Thompson, Kate – Zwischen den Zeiten

_Ins Feenland: Das Geheimnis der verlorenen Socken_

Immer schneller verrinnt die Zeit im früher so beschaulichen irischen Städtchen Kinvara. Helen, die unverheiratete Mutter von John Joseph bzw. JJ Liddy, ist total im Stress, sogar an ihrem Geburtstag. Halb im Scherz wünscht sie sich mehr Zeit. Ihr Sohn verspricht ihr hoch und heilig, er werde ihr Zeit verschaffen, koste es, was es wolle, denn er liebt sie sehr.

Auf einem Botengang gerät er an Anne Korff, die ihm verrät, dass es auf dem Land der Liddys einen Zugang zum Feenreich Tir na nOg gebe. Unversehens gerät er ins Feenreich, doch dort sieht auf den ersten Blick alles genauso aus wie zu Hause. Nur dass alles viel leerer scheint: Wo sind die Leute? Dann trifft er Aengus Og, und der verrät ihm, dass neuerdings auch die Welt der Feen aus den Fugen gerät. Die Zeit vergeht auch hier, und zunehmend schneller.

Wie hängen die beiden Welten zusammen, fragt sich JJ. Und kann er etwas dagegen tun, dass die Zeit bei ihm daheim ab- und bei den Feen zunimmt? Eine alte Familiengeschichte, die Helen ihm erzählt hat, weist ihm den richtigen Weg.

_Die Autorin_

Kate Thompson, 1956 geboren, wuchs in England auf, trainierte Rennpferde in USA, studierte Jura in London und machte ausgedehnte Reisen durch Indien, bevor sie sich in Kinvara im irischen County Galway niederließ. Dort entwickelte sie ihre Leidenschaft für das Fiddlespiel. Sie hat eines ihrer Zimmer in eine Werkstatt umgewandelt, in der sie alte Instrumente restauriert.

Sie schreibt Lyrik, Drehbücher, Romane und Kinder- und Jugendbücher, für die sie bereits zweimal den |Irish Children’s Book of the Year Award| gewonnen hat. Auch „Zwischen den Zeiten“ wurde laut Verlag mehrfach ausgezeichnet.

_Handlung_

Eigentlich wollte JJ nur seiner Mutter Helen einen Gefallen tun, ein Geschenk zu ihrem Geburtstag: genügend Zeit, damit sie nicht mehr so gehetzt aussieht. Auf JJs Bauernhof sind alle so gehetzt, ganz als ob die Zeit immer knapper würde. Sie finden sogar kaum noch Zeit, um Lieder für die Irish-Folk-Music-Abende zu üben, die sie regelmäßig veranstalten. So ein gemütliches Céilí bringt Freunde und Nachbarn zusammen, und das Tanzen scheint JJ ebenso im Blut zu liegen wie das Fiddlespiel. Auch seine Schwester Marian spielt ein Instrument, nur sein Vater Ciaran Byrne spielt keines. Er kümmert sich dafür um das leibliche Wohl der Gäste.

Wieder einmal plant Helen Liddy einen Musikabend bei sich daheim – seit 1935 sind öffentliche Musikabende verboten. Die Kirche hatte gewettert, die Musik sei des Teufels und fördere Unzucht usw. Ja, als JJs Großvater Liddy weiterhin musizierte, soll der Pfarrer von Kinvara sogar so wütend geworden sein, dass er ihm die Querflöte wegnahm. Der Pfarrer ging fort – und ward nie mehr gesehen. Seitdem geht das Gerücht um, JJs Großvater habe den Priester auf dem Gewissen. Schon 15 Jahre ist JJ alt, bis ihm sein Freund Jimmy dieses Gerücht verklickert. JJ ist schockiert. Er hatte seine Familie immer für ohne Tadel gehalten. Und nun das!

