum hat Kontakt zu Gallina, und diese kann Joanna Nachrichten überbringen – und umgekehrt.

Paul fährt mit Miles zu einem Ort, an dem die Übergabe des Kokains stattfinden soll. Es ist am Rande eines Sumpfes. Die FARC-Männer, die auftauchen, wirken nicht vertrauenerweckend. Sie schnappen sich das Koks und wollen verschwinden, doch da tauchen zwei weitere Wagen auf. Diese Männer – wohl von der USDF – wollen nicht nur das Koks, sondern auch Leichen sehen. Sie setzen das trockene Schilf in Brand und warten ab, dass die versteckten Männer herausgetrieben werden. Da wird Paul endlich bewusst, dass er in einen Zweifrontenkrieg geraten ist. Kann er Miles noch vertrauen?

_Mein Eindruck_

Der Hintergrund der Entführungen in Kolumbien ist uns bereits aus dem Film „Lebenszeichen“ bekannt, in dem Russell Crowe, ein Verhandlungsführer und Geiselbefreier, mit Meg Ryan, der Frau eines entführten Ingenieurs (David Morse), ein Techtelmechtel anfängt. Hinter dieser Entführung steckte zwar ebenfalls eine Rebellenmiliz, aber die wurde von einem korrupten Politiker gesteuert, um Geld von den Angehörigen der Entführten zu kassieren. Die „Revolutionsarmee“ diente also nur als Kidnapperbande.

|Im Drogenkrieg|

Dies ist in „Getäuscht“ nicht der Fall. Jedenfalls nur zum Teil. Denn die FARC hat ebenso wie die konkurrierende USDF einen schwunghaften Drogenhandel mit den USA in Schwung gebracht. (Denn Drogen bedeuteten Geld, und Geld bedeutet Waffen.) Sie benutzt normalerweise einfache Landarbeiter als Kuriere, so genannte „mules“, die das in Kondomen verpackte Koks in ihrem Darm transportieren. Diesmal wird ein viel besseres Muli eingesetzt: Paul ist ein Bürger der Vereinigten Staaten. Aber die Schwierigkeiten, das gefährliche Zeug an den richtigen Abnehmer zu bringen, sind die gleichen.

Doch während Paul in einen wilden Drogenkrieg gerät und schließlich auch noch von Miles verraten wird, gibt Joanna in Kolumbien keineswegs auf. Sie will, dass ihre neu gewonnene Tochter (die sie viel Geld bezahlt hat) unbedingt überlebt und sie mit ihr nach Hause zurückkehren kann. Verständlich. Aber um fliehen zu können, muss sie erst Gallina, ihre Bewacherin und Helferin, besser verstehen. Wie sich herausstellt, führt Gallinas Geschichte, die wir in einzelnen Happen serviert bekommen, zu einer Wende – nicht nur für Joanna, sondern auch für Paul.

|Der unsichtbare Dritte|

Es gibt nämlich einen unsichtbaren Akteur namens Manuel Riojas, der die Fäden zieht, obwohl er in Florida im Knast sitzt. Manuel Riojas ist nicht nur der Kopf der ultrarechten Miliz USDF, sondern auch der Vater von Gallinas Enkelin. Gallinas Tochter Claudia hatte sich der FARC angeschlossen, wurde gefangen genommen, von Riojas geschwängert. Vor der Geburt konnte sie fliehen und danach Sophie zur Welt bringen. Als das Kind drei Jahre alt war, wurde Claudia jedoch entdeckt und nahm ein furchtbares Ende (eine der blutigsten Stellen im Buch). Gallina konnte Sophie retten und mit der Hilfe von Miles Goldstein in die USA bringen. Dort verlor sich ihre Spur. Riojas sucht immer noch nach seiner Tochter. Deshalb beschattet er Miles Goldstein. Und so geriet Paul zwischen die Fronten.

Die Abwechslung zwischen brenzligen Situationen in New York City und der Erzählung Gallinas erzeugt eine faszinierende Spannung. Während New York einen Cliffhanger nach dem anderen liefert, spinnt Gallina ein Bild von einem schrecklichen Land, nämlich Kolumbien, das sich seinerseits in einem sich endlos dahinziehenden Bürgerkrieg befindet, der es ausbluten lässt. Hier ist nichts von der Cowboy-Söldner-Romantik zu spüren, die Tom Clancy noch in „Das Kartell / Clear and Present Danger“, verfilmt mit Harrison Ford, heraufbeschwor. Hier ist einfach alles nur bedrückend, wie eine Vorhölle.