Heute, am Samstag, soll JJ seiner Mutter einen Gefallen tun und einen Käselaib, den sie Anne Korff verkauft hat, zu der Nachbarin bringen, die ihn vergessen hat. Als er sich auf sein Fahrrad schwingt, ahnt er nicht, dass er erst in vier Wochen zurückkehren wird.

|Das Tor zum Feenreich|

Anne Korff interessiert sich sehr für alte Geschichte und irische Folklore, und so dauert es nicht lange, bis sie JJ fragt, ob er denn wisse, dass auf dem Land der Liddys eine Erdkammer liege. Eine Erdkammer – was soll das sein? Das sind Kammern unter Steinkreisen oder ähnlichen alten Kultstätten, von denen es in Irland über 45.000 Stück gebe. Und so eine Erdkammer könne ein Durchgang ins Feenreich sein. Sie wolle ihm eine zeigen.

Dort unten ist es dunkel und eng und stickig. Doch als die nette Nachbarin in einer Wand verschwindet, hat JJ ihre volle Aufmerksamkeit. Da kehrt sie wieder zurück. Ob er mutig genug sei, nach der Ursache für die verschwundene Zeit zu suchen, fragt sie ihn. Aber es ist sein voller Ernst: Er will seiner Mutter die verlorene Zeit zurückbringen. Sie nimmt ihn an der Hand und zieht ihn mit sich durch die Wand …

In ein grünes Land, in dem es keinen Menschen weit und breit zu geben scheint. „Willkommen in Tír na nOg, dem Land der Ewigen Jugend“, begrüßt sie ihn. Doch weitergehen muss er allein, da könne sie ihm nicht helfen. Ja, schon gut, meint er und beruhigt sich, er werde in wenigen Minuten wieder zurück sein. Als sie wieder verschwindet, schlendert er gemütlich in ein Dorf am Meer, das auf den ersten Blick verlassen erscheint. Doch da ist eine Ziege und ein Mann, der ihr nachjagt. JJ kennt sich mit Ziegen aus, denn aus ihrer Milch macht seine Mutter ihren herrlichen Käse. So hat er das Tier schnell eingefangen und dem erfreuten Mann gegeben. Als nächstes begegnet er einem grauen irischen Wolfshund, doch der ist schwer verletzt – das Hinterbein hängt nur noch an ein paar Sehnen. Mitleidvoll streichelt JJ das große Tier.

Aus der Dorfkneipe hört er Musik, und das ist genau sein Ding, damit kennt er sich aus. Er verrät, was er hier eigentlich will: Er will Zeit kaufen, denn offensichtlich haben die Leute hier mehr als genug davon. Keiner verzieht eine Miene ob dieses ungewöhnlichen Ansinnens. Was er denn dafür auszugeben bereit sei? Nun, leider kann er mit zehn Euro hier keine Zeit kaufen, und auch sein Taschenmesser ist hier wenig wert. Da hat er die rettende Idee: Er kann ihnen ein paar Lieder vorspielen, und das klappt auch vorzüglich, doch als sie ihn darum bitten, ihnen zu verraten, wie das Stück „Dowd’s Number Nine“ anfängt, will es ihm ums Verrecken nicht einfallen. Pech gehabt. Zeit gibt’s heute keine.

Da tritt der schöne Aengus Og ein, ein junger Mann, der es faustdick hinter den Ohren hat, wie JJ schon bald feststellt. Aber Aengus ist sehr freundlich und verrät ihm wenigstens, was hier eigentlich los ist. Aengus kennt das Land der „Ploddies“, wie er die nach Irland eingewanderten Menschen nennt, ziemlich gut. Er besuche es hin und wieder, erzählt er. (Aber er verrät JJ nicht, dass er seine Großmutter kannte.) Und er könne durchaus ebenfalls beobachten, dass drüben die Zeit tatsächlich schneller verrinnt. Und rate mal: Im Feenreich verrinnt sie nun ebenfalls, obwohl das doch eigentlich gar nicht sein dürfe. Denn wie sonst könnte dieses Land das „Land der Ewigen Jugend“ sein, hm? Das leuchtet JJ ein, und allmählich versteht er, dass die Feen ein Problem haben. Eigentlich das gleiche Problem wie seinesgleichen, nur auf der anderen Seite der Medaille.

„Also, was gibt es dagegen zu tun?“, fragt er Aengus. Nachdem Aengus ein wenig über Wechselbälger erzählt hat – wo sonst bekommen Unsterbliche ihre Kinder her -, beschließt er, nach der dünnen Stelle in der Zeithülle zu suchen, wo JJ neulich Feenmusik gehört hat. Und das ist ganz oben auf dem Eagle’s Rock. Und dann … tja, dann müssten sie wohl seinen Vater um Rat fragen, meint Aengus. Wie jeder gebildete Junge in Irland weiß JJ, dass der Vater von Aengus Og der Dagda ist. Und der Dagda ist Vater aller irischen Götter.

Zusammen mit dem verletzten Hund Bran machen sie sich auf eine Expedition, die JJs Mutter die verlorene Zeit zurückbringen wird.

_Mein Eindruck_

Was für ein zauberhaftes Buch! Für einen Irlandfreund wie mich ist die Geschichte ein gefundenes Fressen, denn irischer kann eine Geschichte kaum noch werden. Die Kapitel, von denen keines länger als fünf Seiten lang ist, fliegen nur so vorüber. Jedes wird mit den Noten für ein passendes Musikstück abgeschlossen, als wäre es ein Kommentar oder die Musikbegleitung. In diese Hinsicht handelt es sich um ein sehr musikalisches Buch. Und um den Musikfreund zu belohnen, liefert die Autorin nicht nur zwei oder drei eigene Stücke, sondern auch am Schluss die Noten zu dem gesuchten Lied „Dowd’s Number Nine“. Na, wenn das keine Motivation ist!

Die Geschichte hört sich vielleicht für den einen oder anderen Leser wie Michael Endes Märchen „Momo“ an, doch Kate Thompson brauchte überhaupt keine modernen Vorbilder, denn aus dem schier unerschöpflichen Vorrat an irischen Sagen, Märchen und Legenden brauchte sie nur nach der Geschichte von Óisin zu greifen.

|Die Geschichte Óisins|

Óisin brachte auch eine unbestimmte Zeit im Feenreich zu, um mit seiner Feengeliebten zusammen zu sein, wollte aber dann wieder zurück. Sie warnte ihn vergeblich, und als Óisin in die Lande der Sterblichen zurückkehrte, waren Jahrhunderte vergangen. Unbeschadet ritt er auf einem Feenpferd durch die Lande, seine Verwandten und Lieben suchend. Doch als er aus Versehen den Boden dieser Erde berührte, zerfiel auch er zu Staub, wie es das Schicksal aller Sterblichen ist. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. (Ich könnte auch die Geschichte von Thomas the Rhymer anführen, aber die kommt aus Wales.)

|Der wandernde Aengus|

Und dann gibt es in den westlichen Grafschaften Irlands immer noch viele Geschichten über die Feen und ihr Land der Ewigen Jugend. Manche Leute sprechen sogar noch Gälisch, die alte Sprache der Kelten, und es werden immer mehr, seit das Irish Revival Ende des 19. Jahrhundert mit William Butler Yeats und seinen Freunden begann (der übrigens ein wunderbares Gedicht über den wandernden Aengus schrieb). Das Feenland liegt praktisch vor der Haustür, und wer nur den Durchgang findet, kann mit den anderen Wesen Bekanntschaft machen – mit einer gewissen Vorsicht.

Keine Zeit, keine Zeit!

Aber seit es der EU beigetreten ist, erlebt Irland einen irrsinnigen wirtschaftlichen Aufschwung, wird sogar als „Celtic Tiger“ bezeichnet, analog zu den asiatischen Tigern. (Zu diesen Begriffen liefert das Glossar hervorragende Erklärungen.) Weil aber alle so viel zu tun haben, haben sie immer weniger Zeit. Oder kommt ihnen das nur so vor? Zeit ist ja so furchtbar subjektiv. Ein Tag mag 24 Stunden haben, aber nur wenn man ihn genießen kann, kommt er einem auch ausgefüllt vor. Und das mit dem Genießen ist schwierig geworden, denn alle sind im Stress.