Ob diese Schilderung so hundertprozentig stimmt, kann ich natürlich nicht sagen. Aber man hört immer wieder von Entführungen durch FARC oder USDF, darunter auch von der einer prominenten Europäerin, deren Namen mir gerade nicht einfällt. Aber die Thematik hat mich bei einem Autoren wie James Siegel überrascht. Sein Roman „Entgleist“ spielt zwar ebenso in bürgerlichen New Yorker Kreisen, doch verlässt die Hauptfigur das Land nicht. Ganz anders hingegen „Getäuscht“: Der Schauplatz Kolumbien ist ebenso wichtig wie New York. Man kann aber nicht sagen, dass Siegel dadurch zu einem politischen Autor wird. Am Ende steht nämlich wieder heiles Familienglück. Die politischen Verhältnisse bleiben unverändert bestehen.

|Amis im Spiegel|

Allmählich ändert sich auch die Selbstwahrnehmung der Amerikaner, zumindest dann, wenn sie mal ins Ausland kommt (gerne als „rest of the world“ bzw. ROW tituliert). Siegel zeigt dies deutlich auf. Paul bemerkt im Hotelaufzug ein Paar Kolumbianer, das auf die „Gringos“ mit ihrem kolumbianischen Baby gar nicht gut zu sprechen ist. Leider ist sein Spanisch zu rudimentär, um sie gut zu verstehen. Er geht wie viele Amis davon aus, dass eh die meisten Leute Englisch können. (Und dass Gallina so gut Englisch kann, um Joanna ihre Leidensgeschichte so gut erzählen zu können, wie sie es tut, wirkt im Nachhinein etwas unwahrscheinlich.)

Was er aber kapiert, ist, dass sie denken, er nehme ihnen wieder einen Teil ihres Landes weg – was ja auch stimmt. Aber für die Zukunft Joelles hält das Ehepaar Breitbart sicher bessere Chancen bereit als ein Paar in Kolumbien. Siegel macht seinen amerikanischen Lesern bewusst, dass ihre Lebensweise kein Naturrecht ist, sondern verdient werden muss. Paul als sein Protagonist muss sich erst durchkämpfen, bis er alles zu einem guten Ende bringen kann.

_Der Sprecher_

Als ausgebildeter Schauspieler weiß Koeberlin seine Stimme wirkungsvoll einzusetzen und die Sätze deutlich und richtig betont zu lesen. Er charakterisiert die Figuren mit der Veränderung der Stimmlage, des Tempos und der Tonhöhe. Der Russe Moshe beispielsweise hat eine tiefe und raue Stimme, die von Miles Goldstein ist sehr gepflegt, schließlich ist er ja Anwalt. Pablo spricht Englisch nur stockend und gebrochen, denn er hat ja nicht viel Übung darin.

Koeberlin kennt nicht die Aussprache jedes einzelnen ausländischen Namens – wer könnte es ihm verdenken? Aber die Aussprache spanischer Namen gelingt ihm erstaunlich gut, so zum Beispiel beim Namen des Waisenhauses „Santa Regina Orfanato“. Das G wird wie ein CH ausgesprochen, und das tut er auch. Ebenso das J in dem Namen Riojas. Eigentlich eine der leichtesten Übungen.

Musik gibt es am Anfang und am Ende der Lesung, die An- und Absage erfolgt durch Franziska Pigulla, deren Stimme unverwechselbar ist.

_Unterm Strich_

Nach einem etwas verwickelten Anfang beginnt der Roman eine spannende Dynamik zu entfalten. Man kann von Pauls Verhalten halten, was man will, aber es sorgt für eine Menge Überraschungen und brenzlige Situationen – die meistens in Cliffhangern enden. Zur Abwechslung erfährt seine Frau Joanna, was hinter der ganzen Sache steckt und welche Tragödie nun auf einen guten Ausgang wartet. Der Kontakt zwischen den beiden Schauplätzen wird durch zwielichtige Figuren wie Pablo und den „Vogelkundler“ hergestellt. Unsichtbar spielt noch ein dritter Mann mit: Manuel Riojas, der Gallinas Tochter auf dem Gewissen hat und seine Tochter – nach zwölf Jahren – immer noch suchen lässt.

Ich fand die Geschichte aufgrund dieser Zutaten sehr kurzweilig und musste einfach schnellstens auch den Ausgang erfahren. Siegel ist hier zwar nicht zum größten Bestsellerautor aufgestiegen, aber nach dem stellenweise hanebüchenen [„Entgleist“ 690 wenigstens in meiner Achtung gestiegen.

Der Sprecher Matthias Koeberlin gestaltet das Geschehen recht lebendig und erweckt die meisten Figuren sehr anschaulich zum Leben. Insbesondere die schrägen Vögel scheinen ihm zu liegen, die meist nicht einmal einen Namen haben. Aber auch sein Gespür für menschlichen Tragödien ist eindeutig zu bemerken, und so wirkt Gallinas Leidengeschichte ebenso eindringlich, wie es Pauls wilde Erlebnisse in New York tun.

|Originaltitel: Detour, 2005
Aus dem US-Englischen übersetzt von Axel Merz
277 Minuten auf 4 CDs|
http://www.luebbe-audio.de

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