Deshalb ist die Musik so wichtig geworden. Man kann den Verlauf der Zeit vergessen und ganz zur eigenen Identität finden, indem man die eigenen Lieder spielt, und Gemeinschaft finden, indem man die Lieder anderer spielt. Zu schade, dass die Musik an öffentlichen Orten verboten ist. Man muss schon U2 heißen, um ein Rockkonzert genehmigt zu bekommen, aber wenn man nur Liddy heißt und auf dem eigenen Bauernhof spielen will, bekommt man eins auf die Mütze. Unfair!

|Die Garda|

Es gibt Leute, die Gesetze durchsetzen, zum Beispiel auch die Sperrstunde. Sie sind als Polizisten bekannt, auf Gälisch Garda genannt. Nun gibt es aber in Kinvara, wo die Geschichte von Helen und JJ spielt, einen neu eingestellten Polizisten, der es mit den Gesetzen nicht so genau zu nehmen scheint. Seinen Boss macht das natürlich wütend, aber hey, was kann man tun, wenn einem das Notizbuch in die Waschmaschine gerät, ausgerechnet das Notizbuch, in dem er alle Gesetzesbrecher des Pubs von letzter Nacht aufgeschrieben hatte!

Und dieser neue Polizist zeigt noch mehr interessante Seiten: Er spielt selbst Musik und kennt Stücke, von denen die anderen Musiker (und in Kinvara gibt es deren viele) noch nichts gehört haben. Natürlich muss sich auch der neue Polizist an der Suche nach dem verschwundenen JJ beteiligen, die zunächst ergebnislos verläuft. Vier Wochen ist der Bengel weg, keiner hat ihn gesehen – noch nicht einmal Anne Korff rückt mit der Sprache raus, denn sie hat ihn schließlich ins Feenreich geführt. Man würde sie verrückt erklären, wenn sie verriete, was wirklich passiert ist. Als sie selbst rüberging, wurde sie von Aengus in die Irre geschickt.

|Der Schlüssel|

Zum Glück gelingt es JJ, das Problem der Zeit-Verschiebung zu lösen. Er muss natürlich wieder unter die Erde, in ein Grab, genauer gesagt. Denn der Schlüssel zur Gegenwart liegt in der Vergangenheit begraben. Da ihm seine Mutter von ihrer Familie erzählt und ihm Fotos gezeigt hat, weiß er nun, mit wem er es zu tun hat, als er in dem Grab auf einen seltsamen Mann trifft, der sehr wütend ist und einen wahnsinnigen Plan ausgeheckt hat, um die Musik ein- für allemal aus Irland zu vertreiben …

_Unterm Strich_

Kein Wunder, dass dieses wundervolle Buch mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, obwohl es im Original den unscheinbaren Titel „Der neue Polizist“ trägt. Die Autorin offenbart ein tiefes, intuitives Verständnis für den Feenglauben einerseits und die irisch-keltische Mythologie andererseits.

Aber sie ist in der Lage, beides aus dem Blickwinkel eines gegenwärtigen Bewohners der Insel zu betrachten, wo Handys, das Internet und moderne Verkehrsmittel an der Tagesordnung sind. Dass JJ auf einem Bauernhof aufwächst und mit dem Bus zur Schule fahren muss, sagt schon viel über seine Provinzialität aus. Aber das kann er zu seinem Vorteil ummünzen, wie sich herausstellt. Ein Stadtjunge hätte mit den Feen sicherlich so seine Probleme.

Das Buch ist humorvoll, bewegend und voller Liebe für die irische Musik und ihre berühmten Interpreten. Diese scheint die Autorin alle persönlich beim Namen zu kennen, und wer ihr Hobby, das Fiddlespiel, berücksichtigt, der kann das gut nachvollziehen.

Alles in allem ein Buch, das in jedes Jugendzimmer gehört, und in die Bibliothek von Freunden Irlands und irischer Musik sowieso.

Wem dieses Buch gefällt, dem empfehle ich u. a. Lord Dunsanys Fantasyroman [„Die Königstochter aus Elfenland“,]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3608875190/powermetalde-21 das bei |Klett-Cotta| erhältlich ist. Es wurde auch vertont, doch die Platte „The King of Elfland’s Daughter“ ist wahrscheinlich nicht mehr zu bekommen.

|Originaltitel: The new policeman, 2005
318 Seiten
Aus dem irischen Englisch von Kattrin Stier|
[Verlagsspezial zum Buch]http://www.randomhouse.de/specialskids/thompson__zwischendenzeiten/
http://www.randomhouse.de/cbjugendbuch/